Ukraine: „Diese Männer zittern am ganzen Körper, können überhaupt nicht mehr schießen“

Interview mit Rudi Friedrich zu ukrainischen Kriegsdienstverweigerern (Die Welt)

von Jan Alexander Casper

(05.01.2024) Die Ukraine will Hunderttausende geflüchtete Männer in den Krieg gegen Russland schicken. Rudi Friedrich setzt sich für Kriegsdienstverweigerer ein und berichtet von einem stark steigenden Druck auf diese Gruppe. Zunehmend flüchteten auch Soldaten, die vom Einsatz schwer traumatisiert seien.

WELT: Herr Friedrich, Sie gehen von bislang etwa 300.000 ukrainischen Männern aus, die sich vor dem Kriegsdienst nach Europa gerettet haben. Können Sie beziffern, wie viele militärdienstpflichtige Männer, die nicht kämpfen wollen, sich noch in der Ukraine aufhalten – und sich angesichts strengerer Rekrutierung zur Flucht gezwungen sehen?

Rudi Friedrich: Dazu gibt es keine Zahlen, oder zumindest sind mir keine bekannt. Es sind sicherlich längst nicht alle außer Landes, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Einen Einblick haben wir über Partnerorganisationen in der Ukraine wie die Ukrainische Pazifistische Bewegung. Und: Wir kriegen nach wie vor entsprechende Anrufe.

WELT: Was heißt das: Sie kriegen Anrufe?

Friedrich: Uns rufen Leute an, die fragen, wie sie aus der Ukraine rauskommen. Beziehungsweise: Oft sind es Anrufe von Verwandten in Deutschland, die sich stellvertretend erkundigen, wie ihre Söhne oder Enkel aus der Ukraine herauskommen. Denen kann man nur raten, zu prüfen: Treffen Ausnahmeregelungen zu, mit denen man eine Ausreise beantragen kann? Die gibt es für Väter von mehr als drei Kindern zum Beispiel, oder wenn jemand allein für pflegebedürftige Verwandte verantwortlich ist. Oft aber ist der einzige Weg, in der Ukraine unterzutauchen oder zu versuchen, illegal auszureisen.

WELT: Wer meldet sich zurzeit bei Ihnen – Männer, die bislang ganz dem Kriegsgeschehen fernblieben, oder Soldaten?

Friedrich: Es sind inzwischen immer mehr, die im Krieg waren und sagen: Ich war ewig lang im Einsatz, ich kann nicht mehr. Das sind Leute, die traumatisiert sind, die verletzt sind, die das Kriegszittern haben, wie die Soldaten es aus dem Ersten Weltkrieg beschrieben haben. Nach der permanenten, immensen Bedrohung, der sie im Graben ausgesetzt waren, zittern diese Männer am ganzen Körper, können überhaupt nicht mehr schießen. Das war im Ersten Weltkrieg ein gängiges, sehr oft diagnostiziertes Bild. Heute ist es zurückgekehrt, mit manchen dieser Männer auch nach Deutschland, wenn sie hier ihre Familie besuchen dürfen. Manche bleiben dann einfach hier.

WELT: Was passiert, wenn sich jemand innerhalb des Landes offen gegen seinen Einberufungsbefehl stellt?

Friedrich: In der Ukraine herrscht Kriegsrecht, selbst das dort früher geltende relative dürre Recht auf Verweigerung aus religiösen Gründen hat keine Geltung mehr. Sie können also einen Antrag auf Verweigerung stellen, der wird dann abgewiesen, und sie werden trotzdem an die Front gebracht. Und wenn sie darauf beharren, also auf ihrer Kriegsdienstverweigerung bestehen, dann sehen sie sich einem Strafverfahren ausgesetzt. Die bisherigen Urteile sahen teils mehrere Jahre Haft vor. Es sitzen heute schon Personen wegen Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine im Gefängnis. Das Land erkennt schlicht das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 in einem Urteil anerkannt hat.

WELT: Wie ergeht es unter diesen Umständen einer Organisation wie der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, die Sie erwähnten?

Friedrich: Gegen deren Geschäftsführer Yurii Sheliazhenko wird ermittelt.

WELT: Was wirft man ihm vor?

Friedrich: Dass seine Vereinigung sich positiv gegenüber dem Angriff Russlands geäußert haben soll. Das ist aber nicht der Fall, sie hat den Angriff Russlands verurteilt. Aber Sheliazhenko hat eben Kriegsdienstverweigerer unterstützt, und es entsteht der Anschein, dass er deswegen ins Visier der Strafbehörden geraten ist.

WELT: Ist das die Grundstimmung gegenüber Verweigerungsaktivisten: Sie gelten als Verräter?

Friedrich: Krieg bedeutet immer Polarisierung, Feindbilder entstehen oder verschärfen sich, die Gesellschaft wird militarisiert, bewaffneter Kampf wird als einzige Option dargestellt. Und so werden auch in der Ukraine Kriegsdienstverweigerer zunehmend als Verräter, als Vaterlandsverräter gebrandmarkt und strafrechtlich verurteilt. Dabei muss das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gerade im Kriegsfall Bestand haben.

WELT: Müssten EU und Deutschland als Verbündete der Ukraine die Einhaltung dieses Grundrechts einfordern?

Friedrich: Als Verein pochen wir darauf schon länger. Wir erleben, dass es diesbezüglich kaum Politikerinnen und Politiker gibt, die dazu Stellung beziehen wollen.

WELT: Man könnte auch folgern: Wenn Europa vermeiden will, dass die Ukraine Menschen gegen ihren Willen in den Kriegsdienst zwingt, muss Europa ihr massiv mehr und noch modernere Waffen liefern, sodass wenige, dafür freiwillige Soldaten effektiver kämpfen können – zumal Russland weiterhin als Ziel die Vernichtung des ukrainischen Staates ausgibt. Frriiedrriicch: Das würde lediglich eine extrem gefährliche Eskalation befeuern. Deswegen plädiere ich wie viele andere dafür, möglichst schnell in Verhandlungen einzutreten. Sie sagen: Das ist nicht möglich aufgrund der russischen Zielsetzung. Ich sage: Natürlich wird es letztendlich trotzdem auf Verhandlungen hinauslaufen. Das bedeutet: Lieber sollte man jetzt mit dem Verhandeln anfangen und somit viele Leben retten. Was wir erleben, ist ein Grabenkrieg, der unendlich viele Tote fordert. Man nennt es „Abnutzungskrieg“, als würden irgendwelche Geräte verschlissen werden. Was es eigentlich heißt: Menschen sterben jeden Tag, auf beiden Seiten. Dass 300.000 und mehr ukrainischer Männer sich dem Krieg entzogen haben oder sich dem Krieg entziehen wollen, ist auch ein Zeichen dafür, dass eben nicht die gesamte ukrainische Bevölkerung hinter dem Krieg steht, wie es im Westen oft heißt. Das ist ein weiteres gutes Argument dafür, dass wir andere Wege finden müssen, diesen Krieg zu beenden.

WELT: Im Sommer 2022 sprachen wir in einem Interview bereits über russische Kriegsdienstverweigerer. Damals sollen etwa 100.000 Männer in russische Anrainerstaaten geflohen sein, dort hingen sie dann fest. Wie steht es heute um sie?

Friedrich: Die Situation dieser Männer hat sich kaum verändert, nur sind es mehr geworden: Heute gehen wir von mehr als 250.000 aus. Damals kam aus der deutschen Politik das Signal, diese Menschen unterstützen zu wollen, weil sie sich einem völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Krieg verweigern. Die Realität sieht anders aus. Sie haben keine Visa erhalten, um in die Europäische Union einzureisen. Und jenen, die es dennoch bis nach Deutschland geschafft haben, ist häufig Asyl verwehrt worden. 2022 gab es noch eine Reihe von Anerkennungen, 2023 kaum noch. Die Bundesregierung sagte bei russischen Deserteuren zu, dass sie einen Flüchtlingsschutz bekommen sollen. Für Militärdienst-Entzieher, die durch Ausreise einem Einberufungsbescheid zuvorkamen, gilt das nicht. Sie erhalten in der Regel keinen Schutz, ihnen droht sogar Abschiebung – zurück zum Kriegseinsatz nach Russland.

WELT: Sollte Europa nicht froh sein über jeden russischen Mann, der sich hier und nicht in Putins Einzugsbereich befindet?

Friedrich: So sollte man meinen. Das scheint bei den Behörden aber noch nicht angekommen zu sein. Ihre Entscheidungen sind völlig widersinnig.

Die Welt, 5.1.2024. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus249365854/Russlands-Angriffskrieg-Diese-Maenner-zittern-am-ganzen-Koerper-koennen-ueberhaupt-nicht-mehr-schiessen.html

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