Berlin, 18. April 2022

Berlin, 18. April 2022

Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung - Ukraine und weltweit

von Ukrainische Pazifistische Bewegung

(21.03.2022) An den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte

1. Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine

1.1 Neue Entwicklungen

(a) Die Einführung des Kriegsrechts nach dem Beginn der russischen Militärintervention am 24. Februar 2022 und die totale Mobilisierung der Bevölkerung ohne Ausnahmen für Kriegsdienstverweigerer, einschließlich der Durchsetzung der Wehrpflicht für Binnenflüchtlinge an Checkpoints und in Hotels und des Verbots für fast alle männlichen Personen im Alter von 18-60 Jahren, das Land zu verlassen.1

(b) Pläne zur schrittweisen Abschaffung der Wehrpflicht bis 2024, die allerdings kaum glaubwürdig sind, da gleichzeitig eine erhebliche Aufstockung der Streitkräfte mit neuen territorialen Verteidigungskräften, eine Ausweitung und verstärkte Durchsetzung der Wehrpflicht sowie die Einführung einer obligatorischen militärischen Ausbildung für Erwachsene und Kinder, einschließlich einer militärisch-patriotischen Erziehung und einer militärischen Ausbildung vor der Einberufung als Teil der obligatorischen Grundausbildung - ohne Ausnahmen für Kriegsdienstverweigerer - angekündigt werden.

1.2 Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments kontrolliert durch staatliche Stellen und deren Beamte die Einhaltung der in Artikel 35 der ukrainischen Verfassung verankerten Verpflichtung des Staates, den Wehrdienst durch einen alternativen (nicht-militärischen) Dienst für Bürger zu ersetzen, deren religiöse Überzeugungen mit dem Militärdienst unvereinbar sind.

1.3 Verbleibende Herausforderungen:

(a) Die mangelnde Bereitschaft der Ukraine, Empfehlungen des UN-Menschenrechtsausschusses nachzukommen, einschließlich des Standpunkts des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments, dass die Kriegsdienstverweigerung aus nicht-religiösen Gründen erst nach dem Ende des Krieges mit Russland eingeführt werden könnte (was im Widerspruch zum nicht in Frage zu stellenden Charakter des Rechts steht).

(b) Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird nicht anerkannt für (1) diejenigen, die nicht-religiöse Überzeugungen haben, die mit dem Militärdienst unvereinbar sind, (2) diejenigen, die nicht zu 10 (relativ kleinen; Anm. Red.) durch einen Regierungserlass festgelegten religiösen Vereinigungen gehören, und (3) SoldatInnen.

(c) Die unverhältnismäßig lange Dauer des Ersatzdienstes, der 1,5 Mal länger ist als der Militärdienst, ohne plausible Erklärung derselben.

(d) Ungerechte Verfahren bei der Bewerbung für Alternative Dienste.

(e) Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung bei öffentlicher Kritik an den ukrainischen Streitkräften und des Engagements für Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine.

(f) (in den von Russland besetzten Gebieten) Auferlegung der Wehrpflicht für die russische Armee auf der illegal von Russland besetzten Krim im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht mit Verstößen gegen das für Russland übliche Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung und Auferlegung der Wehrpflicht und der militärischen Mobilisierung durch de-facto-Behörden in Gebieten der Ukraine, die nicht unter der Kontrolle der Regierung stehen, einschließlich der Wehrpflicht und der Mobilisierung in der „Volksrepublik Donezk“ und der „Volksrepublik Luhansk“ ohne jegliche Bestimmungen für Kriegsdienstverweigerer.2 (...)

2. Kriegsdienstverweigerung weltweit

2.1 Neue Entwicklungen:

(a) Die Wiedereinführung und Ausweitung der Wehrpflicht oder die Erwägung ihrer Wiedereinführung und Ausweitung in mehreren Ländern, sowie die falsche Darstellung dieser Politik durch die Medien als gut für die Sicherheit und die Wirtschaft.3

(b) Die beschämende und rechtlich fragwürdige, aus der Sicht der Menschenrechte etablierte Billigung eines überfordernden und übermilitarisierten Verfahrens zur Prüfung von Anträgen auf einen Ersatzdienst in der Rechtssache Dyagilev gegen Russland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,4 die die eklatante Unterdrückung von Kriegsdienstverweigerern in einem historischen Moment legalisierte, in dem das individuelle Gewissen besonders ermutigt werden sollte, der Beteiligung an illegalen und international verurteilten Militäroperationen zu widerstehen.

2.2 Es ist eine gute Praxis, dass viele Länder Kriegsdienstverweigerern Zuflucht gewähren, die in ihren Ländern verfolgt werden, weil sie ihrem Gewissen folgen und sich nicht an irgendeinem oder einem bestimmten Krieg oder Kriegsvorbereitungen beteiligen wollen. Besonders lobenswert ist die Anerkennung als echte Kriegsdienstverweigerung, wenn Bedenken bestehen, dass die Streitkräfte, deren Dienst verweigert wird, das Völkerrecht verletzen.

2.3 Verbleibende Herausforderungen:

(a) Die Weigerung einiger Länder, die internationalen Standards zum Schutz des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung einzuhalten, mit der Begründung, dass ihre Kriegsanstrengungen dies nicht zuließen.

(b) Die weit verbreitete Annahme der falschen Vorstellung, dass Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen die Echtheit ihrer Überzeugungen beweisen müssen, was gegen das grundlegende Rechtsprinzip der Unschuldsvermutung verstößt, da eine angeblich „unechte“ Verweigerung gewöhnlich als strafbare Umgehung der Wehrpflicht angesehen wird. Um dem Prinzip der Unschuldsvermutung zu entsprechen, sollte daher jede Äußerung einer Kriegsdienstverweigerung in jedem formellen Verfahren als echt angesehen werden, es sei denn, das Gegenteil wird zweifelsfrei bewiesen.

(c) Die weit verbreitete Tendenz, die Kriegsdienstverweigerung als eine irrationale und marginale Laune zu behandeln. Die entwickelten religiösen und säkularen humanistischen Traditionen der Kriegsdienstverweigerung werden oft völlig außer Acht gelassen. Sie beschränken sich eben nicht auf eine mystische oder intuitive Ablehnung von Gewalt, sondern umfassen auch verlässliche und sozial nützliche, philosophische und ethische Lehren sowie wissenschaftliche Erkenntnisse, Technologien und Praktiken des gewaltfreien globalen/lokalen Regierens/Managements, einschließlich Techniken des gewaltfreien Konfliktmanagements, was die Kriegsdienstverweigerung zu einem wichtigen Teil der zeitgenössischen fortschrittlichen Friedenskultur und zu einer lebenswichtigen Praxis für eine gewaltfreie Lebensweise macht. Diese stimmt mehr mit den Zielen der Vereinten Nationen überein als ein archaischer und gefährlicher Militarismus, der unkontrollierte und absolute Souveränität anstrebt.

(d) Die weit verbreitete Militarisierung der Bildung und fehlender Zugang zu Friedenserziehung für eine umfassende Staatsbürgerschaft, mangelnde Bereitschaft einiger Regierungen, eine echte Friedenskultur zu fördern und die Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung im Einklang mit der Erklärung und dem Aktionsprogramm für eine Kultur des Friedens von 1999 (A/RES/53/243) zu gewährleisten, wozu auch die Verbreitung von Kenntnissen über das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung und alle religiösen, weltlichen, philosophischen, evidenzbasierten und praktischen Gründe für eine Kriegsdienstverweigerung gehören sollten.

3. Empfehlungen

3.1 Die Ukraine sollte den Absätzen 29 und 30 der Abschließenden Beobachtungen des Menschenrechtsausschusses zum Achten periodischen Bericht der Ukraine5 vom 11. November 2021 nachkommen, vorzugsweise beginnend mit der Aufnahme der Garantie des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in den nationalen Aktionsplan für Menschenrechte. Der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments sollte die in einem Brief an die Ukrainische Pazifistische Bewegung vom 20. Januar 2022 geäußerte Ansicht überdenken, dass „die Frage der normativen Regelung des Rechts der Bürger auf Kriegsdienstverweigerung (wenn sie keine relevanten religiösen Überzeugungen haben) in der Ukraine nach der Beendigung der Aggression und der Wiedererlangung der Kontrolle des Staates über alle vom russischen Aggressor besetzten Gebiete realisiert werden kann.“

3.2 Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte und andere Menschenrechtsverteidiger in der ganzen Welt sollten

(a) auf der vollständigen Umsetzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in allen Ländern bestehen, wobei grundsätzlich von der Echtheit einer solchen Verweigerung ausgegangen werden sollte;

(b) auf die Einführung von Friedenserziehungsprogrammen in den obligatorischen Lehrplänen der Schulen in allen Ländern bestehen, die das Thema des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung und alle existierenden religiösen, weltlichen, philosophischen, evidenzbasierten und praktischen Gründe für Kriegsdienstverweigerung abdecken sollten, aufgrund des Zusammenhangs zwischen den Menschenrechten auf Gewissensfreiheit, auf Frieden und auf Bildung;

(c) besondere Aufmerksamkeit der Gewährleistung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in solchen Ländern widmen, die in bewaffnete Konflikte verwickelt sind, da die militarisierten Regierungen solcher Länder in der Regel dazu neigen, den grundlegenden und nicht in Frage zu stellenden Charakter dieses Rechts zu missachten, und weil die Förderung dieses Rechts im Einklang mit der UN-Charta steht, die eine friedliche Lösung internationaler Streitigkeiten fordert.

1 Professor Amy Maguire, „Why banning men from leaving Ukraine violates their human rights,“ https://kurzelinks.de/vd9e; „Sasha and Nikita are two young pacifists who don‘t want to fight and are now stranded in Lviv as internally displaced persons. They are not allowed to leave the country - all Ukrainian males between the ages of 18 and 60 are forbidden from doing so,“ (in German), https://kurzelinks.de/ld3w; Many nonwhite refugees fleeing Ukraine caught in limbo at borders amid reports of discrimination https://kurzelinks.de/jecv; Pyra Diantouadi, refugee from the Democratic Republic of Congo: „They even told us, we are going to give you guns, and you are gonna fight for Ukraine.“ https://kurzelinks.de/os1d; „Allow men aged 18-60 without military experience to leave Ukraine,“ https://kurzelinks.de/3bf9

2 EBCO, „Conscientious Objection in Europe“ Annual Reports, https://ebco-beoc.org/reports

3 https://worldbeyondwar.org/the-economist-magazine-is-pushing-pro-draft-propaganda/

4 ECtHR judgement on Russian CO case disregards 53 years of international human rights standards, https://wri-irg.org/en/story/2020/ecthr-judgement-russian-co-case-disregards-53-years-international-human-rights-0

5 Human Rights Committee, Concluding observations on the eighth periodic report of Ukraine, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CCPR/Shared%20Documents/UKR/CCPR_C_UKR_CO_8_47160_E.pdf.

Ukrainian Pacifist Movement: Consultation concerning new developments, best practices, and remaining challenges on conscientious objection to military service. Letter to OHCHR-United Nations Office at Geneva. 21. März 22. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2022

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