Editorial der Beilage in "der Freitag" und der graswurzelrevolution

Auf welcher Seite auch immer ... Menschen töten will ich nicht

Vollmundig hatten Politiker*innen der verschiedensten Fraktionen erklärt, russischen Verweigerern und Deserteuren Schutz zu geben. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte im September 2022: „Ich bin dafür diesen Menschen Schutz anzubieten.“ Viele russische Verweigerer schöpften daraufhin Hoffnung. Deutschland würde ihren Schritt, sich einem verbrecherischen Krieg zu entziehen, unterstützen und ihnen Asyl gewähren.

Vor wenigen Wochen kam dann die Ernüchterung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, zuständig zur Beurteilung der Asylanträge, lehnt diese reihenweise ab. Politiker*innen geben Lippenbekenntnisse ab - das Bundesamt für Migration schafft Fakten. Die Verweigerer sind Opfer leerer Versprechen.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird nun seit über einem Jahr geführt. Hunderttausende haben sich auf allen Seiten den Rekrutierungen entzogen, haben sich dem Kriegsdienst verweigert oder sind desertiert.

Ein Blick auf Russland: Wir gehen davon aus, dass sich bislang mehr als 150.000 militärdienstpflichtige Männer im Alter zwischen 18 und 65 Jahren den Rekrutierungen durch Flucht ins Ausland entzogen haben. Viele konnten in benachbarte Länder fliehen, wie Kasachstan, Georgien oder Armenien. Nur wenigen von ihnen gelang die Flucht nach Westeuropa. Zwar ist die Zahl der Asylanträge deutlich gestiegen, aber auf niedrigem Niveau, europaweit dürften im Jahr 2022 etwa 2.800 Menschen wegen ihrer Verweigerung Asyl beantragt haben.

Die deutsche Bundesregierung hatte vor einem Jahr erklärt, dass zumindest Deserteure aus Russland Schutz erhalten sollen. Zugleich hatte sie aber auch betont, dass dies nicht für Militärdienstentzieher gelte - also all jene, die sich schon vorab den Rekrutierungen entzogen hatten. Wer also klug genug war, angesichts des Krieges und der Teilmobilmachung rechtzeitig vor einem Einberufungsbescheid ins Ausland zu flüchten, wird kein Asyl erhalten. Das ist in der Tat ein Skandal.

Ein Blick auf Belarus: Belarus ist indirekt am Krieg beteiligt. Russische Truppen marschierten zu Beginn des Krieges über Belarus in die Ukraine ein. Es gibt mittlerweile eine enge militärische Kooperation zwischen Russland und Belarus. Angesichts dessen hatte die belarusische Organisation Nash Dom mit der Kampagne „Nein heißt Nein“ zur Verweigerung aufgerufen, um einen Kriegseintritt von Belarus zu verhindern. Zehntausende folgten diesem Aufruf. Einige wenige sind auch nach Deutschland gekommen, um hier Asyl zu beantragen. Ihre Chancen sind gering, auch wenn bei Desertion inzwischen die Todesstrafe droht.

Ein Blick auf die Ukraine: Seit dem Kriegsbeginn und der Generalmobilmachung ist Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise aus der Ukraine nur noch mit Sondergenehmigungen erlaubt. Es wird auf breiter Ebene rekrutiert. Mit der Generalmobilmachung wurde auch das ohnehin eingeschränkte Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt. Etliche Kriegsdienstverweigerer wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 

Trotz der Ausreisesperre haben es viele geschafft, in die Europäische Union zu kommen. Unserer Schätzung nach dürften es etwa 170.000 Männer im militärdienstpflichtigen Alter sein. Hier erhalten sie befristet einen humanitären Aufenthalt. Das schützt sie vor Abschiebung und Verfolgung. Aber langfristig werden sie vor der Frage stehen, wie sie sich einer Verfolgung wegen ihrer Verweigerung entziehen können.

Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht: Das hat 2011 das höchste Gericht des Europarates, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, festgestellt. Das gilt auch im Falle eines Krieges. Jeder und jede hat das Recht, zu jeder Zeit den Kriegsdienst zu verweigern.

Und daran muss sich der Umgang mit Kriegsdienstverweigerern messen lassen. Das gilt für alle am Krieg beteiligten Länder. Das gilt aber auch, wenn es um die Frage geht, ob verfolgte Kriegsdienstverweigerer Schutz und Asyl erhalten. 

Für uns ist daher klar, dass wir all diejenigen unterstützen, die sich auf welcher Seite auch immer dem Grauen des Krieges entziehen, die sich verweigern, die desertieren.

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