Warum das Ausreiseverbot für Männer in der Ukraine gegen die Menschenrechte verstößt

von Amy Maguire

(08.03.2022) Im Zuge der Bemühungen der Ukraine, sich gegen die illegale russische Invasion zu verteidigen, wurde Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise untersagt. Die Ausrufung des Kriegsrechts in der Ukraine gibt der Regierung die Befugnis, dieses Verbot zu verhängen, aber es steht nicht im Einklang mit den Menschenrechten oder humanitären Normen. Was geschieht also tatsächlich in der Ukraine, und was besagt das Gesetz?

Was die ukrainische Regierung sagt

Als Russland letzten Monat einmarschierte, rief der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij die ukrainische Zivilbevölkerung auf, ihr Land zu verteidigen.

So postete das ukrainische Innenministerium auf Telegram:

„Heute ist der Moment gekommen, in dem jeder Ukrainer, der seine Heimat schützen kann, zu den Waffen greifen muss. Nicht nur, um unseren Soldaten zu helfen, sondern um die Ukraine ein für alle Mal vom Feind zu säubern. Aber wenn Sie ein Mann zwischen 18 und 60 Jahren sind, mag Ihnen dieser Aufruf zu den Waffen eher wie eine Pflicht erscheinen."
Der ukrainische Grenzschutz erklärt, das Ausreiseverbot gelte für erwachsene Männer und solle "die Verteidigung der Ukraine und die Organisation einer rechtzeitigen Mobilisierung" gewährleisten.

Wie sieht Selbstverteidigung aus?

Angesichts der Unrechtmäßigkeit der russischen Invasion ist die Ukraine gemäß der Charta der Vereinten Nationen berechtigt, sich selbst zu verteidigen. Selbstverständlich wird ein Land auf alle verfügbaren militärischen Ressourcen zurückgreifen, um dieses Recht auf Selbstverteidigung auszuüben.

Die Ukraine verfügt bereits über eine beachtliche Armee mit 200.000 aktiven Soldaten und 300.000 Reservisten sowie über paramilitärische Kräfte, die jetzt im Rahmen der allgemeinen Mobilmachung mobilisiert werden.

Die militärischen Ressourcen der Ukraine verblassen jedoch im Vergleich zu Russlands moderner, professioneller Armee, die in den letzten zehn Jahren durch massive Investitionen aufgebaut wurde. Sie verfügt über rund 900.000 aktive Soldaten und etwa zwei Millionen Reservisten.

Angesichts dieses offensichtlichen Ungleichgewichts ist es nicht verwunderlich, dass die Ukraine nun verzweifelt versucht, alle in Frage kommenden Personen zu mobilisieren. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen Personen, die zum Militärdienst eingezogen werden, und Personen, die zwar mit einem Ausreiseverbot belegt sind, dann aber nicht formell mobilisiert oder zum Kampf ausgerüstet werden.

Kriegsdienstverweigerung

Angesichts des bewaffneten Angriffs einer großen Militärmacht auf ihr Land mit dem Ziel, ihre Regierung zu stürzen, sahen sich einige Ukrainer gezwungen, zu bleiben und möglicherweise zu kämpfen. So haben sich einige nach der russischen Invasion zum Militär gemeldet. Diese brandneuen Soldaten wurden sowohl als Wehrpflichtige als auch als Freiwillige bezeichnet.

Andere sahen sich gezwungen das Land zu verlassen. Die Natur des Konflikts bringt die Zivilbevölkerung in Gefahr - er spielt sich in dicht besiedelten Städten ab, durch Beschuss und Bombardierung aus der Luft. Bereits mehr als eine Million Menschen sind geflohen.

Für Männer zwischen 18 und 60 Jahren bedeutet das Ausreiseverbot, dass sie keine Möglichkeit haben vor den Angriffen und den Risiken zu fliehen, denen sie als Zivilisten im Kriegsgebiet ausgesetzt sind.

In einem Podcast der New York Times wird die Geschichte eines Zeichners namens Tyhran erzählt, der erfolglos versucht hat, über die Grenze nach Polen zu gelangen. „Ich kann mir nicht vorstellen, etwas Militärisches zu tun [...] Ich habe keine Erfahrung darin. Ich habe Angst davor, eine Waffe in der Hand zu halten [...] Ich kann mir nicht vorstellen, eine Waffe zu halten.“ Tyhran sagt, er sei an der Grenze von Grenzbeamten und anderen Grenzgängern beschämt worden, werde aber vielleicht erneut versuchen, die Grenze illegal zu überqueren. „Sie bombardieren und die Menschen sterben. Alle rennen weg [...] Sie werden nicht aufhören. Sie wollen nur zerstören.“

Inzwischen gibt es auch Berichte, dass LGBTQI+-Ukrainer*innen angesichts des russischen Programms zur Diskriminierung von Homosexuellen und Transgender-Personen in Russland Angst haben, ins Visier genommen zu werden.

Was besagt das internationale Recht?

Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte garantiert die Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glaubensfreiheit. Obwohl das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht ausdrücklich garantiert wird, hat der UN-Menschenrechtsausschuss bestätigt, dass sich dieses Recht aus dem Schutz der Konvention ableitet.

Das bedeutet, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung geschützt werden muss, wenn das Gewissen, die Religion oder die Überzeugungen einer Person mit der Verpflichtung zur Anwendung tödlicher Gewalt gegen andere Menschen in Konflikt stehen.

Einige Menschenrechte können im Falle eines öffentlichen Notstands ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist jedoch ausdrücklich von dieser Kategorie ausgeschlossen.

Was sollte die Ukraine tun?

Die ukrainische Regierung sollte das Ausreiseverbot für Männer aufheben. Die Beibehaltung dieses Verbots verletzt die Gewissensfreiheit eines jeden Mannes, der aus Gewissensgründen das Töten anderer Menschen verweigert und deshalb fliehen möchte.

In Bezug auf LGBTQI+-Personen könnte das Ausreiseverbot auch als ein Hindernis für Menschen betrachtet werden, die eine begründete Angst vor Verfolgung haben und deswegen außerhalb der Ukraine Zuflucht suchen.

Ganz allgemein würde die Aufhebung des Ausreiseverbots die Ukraine vor dem Vorwurf schützen, dass sie es versäumt, Zivilisten zu schützen, wie es das humanitäre Völkerrecht verlangt. Es ist eine Sache, Männer zum Militärdienst zu verpflichten und ihnen eine entsprechende Ausbildung und Ausrüstung zur Verfügung zu stellen (obwohl auch in diesem Fall das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen respektiert werden muss).

Eine ganz andere Sache ist es, Zivilisten daran zu hindern, aus einem Kriegsgebiet zu fliehen.

Der internationale Kontext

Die Ukraine muss auch berücksichtigen, wie sich ihr Vorgehen auf die parallelen Bemühungen auswirkt, Russland für seine illegale Aggression und mögliche Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen.

So hat die Ukraine beispielsweise den Internationalen Gerichtshof ersucht, mit dem völkerrechtlichen Äquivalent einer einstweiligen Verfügung gegen Russland zu intervenieren. Die Ukraine wirft Russland vor, mit falschen Anschuldigungen eines Völkermords eine illegale Invasion zu rechtfertigen, die ihrerseits zu Menschenrechtsverletzungen an der ukrainischen Bevölkerung führt.

Inzwischen hat die Anklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs eine Untersuchung des russischen Vorgehens in der Ukraine eingeleitet. Die Anklägerin hat hinreichende Gründe für die Annahme ermittelt, dass in der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden.

In diesem Zusammenhang muss die Ukraine die Rechtmäßigkeit ihrer eigenen Praxis im Auge behalten. Das Verbot für Männer, die Ukraine zu verlassen, sollte aufgehoben werden, denn es ist rechtlich und ethisch falsch, Zivilisten zu zwingen, der Gefahr ausgesetzt zu sein, wenn sie die Möglichkeit und den Wunsch haben, zu fliehen.

Amy Maguire, Associate Professor in Human Rights and International Law, University of Newcastle: Why banning men from leaving Ukraine violates their human rights. March 8, 2022. https://theconversation.com/why-banning-men-from-leaving-ukraine-violates-their-human-rights-178411

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