"Für mich gibt es da keinen Kompromiss"
Interview mit Ilja Owtscharenko, Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine
Der 36-jährige llja Owtscharenko aus der Ukraine ist bei seiner Arbeitsstelle in Ungarn geblieben, um nicht für den Krieg rekrutiert zu werden. Er veröffentlichte mehrmals Videos, in denen er zur Kriegsdienstverweigerung aufruft.
Was hast Du gedacht, als Du vom Kriegsbeginn erfahren hast?
Als ich hörte, dass der Krieg begonnen hatte, war ich bei der Arbeit in Ungarn. Der Gedanke, der mir durch den Kopf ging: Ich fühlte mich schuldig, nicht alles getan zu haben, um den Krieg zu verhindern und meine Neffen aus dem Kriegsgebiet zu holen.
Ich hätte mich aktiver um die Verbreitung der Idee der Gewaltlosigkeit bemühen können. Ich hätte mich in den Sozialen Medien und auf Videokanälen aktiver äußern können, deutlich machen können, wie schädlich und gefährlich Patriotismus ist. Deutlich machen können, wie absurd es ist, so viele Menschen zu opfern, um eine Linie auf der Landkarte berichtigen zu können. All das ging mir durch den Kopf.
Du hast Dich auf der Internet-Plattform TikTok zum Krieg geäußert. Was war Deine zentrale Aussage?
Wir müssen verstehen, welche Gefahr ein Krieg für die Zivilbevölkerung darstellt, gerade auch angesichts der Atomkraftwerke, die im Kriegsgebiet liegen. Die Regierung zeigte sich fest entschlossen, das gesamte ukrainische Territorium, einschließlich der Krim, zurückzuerobern. Es ist also die Frage, ob wir die Krim und Donezk einfach aufgeben? Und für mich liegt die Antwort auf der Hand: Das Leben der Menschen ist wichtiger, ganz gleich, welche Flagge über der Krim oder Donezk hängen wird.
Welche Reaktionen hast Du bekommen?
In den Kommentaren unter meinen Videos stehen Drohungen wie „Es sind schon welche unterwegs zu Dir“ oder „Hau ab, solange Du noch kannst“. Im Frühjahr war der Geheimdienst auch zu meiner Mutter gekommen und hatte nach mir gefragt. Sie rief mich dann ganz aufgelöst an und bat mich, das Video wieder zurückzunehmen. Viele meiner Bekannten und sogar ein Verwandter bezeichnen meine Position als feige oder verräterisch. Aber für mich gibt es da keinen Kompromiss.
Drohte Dir selbst eine Rekrutierung?
Ich sollte schon einmal einberufen werden, während des Krieges im Donbass. Damals konnte ich der Einberufung entgehen, weil ich nicht zu Hause war. Ich hatte schon damals dazu aufgerufen, zu verweigern. Daraufhin war der Sicherheitsdienst zu mir gekommen und durchsuchte meine Wohnung. Es ist dann aber nichts weiter passiert.
Was sollte getan werden, um den Krieg zu beenden?
Im Video hatte ich schon Präsident Wolodymyr Selenskyj dazu aufgefordert, mit Russland zu verhandeln und ukrainische Territorien abzutreten. Dazu stehe ich auch heute. Das Leben von Menschen hat einen höheren Wert. Der wichtigste Kampf gegen den Krieg besteht darin, den Sinn des Lebens der Menschen deutlich zu machen und das Töten als unzulässig zu erklären.
Was sollte zur Unterstützung anderer Kriegsdienstverweigerer getan werden?
Das Kriegsrecht untersagt Männern zwischen 18 und 60 Jahren, das Land zu verlassen. Das ist grauenhaft. Jeder, der nicht kämpfen will, sollte die Möglichkeit haben, das Land zu verlassen. Pazifisten wie Christen, die die Regel „Du sollst nicht töten“ befolgen, sollten das Recht haben, dieser Entscheidung zu folgen. Das Gesetz muss aufgehoben werden.
Interview mit Ilja Owtscharenko, geführt am 5. September 2022. Veröffentlicht am 6. Oktober 2022. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Oktober 2022
Stichworte: ⇒ Kriegsdienstverweigerer berichten ⇒ Ukraine