Wie Tal Mitnick verweigerte ich in Israel den Dienst als Soldaten
Es ist wichtig zu verstehen, warum
(29.12.2023) Letzte Woche wurde der 18-jährige Tal Mitnick für 30 Tage inhaftiert, weil er sich geweigert hatte, in die israelischen Armee (IDF) einzutreten. Er ist damit der erste Kriegsdienstverweigerer, der seit Beginn des Krieges zwischen Israel und Hamas inhaftiert wurde. "Ich weigere mich zu glauben, dass mehr Gewalt Sicherheit bringen wird. Ich weigere mich, an einem Krieg der Rache teilzunehmen", schrieb Mitnick in seiner Erklärung.
Die Militärdienstpflicht ist ein Eckpfeiler der israelischen Gesellschaft. Aufgrund mangelnder Transparenz ist es schwierig, den Zahlen der IDF vollständig zu vertrauen, aber die offiziellen Zahlen zeigen, dass 69% der Männer und 56% der Frauen mit 18 Jahren zum Dienst eingezogen werden. Dies macht die Militäruniform zu einem Emblem der kollektiven nationalen Identität, vielleicht sogar wichtiger als die Flagge, die durch die israelische Maxime verkörpert wird: "Eine Nation, die eine Armee aufbaut, ist eine Nation, die sich selbst aufbaut."
Das Militär ist so tief in der Gesellschaft verwurzelt, dass der Dienst ebenso ein soziologisches Phänomen wie eine ideologische Pflicht ist. Die meisten Soldat*innen sind keine Kämpfer*innen. Dort sind sie auch tätig als Köch*innen, Radio-DJs oder Lehrer*innen. Die Armee hat gelernt, Gruppen zu integrieren, die sie in der Vergangenheit abgelehnt hat, wie z.B. LGBTQ+-Menschen, und serviert sogar veganes Essen. Man kann beim Militär dienen und trotzdem zu Hause wohnen und es wie einen normalen Tagesjob sehen.
Während der Militärdienst in den USA und im Vereinigten Königreich als "Ausweg" aus der Armut oder einer niedrigeren sozialen Schicht betrachtet wird, ist er in Israel das Gegenteil. Es ist ein Weg in die Gesellschaft, wo Jobs für "Post-Army"-Leute ausgeschrieben werden, wo soziales Ansehen an den Leistungen im Militär gemessen wird und wo zwanglose Gespräche unweigerlich auf die Frage "Wo haben Sie gedient?" hinauslaufen. Das Militär dient als Tor zu einer vollständigen israelischen Identität und überbrückt alle Schichten der sozialen Hierarchie.
Doch trotz der Allgegenwart des Militärs gibt es eine Unterströmung des Dissenses. Wie Mitnick habe auch ich die Einberufung in die IDF verweigert. Beispiele für die Verweigerung sind selten, aber in der Geschichte Israels gab es sie immer wieder. Da wären die 3.000 Reservesoldaten, die 1983 gegen den ersten Libanonkrieg protestierten und von denen 160 wegen ihrer Dienstverweigerung ins Gefängnis kamen. Aber es sind auch Persönlichkeiten wie das Knessetmitglied Ofer Cassif, der den Dienst im Westjordanland verweigerte, sowie Piloten, die Einsätze verweigerten, die sie für illegal hielten. Es gibt eine Handvoll Jugendlicher, die jedes Jahr ins Gefängnis müssen, weil sie den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, unterstützt von Gruppen wie Mesarvot.
Im Gegensatz zu den meisten Kriegsdienstverweiger*innen, die nur einen kleinen Teil der israelischen Bevölkerung ausmachen und oft aus der Oberschicht kommen, stammte ich aus einem kleinen Dorf am Rande Israels und ging in einem Kibbuz zur Schule, wo das Ethos des Dienens und der Aufopferung stark ausgeprägt war. Da ich der militaristischen Kultur kritisch gegenüber stand und von meiner Schule bereits als problematisch eingestuft wurde, wurde ich bei der Einberufung zur Armee zu einem Komitee geschickt, das mich beurteilen sollte.
Es ist nicht einfach, den Dienst zu verweigern. Eine Verweigerung ist selten, auch weil die Armee wenig Raum für Widerspruch zulässt. Der Oberste Gerichtshof Israels hat entschieden, dass zwar absoluter Pazifismus ein gültiger Grund für eine Dienstbefreiung ist, eine "selektive Verweigerung" - die Ablehnung bestimmter Aufgaben - jedoch illegal. Diese Haltung, insbesondere die Weigerung, in den besetzten Gebieten zu dienen, wird als Bedrohung der nationalen Einheit angesehen. Die wenigen, die aus pazifistischen Gründen freigestellt werden, dürfen auch nicht über die Besatzung oder die Politik Israels im Allgemeinen diskutieren.
Auch der Umgang der IDF mit Verweiger*innen ist nicht einheitlich. Einige werden vor Gericht gestellt und mehrfach inhaftiert, bevor sie von einem militärpsychiatrischen Ausschuss entlassen werden. Andere, wie ich, werden direkt vor dieses Gremium geschickt. Dort musste ich vor einem Tribunal von Offizieren meine Überzeugungen darlegen, die mit 17 Jahren eher intuitiv als klar definiert waren. Die Armee wendet vor allem eine Methode an, um Verweiger*innen zu entlassen: Sie werden aus psychischen Gründen als dienstuntauglich erklärt. Das heißt: In Israel werden abweichende Meinungen einer Geisteskrankheit gleichgesetzt.
Eine solche Erfahrung ist irritierend, als würde man in eine andere Realität eintreten. In meinem Fall landete ich ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung im Baugewerbe, einem Bereich, in dem auch Palästinenser*innen, Wanderarbeiter*innen und Randgruppen arbeiten. Diejenigen, die die ethische Entscheidung getroffen haben, den Militärdienst zu verweigern, haben kaum eine andere Wahl und müssen mit zahlreichen persönlichen und sozialen Konsequenzen rechnen.
Unsere Kriegsdienstverweigerung war keine Geste, um Bestätigung von anderen zu erhalten oder gar eine Anerkennung durch Palästinenser*innen, die durch Sprache und Zäune von uns getrennt waren. Sie war vielmehr ein Zeichen gegen den moralischen Verfall in unserem Innern - um anderen und uns selbst zu zeigen, dass es einen anderen Weg gibt.
Aber Verweiger*innen sind keine Helden. Niemand, der sich verweigert hat, denkt, er sei einer. Ich weiß, dass ich es nicht war. Ich habe bei meiner Entscheidung keine Tapferkeit empfunden - sondern Entfremdung. Die Entscheidung, etwas abzulehnen, das für meine Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, bedeutet, dass ich nie ganz Teil dieser Gesellschaft sein kann. Es gibt sogar Momente des Selbstzweifels und der Schuld - habe ich meine Pflicht vernachlässigt? Dies wird besonders stark empfunden, wenn Freunde mit Konflikten und Verlusten konfrontiert werden, egal wie weit weg sie von uns sind.
Verweigerung ist nicht heroisch, aber sie drückt eine andere Art von Entschlossenheit aus: die Entschlossenheit, allein zu stehen, die Komplexität des Dissenses zu bewältigen und angesichts gesellschaftlicher Spannungen seinen Überzeugungen treu zu bleiben; zu erkennen, dass Rebellion notwendig ist, wenn mensch einem gewalttätigen und unhaltbaren Status quo gegenübersteht.
Etan Nechin ist ein in New York lebender Schriftsteller und Mitarbeiter von Haaretz
Etan Nechin: Like Tal Mitnick, I refused to serve Israel as a soldier. It’s important to understand why. Guardian, 29.12.2023. Übersetzung. rf. Quelle: https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/dec/29/tal-mitnick-israel-soldier-military-service-society
Stichworte: ⇒ Israel ⇒ Kriegsdienstverweigerung