Der 15. Mai ist der bedeutendste Tag im Mai
Redebeitrag von Yurii Sheliazhenko, Ukraine, zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung 2023
(15.05.2023) Liebe Freundinnen und Freunde,
ich sende Euch Grüße aus Kiew von der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung.
Ich nehme diese Botschaft an einem Tag auf, an dem die Hauptstadt der Ukraine erneut von der russischen Armee bombardiert wurde. Viele Jahre lang haben sowohl die Ukraine als auch Russland im Mai den Tag des Sieges gefeiert, einen Feiertag des militaristischen Kults des sogenannten großen Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Ein altes Lied besagt: Es ist ein Feiertag mit Tränen in den Augen. Aber im Allgemeinen waren Tränen nicht erlaubt, Kriegsverbrechen wie die grausame Bombardierung von Städten während des Krieges und besonders am Ende des Krieges wurden vergessen. Es war ein Feiertag der allmächtigen Armee und der tödlichen Stärke von uns, "den Siegern".
Als ich einmal am Tag des Sieges auf die Straßen von Kiew ging und ein Transparent hielt, auf dem die Abschaffung der Wehrpflicht und der Armee gefordert wurde, versuchten einige Menschen mit Siegergefühlen auf beschämende Weise, mir mein Transparent zu entreißen. Ein Mann in Militäruniform schlug mich sogar. Diese Versuche, eine pazifistische Stimme zum Schweigen zu bringen, zeugten von der völligen Unwürdigkeit der sogenannten Sieger.
Und jetzt, nach der hartnäckigen Weigerung Selenskyjs, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen, und nach der verbrecherischen Invasion Putins in der Ukraine, sterben auf beiden Seiten der Frontlinie Zivilisten. Ihre Viertel werden durch den Beschuss zweier siegreicher Armeen zerstört. In Donezk zum Beispiel tötete die ukrainische Armee "ruhmreich" sieben Insassen eines Kleinbusses, darunter ein Kind. In Uman hat die russische Armee die "Ziele" der so genannten militärischen Sonderoperation erreicht, ein Wohnhaus zerstört und 23 Bewohner, darunter 6 Kinder, ermordet.
Diese jüngsten "Siege" sind falsch, und sie sind das Ergebnis eines falschen Gedenkens an vergangene "Siege". Es ist falsch, dass Putin, Selenskyj und ihre Hintermänner, zynische geopolitische Zocker aus Ost und West, den Krieg für immer fortsetzen können. Es ist falsch, dass der von ihnen beschworene Siegesmythos bei den Menschen, die von der Kriegswerbung im medialen Flügel des militärisch-industriellen Komplexes berauscht sind, der den Wohlstand des Volkes ausplündert und von Tod und Elend profitiert, keine Kritik erfährt.
Wir brauchen genau das, was für die Händler des Todes und ihre politische Klientel auf beiden Seiten der Frontlinie verhängnisvoll ist. Wir brauchen einen Waffenstillstand und Friedensgespräche. Putin muss seinen Angriffskrieg beenden. Lukaschenko sollte nicht Putins Komplize im Angriffskrieg sein. Selenskyj muss diplomatische und gewaltfreie Wege zur Verteidigung der Ukraine in Betracht ziehen, anstatt ein Blutbad anzurichten. Das ist gesunder Menschenverstand.
Aber Diktatoren und Militaristen hören nicht auf den gesunden Menschenverstand. Sie greifen an. Die Menschen bedeuten ihnen nichts, nur die Angriffe zählen. Sie suchen Ortschaften heim, zwingen Menschen gewaltsam in die Armee und machen Zivilisten gegen ihren Willen zu Kanonenfutter, um den Feind unter einer Lawine von unterworfene Körper und höllischem Gewehrfeuer zu begraben.
Kein Wunder, dass die Stimme des Gewissens im Kopf eines jeden Menschen sagt: Nein. Nein, um Gottes willen! Ich weigere mich zu töten! Wenn die Menschen nur zuhören würden... Wenn alle Menschen sich weigern zu töten, wird es keine Kriege mehr geben. Aber im Moment ist es ein Tabu, ein Verbrechen, und Kriegsverweigerer werden unterdrückt. Die ukrainische Armee verweigert die Gewissensfreiheit und den Ersatzdienst. Kriegsdienstverweigerung wird in der Ukraine mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft, Desertion mit fünf bis zwölf Jahren hinter Gittern.
Dennoch setzen wir den gewaltlosen Widerstand gegen Militarismus und Krieg fort. Wir verteidigen die Menschenrechte. Ich lade Euch und die deutsche politische Klasse ein, darauf zu bestehen, dass die Ukraine, wenn sie Teil der europäischen Familie werden will, die Menschenrechte respektieren muss, einschließlich des Rechts, nicht zu töten. Ich lade Euch und die deutschen Medien ein, den Anhörungen des Obersten Gerichtshofs der Ukraine in den nächsten wegweisenden Fällen beizuwohnen: der Kassationsbeschwerde des politischen Gefangenen Vitaly Alekseenko, der einen Freispruch und die Freilassung am 25. Mai anstrebt, und der Klage von Andrii Vyshnevetskyi, einem Kriegsdienstverweigerer, der in der Armee an der Front festgehalten wird und das Gericht auffordert, Präsident Selenskyj anzuweisen, ein Verfahren zur Entlassung aus dem Militärdienst aus Gewissensgründen einzuführen.
Eine der Möglichkeiten, sich dem Krieg zu widersetzen, besteht darin, ins Ausland zu gehen, aber selbst Studenten, die es vorziehen, an europäischen Universitäten zu studieren, anstatt in Schützengräben zu verrotten, ist es untersagt, eine Zukunft in Frieden und Hoffnung zu wählen. Allen Männern im Alter von 18 bis 60 Jahren ist es verboten, die Ukraine zu verlassen, vielen ist es gelungen, illegal zu fliehen, aber einige von ihnen haben sich auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg umgebracht, sind in den Karpaten erfroren, in der Theiß ertrunken, und Tausende wurden direkt aus den Grenzstädten in den Fleischwolf geschickt.
Ich bitte Euch eindringlich, die #ObjectWarCampaign zu unterstützen, die Schutz und Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Russland, Belarus und der Ukraine fordert. Die Europäische Union muss die Achtung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung nachdrücklich bekräftigen und darauf bestehen, dass auch Russland, Belarus und die Ukraine dieses Menschenrecht respektieren müssen. Die Menschenrechte sind eine Grundlage für einen gerechten Frieden.
Wie jedes Jahr gedenken wir auch in diesem Mai am Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerer all derer, die das Recht, das Töten zu verweigern, begründen und aufrechterhalten. Der 15. Mai ist der bedeutendste Tag im Mai. Erinnern wir uns und feiern wir ihn. Dieser Mai oder der nächste Mai darf kein Monat der tödlichen und zerstörerischen Siege sein. Es muss ein Monat der Würde und des gesunden Menschenverstandes sein, ein Monat der Hoffnung, des Friedens und der Liebe, kurz gesagt, ein Monat der Kriegsdienstverweigerung.
Ich wünsche Euch Frieden und Glück.
Yurii Sheliazhenko: Grußwort zum 15. Mai 2023. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2023.
Yurii Sheliazhenko, Ph.D. (Law) ist Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung und Vorstandsmitglied beim Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung sowie bei World BEYOND war. Er gehört dem Rat des International Peace Bureau an. Kontakt: shelya.work(at)gmail.com, +380973179326