Andrii Anatoliiovych Vyshnevetskyi: „Du sollst nicht töten“

Interview mit einem ukrainischen Kriegsdienstverweigerer

Bitte erzählen Sie, was Ihnen passiert ist

Ich wurde in die Armee einberufen, obwohl ich Pazifist bin und nach meinem religiösen Glauben keine Menschen töten und nicht kämpfen darf. Ich erhielt im September auf einer Straße in Odessa einen schriftlichen Befehl zur Einberufung. Das Militär sagte mir: "Wenn du den Befehl nicht akzeptierst, bringen wir dich ins Gefängnis."

Ich ging zum territorialen Zentrum für Rekrutierung und soziale Unterstützung des Suworowskij-Bezirks, an die im Befehl angegebene Adresse, weil ich nicht ins Gefängnis gehen wollte. Ich wurde für tauglich befunden.

Zwei Tage später brachten sie mich in das Ausbildungszentrum. Dort wurde ich gezwungen, einen Eid abzulegen. Ich wollte den Eid nicht ablegen, aber man sagte mir: Du wirst Fahrer, in der Armee gibt es eine Menge Arbeit, bei der man nicht töten muss. Tatsächlich wurde ich zum Fahrer ausgebildet, militärische Ausbildung Nummer 790, und nach dem Ende der Ausbildung wurde ich in die Region Donezk gebracht.

Dort sagte man mir, dass sie keine Fahrer bräuchten. Sie sagten, ich solle Schütze werden, obwohl ich im Ausbildungszentrum nie einen einzigen Schuss abgegeben hatte. Als sie uns schon in die Region Donezk gebracht hatten und wir einmal zum Übungsplatz gebracht wurden, bin ich dort einmal gerannt und habe auf eine Scheibe geschossen. Da wurde mir sehr schlecht, also habe ich gesagt, dass ich das nicht mehr machen werde. Danach habe ich nicht mehr mit einem Maschinengewehr geschossen. Aber es steht so in meinem Militärausweis, und wenn ich die Waffe verliere, gibt es bis zu fünf Jahre Gefängnis, und wenn ich sie absichtlich zerstöre, dann zehn Jahre.

Ich will und kann nicht töten. Ich will leben, ich will meine 9-jährige Tochter aufziehen, ihr meine Liebe geben. Ich weiß, wie es ist, ohne Eltern zu leben, denn ich bin selbst Waise. Ich möchte nicht, dass mein Kind ohne Vater aufwächst, wenn ich im Krieg getötet oder inhaftiert werde, weil ich mich weigere zu töten.

Können Sie Ihre Kriegsdienstverweigerung erklären? Gehören Sie einer Kirche oder einer religiösen Organisation an?

Ich bin gegen Krieg und das Töten von Menschen, ich bin gegen Gewalt. Ich bin Mitglied der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung und habe die Erklärung unterschrieben, in der es heißt, dass Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Ich lehne jede Art von Krieg ab und werde versuchen, alle Kriegsursachen zu beseitigen. Ich wünsche mir, dass es niemals Krieg geben wird und dass alle Menschen in Frieden und Harmonie leben. Mir gefiel auch die von Yurii Sheliazhenko veröffentlichte "Erklärung zur Unabhängigkeit vom Krieg": "Als Ausdruck des guten Willens meiner souveränen Persönlichkeit, als Ergebnis einer freien und ehrlichen unabhängigen Entscheidung, die auf dem natürlichen Recht des Menschen auf Selbstbestimmung beruht, erkläre ich meine Unabhängigkeit vom Krieg und werde nicht kämpfen."

Ich verstehe die kirchliche Terminologie nicht, ich glaube einfach. Ich bin Christ und Pazifist, ich glaube an Gott und ich bete zu Gott. Ich lese die Bibel, ich habe sie auf mein Smartphone heruntergeladen. Jeden Tag bete ich für den Frieden auf der ganzen Welt. Als ich im Dorf Perwomaiwka in der Region Cherson lebte, ging ich in das Gotteshaus, dann in verschiedene Kirchen in Cherson und Odessa, in die Orthodoxe Kirche der Ukraine. Wir haben nur einen Gott, und ich glaube, dass wir nicht nur in der Kirche beten sollten, sondern vor allem daran glauben müssen, dass Gott in unseren Herzen ist, wie der Pfarrer im Gotteshaus predigte. Ich kann keine Menschen töten, weil das Gewissen und die Furcht vor Gott unwiderstehlich sind, denn in der Heiligen Bibel steht das Gebot "Du sollst nicht töten", und es heißt auch, dass man Gott fürchten und die Gebote befolgen muss. Wie kann man einen Menschen töten, wie kann man damit leben? Ich kann es nicht tun. Ich möchte, dass es Frieden gibt, dass es keinen Krieg gibt. Ich werde nicht in der Lage sein, auf einen Menschen zu schießen und ihn zu töten. Das will ich nicht einmal annehmen. Wenn sie mir etwas sagen, was für den Krieg spricht, zittern meine Hände, mein Herz klopft. Ich rufe meine Frau, meine Tochter an und nur so kann ich mich beruhigen, wenn ich ihre Stimme höre. Ich habe Angst, dass ich meine Familie nicht sehen werde. Und wie soll ich dann meine Pflicht erfüllen, mich um meine Nächsten kümmern, um meine Familie, wie es im Neuen Testament heißt? Ich möchte meine Familie sehen, sie umarmen, das Kind küssen. Wenn ich anrufe, weint meine Tochter, sie vermisst mich. Ich habe sie seit drei Monaten nicht mehr gesehen.

In der Armee lachen sie mich aus, sie sagen, dass man die Wahl hat, zu schießen oder ins Gefängnis zu gehen. Sie sagen, wenn der Feind zu deiner Familie kommt und eine Waffe auf dich richtet, was wirst du dann tun, wirst du schießen oder was? Ich sage: Ich werde nicht schießen! Ihr müsst reden, ihr müsst kommunizieren, aber ihr dürft keine Gewalt anwenden. Ich werde sie bitten, nicht zu töten. Und wenn sie töten wollen, dann sollen sie mich töten, aber meine Familie nicht anrühren. Ich werde nicht töten. Ich werde darum bitten, dass unschuldige Menschen in Ruhe gelassen werden. Ich weiß, dass Jesus sein Leben für die Rettung der Menschen gegeben hat, und als er gekreuzigt wurde, ist er am siebten Tag auferstanden. Ich würde auch mein Leben geben, um meine Familie zu retten. Wenn sie mir sagen, ich soll schießen, werde ich das nicht tun, ich würde lieber ins Gefängnis gehen, aber ich werde nicht schießen.

Ich möchte einen Zivildienst leisten, ich möchte nicht zum Militär gehen. Ich bin gegen Krieg, gegen Gewalt, gegen Mord. Ich will keine Waffe in den Händen halten. Ich kann ohne Waffen dienen, ohne Waffen in der Nähe, ich will das Militär nicht sehen, denn es tötet, und ich will keine Waffen sehen.

Ich höre Sie husten. Was ist mit Ihrer Gesundheit?

Niemand behandelt die Menschen hier! Am 23. November, als wir nach der Ausbildung zur 53. Brigade in Kostjantyniwka in der Region Donezk gebracht wurden, mussten wir auf dem kalten Boden in einem Gebäude schlafen, wo es sehr kalt war. Ich war der vierten Kompanie, einem Logistikzug, zugeteilt. Ich hatte eine Körpertemperatur von 39,4 Grad Celsius. Der Kompaniechef war da, und ich sagte ihm, dass ich Fieber habe, dass meine Brust schmerzt, dass ich kaum stehen kann, dass mir heiß und kalt wird. Und er sagte mir mit obszönen Worten: "Es ist mir egal, dass du Fieber hast, dass du hustest, ich werde dich an die Front schicken und du wirst getötet werden und die Soldaten werden auf dir herumtrampeln." Ich ging in den Bunker, legte mich hin und konnte nicht mehr aufstehen. Dort konnte man mir nicht einmal Tabletten geben. Am 26. November riefen sie einen Wagen und brachten mich ins Krankenhaus. Die Diagnose lautete Lungenentzündung, beidseitige Lungenentzündung, es wurden Injektionen verabreicht, und mir wurde ein Tropf angelegt. Die Behandlung dauerte zwei Wochen. Nachdem ich geheilt war, wurde ich zum Zug zurückgebracht, und nun wurden wir in die Region Mykolaiv gebracht. Jetzt tut mir die Brust nicht mehr weh, aber ich huste, weil die Baracken, in denen wir schlafen, nicht geheizt sind, es ist sehr kalt. Und baden kann man auch nicht.

Ist es Ihnen gelungen, Ihre Weigerung, aus Gewissensgründen zu töten, während des Militärdienstes bei den Streitkräften der Ukraine zu erklären und aufrechtzuerhalten?

Ich habe darum gebeten, in der Küche arbeiten zu dürfen, und gesagt, dass ich nicht töten kann. Jetzt diene ich in der Küche, aber was später passieren wird, weiß ich nicht. Meine Erklärungen und mündlichen Anträge über die Weigerung zu töten und meine Bitten, in einen anderen Dienst versetzt zu werden, um meine Familie sehen zu dürfen, werden ausgelacht und nicht ernst genommen. Der schriftliche Antrag darf nicht einmal eingereicht werden. Sie lassen mich den Antrag nicht selbst schreiben, sondern sagen mir, ich solle zum Dokumentationsbeamten gehen. Ich habe weder Stift noch Papier zum Schreiben und kann den Antrag nirgends selbst ausdrucken. Die Jungs hier warten schon seit Monaten darauf, dass der Antrag gestellt und geprüft wird. Sie sagen, dass diese Anträge überhaupt nicht berücksichtigt werden. Ich habe mich an den stellvertretenden Kommandanten gewandt, da dieser zurzeit im Urlaub ist, mit der Bitte, mir Urlaub zu gewähren, um meine Familie zu sehen. Er sagte, er würde mich anmelden, aber das bedeutet nicht, dass ich in Urlaub fahre. Das geht nur, wenn der höhere Kommandant unterschreibt. Der Dokumentationsbeamte sagte, dass sie keine Anträge annehmen, sondern sie nur erstellen und drucken, wenn der Kommandant zustimmt. Ich fragte nach Versetzung zu einem anderen Dienst, z. B. zum Roten Kreuz, und der Dokumentationsbeamte sagte, dass das niemand akzeptieren würde. Wenn Sie einen Brief an den Präsidenten schicken können mit der Bitte, den Militärdienst durch einen Ersatzdienst zu ersetzen, wäre ich Ihnen sehr dankbar, denn hier werde ich nichts erreichen können.

Welche Zeugen und welche Dokumente können Ihre Geschichte bestätigen?

Ich kann Fotos des Mobilisierungsbefehls und des Militärausweises sowie eine Bescheinigung über die Mitgliedschaft in der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung vorlegen. Meine pazifistischen Überzeugungen können von meiner Frau Vitalina Vyshnevetska bestätigt werden, mit der ich über dieses Thema gesprochen habe, und dies geht auch aus meinem Facebook-Profil hervor. Vielleicht werden die Behörden und das Militärkommando im Falle einer offiziellen Anfrage meine Worte bestätigen.

Das Interview wurde geführt von Yurii Sheliazhenko, Exekutivsekretär der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, eMail: shelya.work(at)gmail.com, +380973179326. 2. Januar 2023. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2023

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