Türkei - Endlose Verfolgung der Kriegsdienstverweiger*innen

von Merve Arkun

(19.11.2023) Bevor ich mit meinem Vortrag beginne, möchte ich all unseren Freund*innen von World Without War für die Organisation dieser inspirierenden Konferenz danken. Ich bin zum ersten Mal in Seoul und es ist wirklich toll, diese interessanten Erfahrungen aus der ganzen Welt zu hören.

Heute spreche ich über die Situation in der Türkei in Bezug auf die Militärdienstpflicht und die aktuelle Situation der Kriegsdienstverweiger*innen.

Geschichte der Kriegsdienstverweigerung

Im Jahr 1989 erklärten Tayfun Gönül und Vedat Zencir ihre Kriegsdienstverweigerung. Sie waren die ersten, die das in der Türkei taten. Nach ihren Erklärungen wurde in der Stadt Izmir die erste antimilitaristische Organisation in der Türkei gegründet, die İzmir Savaş Karşıtları Derneği. Dies war die erste Vereinigung, die sich mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung und Antimilitarismus in der Türkei befasste. Und 1993 fand das Internationales Treffen zur Kriegsdienstverweigerung (ICOM) in der Türkei statt. 100 Personen aus etwa 25 Ländern kamen nach Ören. Einige der Teilnehmenden sind heute auch hier bei uns.

Im Jahr 2004 haben Frauen damit begonnen, ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären. In der Türkei sind Frauen nicht zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet, aber sie verweigern den Militarismus aus feministischen Motiven.

Im Jahr 2009 wurde eine Plattform namens Barış İçin Vicdani Ret Platformu gegründet. Dies war eine sehr gute Erfahrung für uns, weil die Plattform zusammen mit kurdischen Kriegsdienstverweiger*innen organisiert wurde. Wegen des Krieges zwischen dem kurdischen Volk und der türkischen Armee ist dies immer noch ein sehr problematisches Thema in der Türkei. Im Jahr 2011 wurde dann Kürt Vicdani Ret Hareketi gegründet. Es handelte sich um eine selbstorganisierte Gruppe, die sich hauptsächlich mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung befasste.

Im Jahr 2013 gründeten wir einen Verein mit dem Namen Vicdani Ret Derneği (VR-DER). Bis 2022 arbeiteten wir als Verein, aber mussten ihn dann aufgrund von Sicherheitsbedenken und formalen Einschränkungen schließen. Gegen einige unserer Mitglieder liefen Strafverfahren und Ermittlungen. Jetzt arbeiten unsere aktiven Mitglieder als nicht registrierte Organisation namens Vicdani Ret İzleme/Conscientious Objection Watch (COW) weiter.

Nach den Daten auf unserer Website gibt es fast 600 Kriegsdienstverweiger*innen, die zwischen 1989 und 2022 ihre Verweigerung erklärt haben. Wir glauben aber, dass diese Zahl viel höher ist, weil sich einige Menschen nicht sicher genug fühlen, um ihre Verweigerung öffentlich zu erklären.

Zur Militärdienstpflicht in der Türkei

Die Türkei ist der einzige Mitgliedsstaat des Europarates, der das Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch nicht anerkannt hat. In der Türkei gibt es eine unbefristete Militärdienstpflicht für alle Männer, auch wenn nach dem Gesetz nur Männer im Alter zwischen 20 und 41 Jahren zum Militärdienst verpflichtet sind. Es gibt auch weder einen Mechanismus, den Kriegsdienstverweiger*innen in Anspruch nehmen können, noch gibt es einen Alternativdienst. Aufgrund der fehlenden Gesetzgebung sind Kriegsdienstverweiger*innen regelmäßig mit Einschränkungen und Menschenrechtsverletzungen konfrontiert, die sich auf ihr tägliches Leben auswirken und sie dem „Zivilen Tod“ aussetzen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat. Es ist also eine sehr problematische Situation für sie.

Da die Regierung Kriegsdienstverweiger*innen, Militärdienstentziehende und Deserteur*innen nach dem Militärrecht kriminalisiert, müssen sie mit Geldstrafen, Strafverfahren und wiederholten Urteilen rechnen. Militärdienstentziehende sind gezwungen, ein Leben zu führen, in dem ihnen ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte vorenthalten werden. Ihnen wird das Recht auf Arbeit (mit Sozialversicherung) entzogen; ihr Recht auf Freizügigkeit wird durch häufige Kontrollen eingeschränkt; ihr Zugang zu höherer Bildung wird eingeschränkt; ihre Bankkonten werden aufgrund administrativer und gerichtlicher Geldstrafen beschlagnahmt.

Nach dem Militärdienstgesetz werden Militärdienstentziehende und Deserteur*innen dem Innenministerium gemeldet, um sicherzustellen, dass sie zur Ableistung ihres Militärdienstes vorgeladen werden. Sobald sie aufgegriffen werden, werden sie zur nächsten Militärdienststelle gebracht, um die notwendigen Schritte für den Militärdienst einzuleiten und ihnen ein offizielles Papier (talimat) auszuhändigen. Mit dem talimat wird jede Person aufgefordert, sich innerhalb von 15 Tagen bei der nächstgelegenen Militärdienststelle zu melden.

Bei der amtlichen Erfassung von Militärdienstentziehenden werden zunächst Geldstrafen verhängt. Die Höhe der Geldstrafe hängt von der Dauer der Entziehung oder Desertion ab. Es gibt also keinen festgelegten Betrag. Nach Abschluss des Bußgeldverfahrens und erneuter Aufforderung werden sie mit einem Strafverfahren konfrontiert. Für Verweiger*innen ist dies ein sich wiederholender endloser Prozess, denn es droht ihnen nach jeder Identitätskontrolle ein neues Bußgeldverfahren und ein Strafverfahren, sobald das Bußgeldverfahren abgeschlossen ist. Mit anderen Worten: Gegen Kriegsdienstverweiger*innen können eine unbegrenzte Anzahl von Strafverfahren eingeleitet werden und es können endlos viele Urteile ergehen.

Noch ein Detail: Die Ersatzzahlung für den Militärdienst. In der Türkei gibt es die Möglichkeit, die Dauer des Militärdienstes zu verkürzen, die sogenannte Ersatzzahlung für den Militärdienst (bedelli askerlik). Im Jahr 2019 hat die Regierung diese Möglichkeit dauerhaft eingeführt. Für Kriegsdienstverweiger*innen ist dies jedoch keine Option, da sie dann noch einen Monat militärische Grundausbildung absolvieren müssten. Zudem müssten sie Uniformen tragen und lernen, wie man tötet. Die Regierung jedoch sieht dies als eine Option für Menschen an, die nicht in der Armee dienen wollen. In Zeiten von Krieg und Mobilisierung kann die Option der Ersatzzahlung nicht beantragt werden.

Ich möchte einige Beispiele für Einschränkungen und Menschenrechtsverletzungen nennen, denen Kriegsdienstverweiger*innen heute ausgesetzt sind. Wie ich bereits erwähnt habe, sind sie gezwungen, ein Leben zu führen, in dem sie ihres sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens beraubt werden. Sobald eine Person ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt hat, gibt sie dies normalerweise öffentlich als eine Art Protest bekannt. Dann beginnen Verwaltungs- und Strafverfahren. Zudem unterliegen sie Einschränkungen z.B. bei der Teilnahme an Wahlen und der Fortsetzung ihrer Hochschulausbildung.

Ich möchte zwei Beispiele solcher Einschränkungen beleuchten: Das erste Beispiel ist die Verletzung des Rechts auf Arbeit. Nach dem Gesetz über den Militärdienst in der Türkei dürfen Militärdienstentziehende weder im öffentlichen noch im privaten Sektor beschäftigt werden. Arbeitgeber*innen, die dies dennoch tun, werden strafrechtlich verfolgt. Diese Bestimmung gilt sowohl für den gesamten privaten als auch für den öffentlichen Sektor. Kriegsdienstverweiger*innen müssen also unter nicht registrierten Bedingungen arbeiten, oft ohne soziale Absicherung. Und wir wissen von Menschen, die bereits angestellt waren und deswegen entlassen wurden.

Das zweite Beispiel: Freizügigkeit. In der Türkei gibt es eine Praxis, die als „General Information Collection“ (GBT) bekannt ist, eine Art regelmäßiger Identitätskontrollen, die jeden Tag auf der Straße stattfinden. Die Behörden haben Zugang zu aktuellen Informationen über den militärischen Status und Strafregister von Bürger*innen. So kontrolliert die Polizei häufig in den Stadtzentren und die Gendarmerie in Gebieten außerhalb der Stadtzentren. Über Personen, die als Militärdienstentziehende oder Deserteur*innen auf der Straße oder in einem Hotel oder einer ähnlichen Unterkunft angetroffen werden, wird ein Protokoll angefertigt. In einem ersten Schritt werden Verweiger*innen mit dem bereits erwähnten talimat konfrontiert und müssen ein Bußgeld zahlen, dem dann ein Strafverfahren folgt. Kriegsdienstverweiger*innen werden nahezu jedes Mal, wenn sie mit der Polizei oder der Gendarmerie zu tun haben, diesem Verfahren unterzogen. Um das zu vermeiden, verzichten Kriegsdienstverweiger*innen oft auf Reisen oder Aufenthalte in Hotels.

Nach den uns vorliegenden Daten sind diese beiden Kategorien – die Einschränkung der Freizügigkeit und die Verletzung des Rechts auf Arbeit – die häufigsten Einschränkungen und Verletzungen, mit denen Verweiger*innen in der Türkei heute konfrontiert sind. Diese beiden Kategorien wirken sich direkt auf das soziale und wirtschaftliche Leben von Kriegsdienstverweiger*innen aus und vervielfachen die Auswirkungen des zivilen Todes auf ihr Leben.

Vicdani Ret İzleme

Nun einige Informationen über unsere Organisation Conscientious Objection Watch. Wir arbeiten daran, die Verletzungen sichtbar zu machen, denen Kriegsdienstverweiger*innen in der Türkei ausgesetzt sind, und konzentrieren uns auf die Dokumentation, Überwachung und Berichterstattung auf nationaler und internationaler Ebene sowie auf rechtliche Unterstützung. Wir sensibilisieren die Öffentlichkeit für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und betreiben Lobbyarbeit bei nationalen und internationalen Menschenrechtsgremien. Conscientious Objection Watch ist derzeit die einzige Organisation, die sich mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung in der Türkei beschäftigt. Wir stehen in engem Kontakt mit anderen Menschenrechtsvereinigungen, die sich mit Menschenrechtsfragen oder Gewaltlosigkeit befassen.

Wir veröffentlichen regelmäßig alle drei Monate Bulletins in türkischer und englischer Sprache. In diesen Bulletins beschreiben Fälle von Verweiger*innen und die rechtlichen Verfahren und Einschränkungen oder Verstöße, denen sie ausgesetzt sind. Auf diese Weise können wir zuverlässige und aktuelle Informationen an die Öffentlichkeit und die Medien weitergeben. Wir nutzen unsere Konten in den sozialen Medien und unsere Websites, um die Öffentlichkeit in der Türkei für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu sensibilisieren.

Wir haben auch juristische Expert*innen, die sich mit diesem Thema befassen. Wir bieten Kriegsdienstverweiger*innen rechtliche Unterstützung an, um sie in den Gerichtsverfahren zu stärken.

Unsere Lobbyarbeit richtet sich an den Europarat, das Ministerkomitee des Europarates, das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Unsere Organisation ist Mitglied des European Bureau for Conscientious Objetion (EBCO) und ist mit verschiedenen anderen Organisationen verbunden.

Zum Schluss möchte ich noch hinzufügen, dass sich die türkische Regierung weiterhin weigert, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen. Die Einschränkungen und Rechtsverletzungen, denen die Betroffenen ausgesetzt sind, nehmen von Tag zu Tag zu. In der Praxis sind viele Menschen – die meisten von ihnen Kriegsdienstverweiger*innen – ihr ganzes Leben lang mit sehr problematischen Prozessen konfrontiert. Wir versuchen etwas gegen diese Situation zu unternehmen.

Aufgrund der Situation haben wir auch zunehmend Anfragen von Personen, die erwägen, ihr Heimatland zu verlassen und ins Ausland zu gehen. Kriegsdienstverweiger*innen wenden sich an uns, um Informationen über das Verlassen des Landes und die Suche nach Asyl in europäischen Ländern zu erhalten. Im vergangenen Januar erhielt ein kurdischer Kriegsdienstverweiger mit Unterstützung unserer Organisation und unseres internationalen Netzwerks den Flüchtlingsstatus in Frankreich.

Ich danke Euch!

Merve Arkun ist Kriegsdienstverweigerin aus der Türkei und setzt sich seit vielen Jahren für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei ein.

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Deutschsprachige Seiten von Vicdani Ret İzleme. https://de.Connection-eV.org/KDV_Tuerkei

Merve Arkun: Endlose Verfolgung von Kriegsdienstverweiger*innen in der Türkei. Redebeitrag auf der Internationalen Konferenz „Kriegsdienstverweigerung in Asien - Analysen und Perspektiven“, 19. November 2023 in Seoul, Südkorea. Der Beitrag wurde veröffentlicht in der Broschüre „Internationale Konferenz Kriegsdienstverweigerung in Asien“, Herausgegeben von Connection e.V. in Kooperation mit World Without War und War Resisters International, März 2024

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