Verbarrikadierte Fenster in der Ukraine. Foto: Alexia Tsouni

Verbarrikadierte Fenster in der Ukraine. Foto: Alexia Tsouni

Die andere Seite des Krieges

Russische und ukrainische Verweigerer in Georgien

(05.08.2023) In einem Keller in Tiflis, eingesperrt im Haus in Charkiw, auf der Flucht in die Wälder nach Moldawien... So desertieren Zehntausende von Russ*innen und Ukrainer*innen.

In einem Keller am Rande von Tiflis, Georgien, sitzen etwa fünfzehn Männer und reden über Politik. Sie sind zwischen achtzehn und dreißig Jahre alt, kommen aus Russland und sind alle Militärdienstverweigerer. Der genaue Ort, an dem sie sich aufhalten, muss geheim bleiben, denn viele der Anwesenden stehen auf der "Schwarzen Liste" des FSB, des Sicherheitsdienstes des Kremls. Seit dem 24. Februar 2022 hat die Zahl der Spion*innen und Informant*innen für die Russische Föderation in zentralasiatischen Ländern stark zugenommen.

Die Betroffenen im Keller sprechen jedoch frei, erheben ihre Stimme und streiten sich untereinander. Die meisten der Teilnehmenden sind Anarchisten und haben mehr oder weniger lange Aufenthalte in den Gefängnissen ihrer Heimatländer hinter sich: Um nicht in die Schützengräben geschickt zu werden, mussten sie die Berge des Kaukasus illegal überqueren – oft ohne einen einzigen Rubel in der Tasche.

"Die Opposition sollte einen Plan ausarbeiten, um Putin zu stürzen und das neue Russland nach ihm aufzubauen", meint der neunzehnjährige Oleg, der zu den gemäßigten Anwesenden gehört. "Ein Plan? Weißt du", spottet Juri, "wer hatte einen Plan? Lenin, verdammt: der wusste, wie man eine Revolution macht! Vergesst sie, diese liberalen Politiker*innen, die sich im Ausland amüsieren! Das neue Russland, wenn es denn jemals existiert, muss von den russischen Arbeiter*innen aufgebaut werden, und zwar nur durch ihre eigenen Anstrengungen." Wenn man sie fragt, warum sie nicht als Soldat*innen gehen wollten, antworten Juri und Oleg dasselbe: Dieser Konflikt wurde von der Oligarchie und der Bourgeoisie gewollt, die dich erst in Friedenszeiten ausbeuten und dich dann zum Massaker schicken, wenn es Zeit für einen Krieg ist.

IVAN sieht das genauso. Nur dass Ivan kein Russe ist, sondern Ukrainer: Er lebt heute in Italien, ist vierzig Jahre alt und kommt aus Charkiw, wo es vor anderthalb Jahren Bomben zu regnen begann. "Diejenigen, die heute an der Front kämpfen, sind die Unglücklichsten. Es sind diejenigen, die kein Geld haben, zu fliehen – sagt er – oder gute Beziehungen, um vom Militärdienst befreit zu werden. Ich glaube nicht, dass aus diesem Gemetzel jemals etwas Gutes entstehen kann, weder für uns noch für das russische Volk, mit dem wir immer Brüder waren".

Daher beschloss Ivan, das Land zu verlassen und nach Westeuropa zu fliehen, ganz im Sinne seiner Vorstellungen. Auch seine Reise war nicht einfach, denn ab dem 24. Februar 2022 verbot das ukrainische Gesetz die Ausreise für alle Männer zwischen achtzehn und sechzig Jahren. "Mir wurde der Kontakt zu einem Schmuggler vermittelt", erinnert er sich, "der für 2.500 Dollar die Beamt*innen an der Grenze zu Moldawien bestochen hat. Am verabredeten Abend hockte ich in einem Wäldchen und wartete auf das Signal, woraufhin ich durch das Niemandsland lief und mich auf einem großen, vom Mond beleuchteten Feld wiederfand. In diesem Moment erhielt ich die letzte Nachricht des Schmugglers, der meine Bewegungen in der Zwischenzeit per GPS verfolgt hatte: "So, jetzt atme, du bist in Sicherheit".

DESERTION ist sicherlich eines der am wenigsten diskutierten Themen dieses Konflikts. Dabei handelt es sich nicht um ein Randphänomen – im Gegenteil. Es gibt viele Zehntausende junge Russ*innen und Ukrainer*innen, die ihre jeweiligen Länder verlassen haben, um nicht in der Armee zu landen: eine kleine Armee von Widerspenstigen, die – um einen Ausdruck von Lenin zu gebrauchen – "mit den Füßen für den Frieden gestimmt haben". Die Nachrichten darüber werden im Allgemeinen wenig publik, vielleicht auch, weil sie nicht in das überparteiliche Echo der kriegerischen Propaganda passen.

Mit dem richtigen Blick findet man dennoch zahlreiche Beiträge: So berichtet BBC, dass im letzten Winter mindestens neunzig ukrainische Bürger*innen bei dem Versuch, die rumänische Grenze illegal zu überqueren, erfroren sind. Einige Monate zuvor, im September 2022, hätte die Schlange der Flüchtenden an der russisch-georgischen Grenze eine Länge von zehn Kilometern erreicht. In der Anfangsphase des Konflikts kam es zu einer Massendesertion in der Kiewer Armee – im zweiten und dritten Bataillon der 79. Brigade – deren Soldat*innen nach tagelangem Massaker die Schützengräben verließen: "Sie haben uns als Kanonenfutter benutzt, während die Offiziere vom Schlachtfeld geflohen sind! Leute, greift ein, denn sonst werden sie uns alle zum Narren halten!", ließen sie in einem Post auf Facebook verlauten.

In Tiflis ist die Organisation "idite Lesom" (Seite 15) seit einigen Monaten aktiv und hilft russischen Militärs, von der Front zu fliehen und sich im Ausland in Sicherheit zu bringen: "Die Zahl derer, die sich bei uns melden, ist beeindruckend" – erzählt Darya Berg, eine der Gründerinnen – viele Soldat*innen verletzen sich gegenseitig durch Schüsse mit einer Kalaschnikow in die Beine, um die Front verlassen zu können. Sobald sie geheilt sind, versuchen sie dann, die 7.000 Kilometer lange Grenze zwischen Russland und Kasachstan zu erreichen, die an verschiedenen Stellen überquert werden kann. Dort holen wir sie normalerweise ab."

Für jede/n Exilant*in in Uniform gibt es Dutzende von Menschen, die ihre Flucht immer noch planen oder es aus verschiedenen Gründen nie geschafft haben, sie in die Tat umzusetzen. Dies ist der Fall des 45-jährigen Wassili, der sich seit achtzehn Monaten buchstäblich in seiner Wohnung in Charkiw verbarrikadiert hat. Er geht nie raus, nicht einmal zum Einkaufen, denn das Risiko, auf der Straße angehalten und zwangsrekrutiert zu werden, wird immer größer: "Das Fernsehen erzählt uns immer wieder", er lächelt und schaut aus dem Fenster, "dass alle Ukrainer*innen bereit sind, sich abschlachten zu lassen. Aber wenn das wirklich so ist, wozu brauchen sie dann den ersten, der vorbeikommt, und schicken ihn an die Front?"

Die gleiche Frage stellt sich sicherlich auch auf der anderen Seite der Grenze, wo kürzlich die Fotos des Sohnes des Verteidigungsministers Šojgu Sheba auftauchten. Dieser hat sich, während seine Altersgenossen zwischen Schützengräben und Zäunen kraxeln, an den Stränden der Türkei vergnügt. Es ist wahrscheinlich, dass in irgendeinem Keller von Tiflis, zwischen den Flecken von Feuchtigkeit und Zigarettenrauch, auch dieses Thema diskutiert wird.

"Renitenti bipartisan alla guerra: Voluta dai grandi oligarchi". Verfasst von Andrea Sceresini, Giuseppe Borello, Matteo Delbò und Veröffentlicht am 05.08.2023 in "Il Manifesto". Aus dem italienischen übersetzt von Marah Frech. https://ilmanifesto.it/renitenti-bipartisan-alla-guerra-voluta-dai-grandi-oligarchi. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2023

Stichworte:    ⇒ Desertion   ⇒ Flucht   ⇒ Georgien   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Russland   ⇒ Ukraine