Sie wollen nicht töten

Russland, Belarus und Ukraine

von Rudi Friedrich und Elisa Rheinheimer

Immer mehr Männer verlassen Russland, um nicht im Ukraine-Krieg kämpfen zu müssen. Die Bundesregierung hat ihnen Schutz zugesagt, doch für die Mehrheit ist es unmöglich, das in Anspruch zu nehmen, weil sie gar nicht erst an die deutschen Grenzen gelangt. Ein Überblick zur Situation russischer Kriegsdienstverweigerer und Militärdienstentzieher.               

»Wir wollen keinen Krieg, wir wollen nicht töten, und wir wollen nicht getötet werden!« Unzählige Nachrichten wie diese erreichen PRO ASYL und Connection e.V. derzeit täglich aus Russland, verbunden mit der Bitte um Hilfe. Russen, die sich am Krieg in der Ukraine nicht beteiligen wollen, gebührt Schutz. Hierzu gibt es in Deutschland eine seltene, parteiübergreifende Einigkeit. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion, Irene Mihalic, betonte das in der vergangenen Woche ebenso wie der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Johannes Vogel. Er sagte: »Wer sich jetzt einer Einberufung gegenübersieht und nicht Teil einer Armee der Kriegsverbrechen sein will, stellt sich gegen das System Putin. Wir Europäer sollten russischen Regimegegnern ebenso wie unschuldigen Deserteuren jetzt schnell Asyl gewähren.« Aus der SPD und der Unionsfraktion hört man ähnliches (von Friedrich Merz‘ einmal abgesehen), auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser stellte klar: »Wer sich dem Regime von Präsident Wladimir Putin mutig entgegenstellt und deshalb in größte Gefahr begibt, kann in Deutschland wegen politischer Verfolgung Asyl beantragen.«

Diese Aussagen sind erfreulich – und gleichzeitig auch ärgerlich, denn sie gehen völlig an der Realität vorbei. Fakt ist, dass es so gut wie keine Zugangswege nach Deutschland und in andere EU-Staaten gibt. Direktflüge aus Russland in die EU sind eingestellt und die baltischen EU-Staaten haben ihre Grenzen dicht gemacht. Asyl kann man jedoch nach geltender Rechtslage nur beantragen, wenn man im Land ist. Das bedeutet, dass die Schutzzusagen für Russen bislang in erster Linie Lippenbekenntnisse sind. Es ist gut, dass die tschechische Ratspräsidentschaft am vergangenen Montag kurzerhand die 27 EU-Botschafter unter dem sogenannten Krisenreaktionsmechanismus einlud, um über den Umgang mit (Fahnen-)Flüchtigen aus Russland zu beraten. Doch ein zufriedenstellendes Ergebnis gibt es nicht.

Hunderttausende Russen sind seit Anfang des Jahres ins Ausland geflohen

Bereits seit Anfang des Jahres, seit ein Krieg gegen die Ukraine wahrscheinlich wurde, haben russische Staatsbürger*innen das Land verlassen. Ihre Zahl wird auf 420.000 bis 500.000 geschätzt. Darunter sind etwa 100.000 Männer, die im Rahmen der jetzigen Teilmobilmachung rekrutiert werden könnten, da sie zwischen 18 und 60 Jahre alt sind und grundsätzlich als Wehrpflichtige Angehörige der Armee oder als Reservisten militärdienstpflichtig sind. Auch Frauen sind von der Teilmobilmachung betroffen, soweit sie sich in der Vergangenheit freiwillig zum Dienst im russischen Militär entschieden hatten.

Nur ein geringer Teil derjenigen, die nun flüchten, sind Deserteure. Der größte Teil – etwa 100.000 militärdienstpflichtige russische Männer, so die Schätzung des Kriegsdienstverweigerungsnetzwerks Connection e.V. – hat sich rechtzeitig vor einer möglichen Rekrutierung dem Zugriff des Militärs entzogen. Viele haben schon damit gerechnet, dass es nicht bei einem begrenzten Einsatz bleiben würde und haben vorsorglich das Land verlassen. Diese Militärdienstentzieher fallen hinsichtlich eines möglichen Schutzes in Deutschland allerdings völlig durchs Raster. Sie haben hierzulande so gut wie keine Chancen auf Schutz. Das muss sich dringend ändern, wenn die Worte von Politiker*innen wie Bundesjustizminister Marco Buschmann ernst gemeint sind, der auf Twitter verkündete: »Wer Putins Weg hasst und die liberale Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen.«

Unterschiede bei Desertion, Militärdienstentziehung und Kriegsdienstverweigerung

Wenn russische Militärdienstpflichtige bereits eine Einberufung erhalten haben, gilt dies in Russland als Desertion und kann entsprechend strafrechtlich verfolgt werden. Für sie ist eine Ausreise in der Regel nur auf illegalem Wege möglich, da ihnen als Angehörige der Armee die Ausreise untersagt ist. Sofern sie einen Militärpass oder andere Dokumente mitführen, ist nachvollziehbar, dass sie der russischen Armee angehören. Sollte es ihnen gelingen, Deutschland zu erreichen – und hierin liegt die Haupthürde – stehen ihre Chancen auf Schutz vergleichsweise gut.

Kriegsdienstverweigerer sind Personen, die gegenüber den russischen Einberufungsbehörden ihre Kriegsdienstverweigerung erklären. Es gibt ein Antragsverfahren für die Kriegsdienstverweigerung und etwa 1.000 Personen pro Jahr leisten den Alternativen Dienst ab. In den Entscheidungsgremien in Russland ist das Militär jedoch an entscheidender Stelle vertreten, sodass sich hier die Entscheidungspraxis erheblich ändern kann. Ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung ist nur vor der Einberufung möglich. Das bedeutet auch, dass Reservist*innen keine Möglichkeit haben, einen Antrag zu stellen.

Die Personen, die sich schon vorab dem Zugriff des Militärs entziehen – was aktuell auf viele Männer aus Russland zutrifft – haben sich dem Militärdienst entzogen. Sie haben die Möglichkeiten genutzt, legal ins Ausland zu reisen. Bei einer Rückkehr nach Russland unterlägen sie den Regelungen der Teilmobilmachung. Da sie keine Einberufung erhalten haben, haben diese Militärdienstentzieher für den Grund ihrer Flucht keinen Nachweis und dementsprechend so gut wie keine Chancen auf Asyl. (Eine ausführliche Darstellung zur Wehrpflicht, zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung sowie zu Militärdienstentziehung und Desertion in Russland, Belarus und der Ukraine finden Sie hier).

Im Mai hatte das Bundesinnenministerium erklärt, dass »bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden derzeit in der Regel von drohender Verfolgungshandlung für den Fall der Rückkehr in die Russische Föderation ausgegangen« werde. Damit könnten sie als Flüchtling anerkannt werden, sofern sie ihre Desertion nachweisen können. In der Mitteilung des Innenministeriums wird jedoch ausdrücklich weiter ausgeführt, dass »Wehrdienstflüchtlinge von den Ausführungen nicht umfasst« sind. PRO ASYL und Connection e.V. kritisieren das seit Monaten und erwarten, dass die Bundesregierung spätestens jetzt nach der russischen Teilmobilmachung ihre Definition, wer gefährdet ist, der Realität angleicht.

Viele Russen fliehen nach Georgien, Armenien, Kasachstan und in die Türkei

Nur die wenigsten Menschen aus einer der drei genannten Gruppen sind in Länder der Europäischen Union geflohen. Im ersten Halbjahr 2022 liegt die Zahl der Deserteure und Militärdienstentzieher, die in der EU einen Asylantrag gestellt haben, bei schätzungsweise 1.100.

Laut aktueller Asylgeschäftsstatistik des BAMF wurden bis zum 31. August in Deutschland 1.851 Asylanträge von russischen Staatsbürger*innen insgesamt gestellt, wobei die Gründe für Asyl in der offiziellen Statistik nicht genannt werden. In 1.767 Fällen kam es bereits zu Entscheidungen, wobei lediglich 203 Menschen Asyl, eine Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder subsidiären Schutz erhielten. Bei den Entscheidungen handelt es sich jedoch vermutlich vor allem um Asylverfahren, die vor Kriegsausbruch gestellt wurden, da die Bearbeitung Monate in Anspruch nimmt. Inwiefern Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Russland also vom BAMF Schutz zugesprochen bekommen, ist bislang noch offen. Die Asylverfahren von Deserteuren, die vom Verein Connection e.V. betreut werden, sind noch nicht entschieden worden. Entsprechend schwierig ist es demnach, zum jetzigen Zeitpunkt belastbare Aussagen über Zahlen zu treffen.

Zu den »klassischen« Asylverfahren russischer Staatsbürger*innen kommen noch deutsche Zusagen auf Grundlage von Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. Wie das Bundesinnenministerium laut Bericht der Tagesschau mitteilte, hat es in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt in 436 Fällen die Zustimmung für eine Aufnahme nach §22 AufenthG. gegeben. Dieser Paragraf sieht eine Aufnahme »zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland« vor. Wie viele russische Staatsbürger*innen insgesamt seit Beginn des Kriegs nach Deutschland gekommen sind, kann auch das Ministerium nicht beziffern, weil an den Grenzen zu den Nachbarländern keine regulären Grenzkontrollen stattfinden.

Fest steht in jedem Fall, dass die Mehrheit der russischen Flüchtlinge in Länder geflohen ist (und dies auch aktuell tut), in denen es keine Visapflicht gibt oder wo es relativ einfach möglich ist, ein Visum zu erhalten. Nach Schätzungen von Connection e.V. unter Einbeziehung aktueller Informationen der Tagesschau sind das vor allem die Türkei mit rund 24.000 russischen Geflüchteten, Georgien mit 36.000, Armenien mit 12.000, Kasachstan mit 45.000, Serbien mit 7.300 und Israel mit 2.300 Menschen. Ein Teil dieser Länder bietet den Flüchtlingen keinen sicheren Aufenthalt. In der Türkei gilt das Asylrecht nur extrem eingeschränkt, zudem kommt es immer wieder zu Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete. Die Regierungen der Türkei und Armeniens stehen Russland politisch relativ nahe, sodass Abschiebungen auch nach Russland durchaus in Betracht gezogen werden müssen.

Was sollte die Bundesregierung also jetzt tun, um den warmen Worten Taten folgen zu lassen?

Vorschläge für eine Aufnahme russischer Deserteure und Militärdienstentzieher

- Russische Staatsbürger*innen sollten auch von Ländern außerhalb Russlands Anträge zur Aufnahme in die Europäische Union stellen können. Hier ist eine unbürokratische Lösung nötig, die sie vor einer Abschiebung aus einem anderen Land zurück nach Russland schützt. Humanitäre Visa sind eine Möglichkeit, die die Bundesregierung und die anderen EU-Staaten verstärkt nutzen sollten. Nur so erhalten die Menschen die Chance, auf legalem Weg nach Deutschland zu kommen und hier um Schutz zu bitten. Das muss ebenso für Geflüchtete anderer Nationalitäten gelten.

- Die Grenzen müssen geöffnet werden! Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, Länder zu erreichen, die ihnen einen sicheren Aufenthalt gewähren können. Die derzeit gültigen Regelungen für eine Visavergabe hindern viele daran, sichere Länder zu erreichen. Eine Aufnahme Schutzsuchender kann nur gelingen, wenn die illegalen Pushbacks gestoppt werden und die Menschen Zugang zu einem fairen Asylverfahren erhalten.

- Hinsichtlich der Gewährung von Asyl oder eines anderen Aufenthaltsstatus müssen die EU-Länder nicht nur Kriterien für Deserteure entwickeln, sondern vor allem Lösungen für die große Zahl der Militärdienstentzieher finden. Sie wären bei einer zwangsweisen Rückkehr nach Russland einer Rekrutierung für den Krieg unterworfen.

- Die EU sollte ein Aufnahmeprogramm beschließen, damit diejenigen russischen Staatsbürger*innen, die sich unter großem Risiko von der Regierung ihres Landes abgewandt haben, Möglichkeiten der Ausbildung und Beschäftigung erhalten.

PRO ASYL und Connection e.V. haben die Bundesregierung bereits im März in einem gemeinsamen Appell dazu aufgefordert, sowohl russischen und belarussischen als auch ukrainischen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren Schutz und Asyl zu gewähren. Connection e.V. setzt sich aktuell gemeinsam mit weiteren Organisationen auf europäischer Ebene für einen asylrechtlichen Schutz russischer und belarussischer Deserteure und Verweigerer ein. Mit einer Petition wird zudem eine Unterstützung auch ukrainischer Kriegsdienstverweigerer eingefordert, die mehrjährige Haftstrafen befürchten müssen.

Wenn das Recht auf eine faire Chance auf Asyl nicht in unerreichbarer Ferne bleiben soll, müssen Deutschland und die EU jetzt schnelle Lösungen finden. Das schulden sie den vielen Russen, die von EU-Ratspräsident Charles Michel bereits Anfang April zum Desertieren aufgerufen worden waren und denen auch seitens deutscher Politiker*innen immer wieder Schutzzusagen gemacht wurden. Dass diese Versprechen eingelöst werden, könnte am Ende sogar kriegsentscheidend sein.

Rudi Friedrich, Connection e.V. und Elisa Rheinheimer, PRO ASYL: Sie wollen nicht töten. 29.09.20222

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