Jeder Rekrut kann ein Verweigerer sein, jede Soldatin ein Deserteurin

Russland, Belarus und Ukraine

Mehr als ein halbes Jahr wird in der Ukraine Krieg geführt. Mit dieser Kampagne wollen wir auf all diejenigen hinweisen, die sich unter zum Teil sehr großem eigenen Risiko dazu entschieden haben, nicht an diesem Krieg teilzunehmen – auf welcher Seite auch immer.

Die Zeitungen sind voll von den aktuellen Kriegsberichtserstattungen, wohl wissend, dass sie auf die Berichte der Kriegsparteien angewiesen und weit davon entfernt sind, wirklich unabhängig berichten zu können.

Für uns steht außer Frage, dass die russische Regierung in der Ukraine einen Angriffskrieg führt. Russische Truppen marschierten am 24. Februar 2022 in den Osten und den Norden der Ukraine ein. Ein Teil der Truppen nutzte dazu das belarussische Staatsgebiet. Soldaten der russischen Armee, die sich auf einer Truppenübung wähnten, fanden sich unversehens in der Ukraine wieder. Die ukrainische Regierung entschied sich zum militärischen Widerstand und wird darin mit Logistik, Aufklärung und Waffen durch die Staaten der Europäischen Union und der NATO gefördert.

In einer militärischen Logik ist damit eigentlich alles klar. Auf der einen Seite steht der Aggressor, auf der anderen der Verteidiger. Aber ist es wirklich so einfach? Und gibt es außerhalb der militärischen Logik nicht auch andere Strategien, die sich gegen den Krieg richten?

Wir erleben, dass sich Zehntausende auf allen Seiten der Beteiligung am Krieg entziehen. Sie erklären dies nur selten in der Öffentlichkeit. Die Scham und Angst als Verräter zu gelten und damit Repressionen zu unterliegen oder Strafverfahren zu riskieren ist sicherlich groß. Aber aus den Berichten können wir doch Hinweise entnehmen, welche Gründe es für eine Verweigerung geben mag.

Da gibt es Menschen, die auf der anderen Seite der Front Familie und Freunde haben, die möglicherweise sogar mit einer Staatsbürgerin des anderen Landes verheiratet sind. Für sie ist klar, dass keine Seite die richtige sein kann. Sie suchen nach Möglichkeiten, sich der Bedingungslosigkeit des Krieges, der Rekrutierung zu entziehen.

Da gibt es Menschen, die die Kriegspolitik der eigenen Regierung ablehnen, und nicht ihr Leben für diese Ziele riskieren wollen.

Da gibt es Menschen, die die Ukraine und Russland als Bruderstaaten ansehen. Warum muss es denn Krieg geben, fragen sie. Warum können die Regierungen die Konflikte nicht am Verhandlungstisch austragen? Dafür wollen sie nicht in den Krieg ziehen.

Da gibt es Menschen, die keine Waffe in die Hand nehmen wollen, Kriegsdienstverweigerer. Gerade in einem Krieg ist es besonders wichtig, dass ihr Menschenrecht respektiert wird. Kriegsdienstverweigerer aber müssen erleben, dass sie als Verräter gebrandmarkt und strafrechtlich verfolgt werden.

Da gibt es Menschen, die realisieren, was es heißt, in einem Krieg Teil einer Armee zu sein. Wir hören die Berichte über die Zerstörung von Städten, zivile Opfer und Gewalt. Es sind Dinge, die Teil eines Krieges sind und somit auch von allen am Krieg beteiligten Militärs Teil ihres Kampfes. Was bedeutet das für eine Person, die diese Gewalterfahrungen macht, die gegen ihren Willen Teil eines solchen von Gewalt beherrschten Apparates ist? Das können wir kaum ermessen.

Und dennoch erkennen Soldat*innen im Kriegsgebiet Möglichkeiten, wie sie auch in dieser Position Teil eines Widerstandes gegen den Krieg sein können. Es gibt zahlreiche Berichte über Sabotage oder Befehlsverweigerung.

Insgesamt ist die Desertion, Verweigerung und Befehlsverweigerung ein bedeutsamer Teil des Widerstandes gegen den Krieg. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure können Sand im Getriebe des Militärs sein. Es ist ein Akt der Selbstbestimmung und Humanität. Es ist ein Zeichen auch für alle anderen, dass es Alternativen zum Einsatz im Krieg gibt, auch wenn Strafverfolgung droht. Die Unterstützung der Verweigerer und Deserteure ist somit ein Mittel um gegen den Krieg aktiv zu werden.

In der Vergangenheit gab es nur wenige Kriege, bei denen sich so viele den Kämpfen entzogen hatten, dass er beendet wurde, so in den 90er Jahren zwischen Armenien und Aserbaidschan. In der Regel ist das aber nicht der Fall, das Militär weiter kampfbereit. Dennoch, wenn sich viele verweigern, hat das große Bedeutung für die Gesellschaften, aus denen sie kommen. Kriegs-dienstverweiger*innen und Deserteur*innen geben ein Beispiel für Handlungsmöglichkeiten außerhalb der Kriegslogik, die nur Verbündete und Feinde, nur die militärische Auseinandersetzung, den Kampf sieht.

Für uns ist klar, dass wir all diejenigen unterstützen wollen, die sich auf welcher Seite auch immer, dem Grauen des Krieges entziehen, die sich verweigern, die desertieren.

Für sie muss das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, das seit 2011 höchstrichterlich durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Menschenrecht deklariert wurde, gerade auch in Kriegszeiten gelten. Jeder und jede hat das Recht, zu jeder Zeit den Kriegsdienst zu verweigern.

Zum anderen brauchen diejenigen Unterstützung, die sich dem Verbrechen eines Krieges entziehen. Und wo könnte das deutlicher sein, als bei einem Angriffskrieg, wie ihn Russland führt. Deshalb sehen wir die Notwendigkeit, dass Deserteure und Militärdienstentzieher aus Russland und auch aus Belarus einen sicheren Schutz erhalten. Der ist bislang nicht gewährleistet.

Connection e.V.: Jeder Rekrut kann ein Verweigerer sein, jede Soldatin ein Deserteurin. 21.9.2022

Connection e.V.: Jeder Rekrut kann ein Verweigerer sein, jede Soldatin ein Deserteurin. 21.9.2022. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Oktober 2022

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