Südkoreas Alternativdienstsystem im internationalen Vergleich
(18.11.2023) Ganz bewusst versuche ich, im Zusammenhang mit dem Alternativdienst in Südkorea nicht über Gerechtigkeit zu sprechen oder danach zu suchen. Denn in dem Moment, in dem man über Gerechtigkeit spricht, werden alle Diskussionen wie in ein schwarzes Loch hineingesaugt. Wir sprechen darüber, warum der Alternativdienst Teil der zivilen Sphäre sein soll und warum dies als System, mit dem wir unsere friedlichen Überzeugungen schützen können, verbessert werden sollte.
Das Alternativdienstsystem ist seit der Einführung aus dem Ruder gelaufen. Das südkoreanische System der Militärdienstpflicht ist zu einem konventionellen System geworden – den von mir geschaffenen Ausdruck „konventionelle Militärdienstpflicht” gibt es bislang nicht, doch er beschreibt die gegenwärtige Situation treffend.
Es handelt sich nicht wirklich um ein System zur Rekrutierung von Menschen aus verteidigungspolitischen oder militärischen Gründen, denn es wurde als Tradition überliefert und hat sich unter der Bevölkerung etabliert.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass sich der Alternativdienst völlig vom Militärdienst unterscheiden sollte. Wie der UN-Menschenrechtsausschuss und die Nationale Menschenrechtskommission Südkoreas immer wieder betonen, darf die Prüfungskommission keine Verbindung zum Militär haben. Die Kriegsdienstverweigerung muss von einer unabhängigen und unparteiischen Stelle geprüft werden. Mit gesundem Menschenverstand betrachtet, ist die Military Manpower Administration eine Institution, die Menschen zu Soldat*innen ausbildet. Der Gedanke, Menschen, die einen Alternativdienst anstreben, hierher zu schicken und zu überprüfen, ist nicht nachvollziehbar. Daher ist die derzeitige Situation in Südkorea nicht tragbar, solang sie den Alternativdienst in die Zuständigkeit der Military Manpower Administration legt.
Im Falle Taiwans wird der Alternativdienst von der Nationalen Einberufungsbehörde des Innenministeriums geprüft und die Musterungen von einer Abteilung des Ministeriums für Gesundheit und Wohlfahrt durchgeführt. Die sich daraus ergebende Anzahl von Personen wird dem Ministerium für Nationale Verteidigung mitgeteilt. Das Militär in Taiwan ist etwa so groß wie das Militär in Südkorea, aber die Struktur unterscheidet sich. Es können nicht eigenmächtig Leute rekrutieren werden, indem die Standards für die Musterung geändert werden, nur weil die Geburtenrate sinkt – so wie im Falle Südkoreas.
In vielen Staaten wird die Zusammensetzung des Prüfungsausschusses für Kriegsdienstverweiger*innen in Absprache mit Expert*innen auf dem jeweiligen Gebiet oder mit Mitgliedern von Bürgergruppen vorgenommen. In dem bereits erwähnten Taiwan setzt sich der Prüfungsausschuss aus Beamt*innen des Innenministeriums, der Militärverwaltung, des Verteidigungsministeriums, Vertreter*innen von Bürgerinitiativen, Wissenschaftler*innen und Expert*innen zusammen. Dabei ist festgelegt, dass Letztere mehr als die Hälfte aller Mitglieder ausmachen müssen. In Südkorea ist der Alternativdienst noch immer dem militärischen Bereich – und nicht dem zivilen Bereich – untergeordnet. Ich komme daher nicht umhin, von einer Militarisierung des Alternativdiensts zu sprechen.
Bei seiner Einführung war der Alternativdienst selbst den Koreaner*innen unbekannt. Zu diesem Zeitpunkt stieß ich in einem Gespräch zwischen Friedensaktivist*innen aus Übersee und koreanischen Aktivist*innen auf eine Überraschung: Als die Regierung zum ersten Mal ankündigte einen Alternativdienst einzurichten, fragten uns Aktivist*innen aus dem Ausland ob wir während des Alternativdiensts zur Arbeit pendeln könnten – wir wussten es nicht. In Südkorea ist das Militärdienstsystem ein System, das mehr auf das Gruppenleben als auf die nationale Verteidigung ausgerichtet ist. Es hieß, das Gruppenleben sei das Wichtigste und so zwingt das Systen die Menschen zum Zusammenleben und untersagt das Pendeln zur Arbeitsstelle.
Eine weitere Frage, die mir in diesem Gespräch gestellt wurde bezog sich auf das Tragen von Uniformen. Wir dachten lange, dass Alternativdienstleistende, wenn ihre Arbeitskraft schon ausgenutzt wird, auch bekleidet und ernährt werden sollten. Aber bei genauerer Überlegung wurde uns klar, dass es keinen Grund gibt, Alternativdienstleistende in Uniformen zu stecken. Sie sind nicht beim Militär, es gibt keine Notwendigkeit, Uniformen zu tragen oder Gruppenregeln zu befolgen. In dieser Hinsicht halte ich das Problem der Militarisierung des Alternativdienst für sehr ernst und fordere Reformen. Nebenbei bemerkt fand ich heraus, dass das Bausoldat*innensystem der DDR eine sehr ähnliche Ideologie verfolgte wie der koreanische Alternativdienst. Das Bausoldat*innensystem war ein Alternativdienstsystem, das in Ostdeutschland für die Zeug*innen Jehovas und religiöse Menschen geschaffen wurde. Bausoldat*innen durften ihren Arbeitsplatz nicht verlassen und nur mit Erlaubnis für eine bestimmte Zeit fernbleiben (was bei Regelverstößen eingeschränkt wurde). Wenn man allerdingst bedenkt, dass die Militärdienstzeit in der DDR 1 Jahr und 6 Monate betrug und das damalige Bausoldat*innensystem ebenfalls 1 Jahr und 6 Monate betrug – also gleichlang war – sieht man wie ernst die Situation des südkoreanischen Alternativdienstsystems ist.
Viele Aktivist*innen und Menschen der Zivilgesellschaft versuchten den Aspekt der Länge des Alternativdienstsystems im Gesetzgebungsprozess zu, aber sie wurden enttäuscht. Sie haben auch versucht, die Verpflichtung einzuführen, während der Musterung über die Möglichkeit des Alternativdiensts aufzuklären – aber das wurde abgelehnt. Daher wissen die meisten Menschen noch immer nicht, was der Alternativdienst ist und wer sich für einen Alternativdienst entscheiden kann. Ihr Recht auf diese Informationen ist beschnitten, wenn sie davon ausgehen, dass „nur bestimmte religiöse Menschen dorthin gehen”. Man kann dhaer behaupten, Südkorea zwingt die Menschen, keinen Alternativdienst leisten zu können.
Darüber hinaus gibt es im derzeitigen südkoreanischen Militärdienstsystem kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung für aktive Soldat*innen. Innerhalb des Militärs gibt es ein Kommittee zur Prüfung von Kriegsdienstverweiger*innen und wenn dieses Kommittee eine positive Entscheidung trifft, können aktive Soldat*innen entlassen werden oder als Nichtkombattant*innen dienen.
Desweiteren gibt es ein selektives Dienstsystem. In den Vereinigten Staaten müssen sich alle Erwachsenen mit männlichen Passeintrag registrieren lassen. Verweiger*innen werden bei ihrer Erstregistrierung als 1-O eingestuft, sodass sie in Kriegszeiten zwar von der Militärdienstpflicht befreit sind, sich aber für den Alternativdienst bewerben müssen. Bei einer Einberufung zum US-Militär muss angekreuzt werden: „Ich bin kein*e Kriegsdienstverweiger*in und werde dem Militär treu dienen." Selbst wenn diese Aussage bejaht wird, gibt es die Möglichkeit später über das Conscientious Objector Review Board (CORB) Maßnahmen zu ergreifen, um entlassen zu werden. In Südkorea gibt es dieses System nicht. Wenn ein*e aktive Soldat*in den Dienst verweigert, wird er*sie bestraft oder nach Ermessen des*der Befehlshaber*in als untauglich für den aktiven Dienst eingestuft. Kriegsdienstverweigerungen während des aktiven Diensts sind auch in Norwegen, Dänemark und Deutschland erlaubt. Es gibt zudem viele Staaten, in denen ein Alternativdienst für Reservist*innen möglich ist. In vielen Fällen gibt es keine Einschränkungen für die Beantragung des Alternativdiensts, in anderen Fällen muss man sich bis zu zwei Monate vor der Einberufung darauf bewerben. Es gibt auch Fälle wie in Serbien, wo man während des ersten Drittels des Militärdiensts einen Antrag auf Alternativdienst stellen kann, wenn man der Meinung ist, der Militärdienst entspreche nicht mehr der eigenen Überzeugung.
Ein letzter Punkt ist die Länge des Alternativdiensts in Südkorea. Wie ich bereits erwähnt habe, betrugen sowohl die Militärdienstzeit als auch der Bausoldat*innendient in der DDR ein Jahr und 6 Monate. Nur Südkorea wurde die Alternativdienstzeit auf 36 Monate festgelegt. Es ist unklar, warum die Dienstzeit doppelt so lang sein muss.
Seit der Einführung des Militärdienstgesetzes im Jahr 1949 hat Südkorea nie klar darüber diskutiert, wie lange Soldat*innen dienen sollen, wie hoch ihr Sold sein muss und wie groß das koreanische Militär sein soll. Es gibt keine Norm, an der man sich orientieren könnte. Wie ich bereits erwähnt habe, ist in den meisten Staaten die Dauer des Alternativdiensts ähnlich lang wie die des aktiven Militärdiensts.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das derzeitige koreanische Alternativdienstsystem und der Ausschuss zur Überprüfung des Alternativdiensts unabhängige vom Verteidigungsministerium und der Militärverwaltung sein sollten. Außerdem muss die Militarisierung des Alternativdiensts gestoppt werden, damit er in einen echten Alternativdienst umgewandelt werden kann. Die Regierung muss die Menschen bei der Musterung über den Alternativdienst informieren und wie dieser beantragt werden kann. Ich bin der Meinung, dass der Alternativdienst auch für aktive Soldat*innen möglich sein sollte und dass die Dienstzeit verkürzt werden muss, damit das System seinem ursprünglichen Zweck gerecht wird. Ich danke Euch!
Ahn Akhee ist Mitglied des Verwaltungsausschusses von World Without War.
World Without War, www.withoutwar.org
Ahn Akhee: Südkoreas Alternativdienstsystem im internationalen Vergleich. Redebeitrag auf der Internationalen Konferenz „Kriegsdienstverweigerung in Asien - Analysen und Perspektiven“, 18. November 2023 in Seoul, Südkorea.
Stichworte: ⇒ Ersatzdienst ⇒ International ⇒ Kriegsdienstverweigerung ⇒ Südkorea