Mögliche Strafverfolgung bei Militärdienstenziehung

Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine sind in Gefahr

(23.05.2022) Schon vor dem Einmarsch der Russen war die Auferlegung der Wehrpflicht für Männer und Frauen in der Ukraine in der Regel mit systematischen Menschenrechtsverletzungen verbunden. Der diskriminierende und kaum zugängliche zivile Ersatzdienst in der Ukraine entspricht nicht den internationalen Menschenrechtsstandards, aber die ukrainischen Behörden sind nicht bereit, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung zu ergreifen, zumindest nicht bis zum Ende des bewaffneten Konflikts mit Russland.1

Am 24. Februar 2022 wurde mit einem Erlass des Präsidenten das Kriegsrecht ausgerufen;2 es sieht eine mögliche Einschränkung der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger vor, nicht aber des Rechts auf Freiheit der persönlichen Weltanschauung und der Religion (Art. 35 der ukrainischen Verfassung)3. Mit einem weiteren Erlass wurde die Generalmobilmachung ausgerufen.4 Die Dauer des Kriegsrechts und der Mobilmachung wurde verlängert.

Die Gesetze der Ukraine, die den Militärdienst5 und die Mobilmachung6 regeln, enthalten kein Verbot für Männer, die Ukraine während des Kriegsrechts zu verlassen, legen jedoch eine Altersgrenze von 18 bis 60 Jahren für den Militärdienst fest. Sie verbieten Männern und Frauen, die der Wehrüberwachung unterliegen, ihren Wohnsitz ohne Genehmigung der Militärbehörden zu wechseln, und verpflichten sie, bei Einberufungen zu Militäreinheiten oder Sammelstellen zu erscheinen. Das Nichterscheinen kann als Ordnungswidrigkeit oder Straftat geahndet werden.

Der Staatliche Grenzschutzdienst der Ukraine hat mehrfach öffentlich darauf hingewiesen, dass aufgrund des Kriegsrechts die Ausreise von männlichen ukrainischen Staatsbürgern im Alter von 18 bis 60 Jahren aus der Ukraine eingeschränkt ist, mit mehreren ausdrücklich aufgeführten Ausnahmen, von denen die meisten im Zusammenhang stehen mit einer Befreiung von der Mobilmachung. Es gibt allerdings keine Ausnahmen für Kriegsdienstverweigerer.7 Personen, auf die bestimmte Kategorien zutreffen und die ordnungsgemäße Dokumente vorlegen können, dürfen die Grenze überqueren.8 Wenn der Staatliche Grenzschutzdienst der Ukraine Personen anhält, die versuchen, die Ukraine ohne ordnungsgemäße Dokumente oder mit gefälschten Dokumenten zu verlassen, werden die Personen der Polizei übergeben und unter anderem nach Artikel 336 des Strafgesetzbuches der Ukraine angeklagt.9,10 Von Februar bis Mai 2022 wurden mehr als 3.300 Männer bei dem Versuch erwischt, sich durch Verlassen der Ukraine der Mobilmachung zu entziehen.11

Tabelle StrafverfolgungStraftaten im Zusammenhang mit der Umgehung des Militärdienstes werden in der Ukraine nach den Artikeln 335, 336, 337, 407, 408 und 409 des Strafgesetzbuches der Ukraine geahndet.12 Offiziellen Statistiken zufolge ist die Zahl der registrierten strafrechtlichen Ermittlungen nach diesen Artikeln von Januar bis April dieses Jahres im Vergleich zu denselben Monaten des Vorjahres erheblich gestiegen.13

Artikel 336 schreibt vor, dass die Militärdienstentziehung während der Mobilisierung, in einer besonderen Lage sowie die Militärdienstentziehung von Reservisten in einer besonderen Lage mit einer Freiheitsstrafe von drei bis fünf Jahren bestraft wird.

In den juristischen Kommentaren zu Artikel 336 wird in der Regel hervorgehoben, dass die Bürger der Ukraine im Ausland weiterhin der Wehrpflicht unterliegen.14,15,16

Artikel 57 des „Verfahrens zur Organisation und Führung von Militärdienstbüchern von Wehrpflichtigen und der Dienstpflicht unterliegenden Personen“ sieht vor, dass die diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Ukraine die Militärdienstbücher von Wehrpflichtigen und der Dienstpflicht unterliegenden Personen, die vorübergehend konsularisch erfasst sind, aufbewahren und die Rückkehr der Wehrpflichtigen in die Ukraine im Falle einer Mobilisierung und in Kriegszeiten erleichtern.17 Dafür z.B. hat die ukrainische Botschaft in Lettland alle ukrainischen Bürger zwischen 18 und 60 Jahre, die der Mobilisierung unterliegen, zur Rückkehr in die Ukraine aufgerufen.18

Gemäß Artikel 36 (3) des ukrainischen Gesetzes „Über die Wehrpflicht und den Militärdienst“ dürfen jedoch die militärischen Aufzeichnungen ukrainischer Staatsbürger, die sich ständig im Ausland aufhalten, nicht aufbewahrt werden. Diese letzte Kategorie von Bürgern unterliegt daher nicht der militärischen Mobilisierung.19

Es gibt eine Verpflichtung sich bei der Rückkehr aus dem Ausland militärisch registrieren zu lassen. Bei Nichterscheinen wird man zur Verantwortung gezogen.20

Es gab eine Gesetzesinitiative um Personen zu kriminalisieren, die nicht zurückkehren. Diese wurde von Juristen21,22,23 und in der Partei des Präsidenten24,25 scharf kritisiert.

Es wurde angekündigt, dass Fahrer, die sich legal ins Ausland begeben haben (z.B. um humanitäre Hilfe zu importieren) und nicht in die Ukraine zurückkehren, als Militärdienstentzieher gemäß Artikel 409 des Strafgesetzbuches der Ukraine betrachtet werden.26

Obwohl derzeit keine Gerichtsentscheidungen vorliegen und es kaum einschlägige Nachrichten gibt, kann die bisherige Praxis darauf hindeuten, dass ukrainische Staatsbürger, die sich während der Mobilisierung im Ausland aufhielten, in einigen Fällen wegen Militärdienstentziehung belangt werden können. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn Militärangehörige die Polizei darüber informieren, dass eine Person nicht erschienen ist, nachdem ihr eine förmliche Aufforderung zur militärischen Mobilmachung zugestellt wurde (z. B. durch Postversand oder Aushändigung an Verwandte).

Im Jahr 2015 wurde ein Mann bei der Einreise in die Ukraine verhaftet, weil ein Haftbefehl gegen ihn vorlag, u. a. wegen Militärdienstentziehung während einer Mobilmachung.27

Im Jahr 2021 wurde ein Mann zu 1,5 Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er sich der Wehrpflicht durch Ausreise entzogen hatte.28

Am 2. Mai 2022 sagte Roman Gorbach, Leiter der Personalabteilung des Landstreitkräftekommandos der ukrainischen Streitkräfte: „Was die Wehrpflichtigen anbelangt, die eine Vorladung erhalten haben: Wenn sich herausstellt, dass sie sich illegal ins Ausland begeben haben, dann haben sie sich ihrer Militärdienstpflicht entzogen. Nach der geltenden Gesetzgebung sind sie strafrechtlich verantwortlich. Das heißt, dass diese Personen gemäß den ukrainischen Rechtsvorschriften strafrechtlich verfolgt werden.“29

Da das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in der Ukraine nicht ausreichend rechtlich abgesichert ist, wie internationale Menschenrechtsorganisationen festgestellt haben,30 laufen legitime Verweigerer in der Ukraine Gefahr, zu Unrecht strafrechtlich verfolgt zu werden. Aus diesem Grund wird Verweigerern im Ausland nicht empfohlen, in die Ukraine zurückzukehren. Ihnen sollte wegen der realen Gefahr für ihr Leben und ihre Freiheit Asyl gewährt werden.

Fußnoten

1 https://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/attachments/2022-03-21-EBCO_Annual_Report_2021_0.pdf

2 https://www.president.gov.ua/documents/642022-41397

3 https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/en/254%D0%BA/96-%D0%B2%D1%80#Text

4 https://www.president.gov.ua/documents/692022-41413

5 https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/2232-12#Text

6 https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/3543-12#Text

7 https://www.pravda.com.ua/columns/2022/05/17/7346796/

8 https://dpsu.gov.ua/ua/Peretinannya-derzhavnogo-kordonu-v-umovah-pravovogo-rezhimu-vonnogo-stanu/

9 https://dpsu.gov.ua/ua/news/prikordonniki-znovu-ne-propustili-cholovikiv-uhilyantiv-hovalisya-v-bagazhnikah-avto-poizdi-ta-prikidalis-inozemcyami/

10 https://lb.ua/society/2022/05/12/516583_prikordonniki_zatrimali.html

11 https://www.ukrinform.ua/rubric-society/3480717-kordon-ukraini-namagalisa-peretnuti-3300-colovikiv-aki-uhilautsa-vid-mobilizacii.html

12 https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/en/2341-14#Text

13 https://gp.gov.ua/ua/posts/pro-zareyestrovani-kriminalni-pravoporushennya-ta-rezultati-yih-dosudovogo-rozsliduvannya-2

14 https://legalexpert.in.ua/komkodeks/lku/2045-336.html

15 https://drohobych-rada.gov.ua/%D0%B3%D1%80%D0%BE%D0%BC%D0%B0%D0%B4%D1%81%D1%8C%D0%BA%D0%BE%D1%81%D1%82%D1%96/pro-vykonannya-gromadyanamy-obovyazku/

16 https://intermarium.com.ua/vam-povistka-na-vijskovyj-oblik-stavlyat-cholovikiv-yakym-pid-60-rokiv/

17 https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/921-2016-%D0%BF#n399

18 https://latvia.mfa.gov.ua/news/do-uvagi-gromadyan-ukrayini-u-vici-vid-18-do-60-rokiv-yaki-timchasovo-perebuvayut-na-teritoriyi-latvijskoyi-respubliki

19 Siehe Fußnote 5

20 https://wiki.legalaid.gov.ua/index.php/%D0%92%D1%96%D0%B4%D0%BF%D0%BE%D0%B2%D1%96%D0%B4%D0%B0%D0%BB%D1%8C%D0%BD%D1%96%D1%81%D1%82%D1%8C_%D0%B7%D0%B0_%D0%BD%D0%B5%D0%BF%D0%BE%D1%81%D1%82%D0%B0%D0%BD%D0%BE%D0%B2%D0%BA%D1%83_%D0%BD%D0%B0_%D0%BE%D0%B1%D0%BB%D1%96%D0%BA_%D1%83_%D0%B2%D1%96%D0%B9%D1%81%D1%8C%D0%BA%D0%BE%D0%B2%D0%BE%D0%BC%D1%83_%D0%BA%D0%BE%D0%BC%D1%96%D1%81%D0%B0%D1%80%D1%96%D0%B0%D1%82%D1%96

21 https://golaw.ua/ua/insights/publication/chi-budut-prityaguvati-do-kriminalnoyi-vidpovidalnosti-vijskovozobovyazanih-yaki-viyihali-za-kordon-pid-chas-mobilizacziyi/

22 https://uba.ua/ukr/news/9141/

23 https://protocol.ua/ua/vidpovidalnist_viyskovozobov_yazanih_za_viizd_za_kordon_panikuvati_zarano/

24 https://sluga-narodu.com/my-ne-holosuvatymemo-za-pokarannia-cholovikiv-iaki-ne-povernulysia-do-ukrainy-davyd-arakhamiia/

25 https://ua.interfax.com.ua/news/general/824010.html

26 https://mashyna.com.ua/uk/auto/news/155489

27 https://dpsu.gov.ua/ua/news/prikordonniki-zatrimali-shahraja-jakij-takozh-yhiljavsja-vid-prizovy-za-mobilizacijeju/

28 https://mg.zk.court.gov.ua/sud0706/pres-centr/news/1162359/

29 https://ua.interfax.com.ua/news/general/828890.html

30 https://digitallibrary.un.org/record/3957960; siehe Fußnote 1; https://www.ifor.org/news/2022/4/2/war-should-be-abolished-ifor-speaks-up-at-the-un-on-the-right-to-conscientious-objection-in-wartime

Yurii Sheliazhenko: Criminal liability of Ukrainian citizens for evasion of military mobilization under martial law: conscientious objectors are in danger. 23. Mai 2022. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2022

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