Ukraine: Drückeberger aller Länder, vereinigt euch!
Ein Bericht der Gruppe Assembleia aus Charkow
(15.05.2024) Liebe Freund*innen von Olga Taratuta,
anlässlich des Internationalen Tags der Kriegsdienstverweigerung richten wir uns mit dieser Nachricht an Sie. Die Initiative Olga Taratura ist eine Initiative zur Solidarität mit Deserteur*innen, Verweiger*innen und Geflüchteten aus Russland, der Ukraine und Belarus und sind nach Olga Taratuta benannt.
Seit mehr als zwei Jahren – seitdem die Armee der Russischen Föderation einen offenen Krieg mit der Ukraine begonnen hat – versuchen Stimmen gegen den Krieg auf beiden Seiten der Frontlinie gehört zu werden, dem Waffenlärm zum Trotz.
Wir versuchen mit unseren geringen Mitteln und mit Ihrer wertvollen Hilfe diesen abweichenden Stimmen Gehör zu verschaffen.
Wir haben einen Text unserer Mitstreiter*innen der Gruppe Assembleia aus Charkow über die Bewegung der „Drückeberger“ in der Ukraine übersetzt. Jener jungen Leute, die sich weigern, sich für das Vaterland und die Oligarch*innen zu opfern. Der Text „Drückeberger aller Länder, vereinigt euch!“ ist hier online verfügbar: https://nowar.solidarite.online/blog/esquiveurs-de-tous-les-pays-unissez-vous
Die Bewegung der „Drückeberger“ gibt es auch in Russland, aus denselben Gründen, mit denselben Mitteln und demselben Einfallsreichtum. Wir werden diesem Thema einen eigenen Beitrag widmen. Wir verwenden übrigens einen erheblichen Teil unserer aktivistischen Ressourcen darauf, russische Deserteur*innen zu begleiten, die nach Frankreich geflohen sind und hier politisches Asyl beantragt haben. Die Behördengänge sind langwierig und mühsam, aber dank des Solidaritätsnetzwerks ist die Moral unserer jungen Schützlinge gut.
Krieg den Palästen, Frieden den Hütten!
Olga Taratuta
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„Drückeberger“ aller Länder, vereinigt euch!
Im Vorfeld des bevorstehenden Internationalen Tages der Solidarität mit Kriegsdienstverweiger*innen, der jedes Jahr am 15. Mai begangen wird, haben uns ukrainische Anarchist*innen der Gruppe Assambleia aus Charkow und andere Kamerad*innen eine Auswahl an Berichten geschickt, wie die ukrainische Bevölkerung auf das neue Mobilisierungsgesetz reagiert welches kürzlich vom Parlament verabschiedet wurde.
Diesen Berichten nach zu urteilen, wächst die Empörung über die Mobilisierung. Die Menschen stimmen „zunehmend mit den Füßen ab“. Männer versuchen mit allen Mitteln, die Ukraine zu verlassen.
So gelang es beispielsweise Borys Laboyko aus Berehovo, den Grenzbeamt*innen am Kontrollpunkt Astey zu entkommen und nach Ungarn zu flüchten. Als er versuchte, die ukrainisch-ungarische Grenze zu überqueren, wurde der Mann zunächst zum Verwaltungsgebäude des Kontrollpunkts gebracht, um seine Dokumente zu überprüfen, doch dort begann er zu rennen. Unterwegs holten ihn die Grenzbeamt*innen ein und warfen ihn zu Boden, doch er entkam erneut und durchquerte den Kontrollposten auf der ungarischen Seite. Diesen durften die ukrainische Grenzbeamt*innen nicht betreten.
Dies ist nicht der einzige Fall. Online wurde ein Video verbreitet, das einen Mann zeigt, der über die Grenze nach Moldawien flieht. Zuvor hatten Ukrainer*innen auf der Straße in der Nähe des Dorfes Mayaki bei Odessa, nahe der moldauischen Grenze, ihre Privatfahrzeuge am Straßenrand zurückgelassen und waren in das Nachbarland geflohen.
Manchmal kam es auch zu schwierigen Zwischenfällen. Am 3. Mai blockierte in der Stadt Vinogradov (Transkarpatien) eine Gruppe von Bewohnern des Dorfes Onok (Bezirk Berehiv) die Ausfahrt des örtlichen T-TsK [1]. Sie erklärten, dass die Militärkommissar*innen zwei ihrer Mitbürger*innen aus dem Dorf mobilisieren wollten. Als Zeichen des Protests brachten sie TCC-Reifen und Autowracks vor das Gebäude des Rekrutierungszentrums. Während des Gedränges waren Schüsse zu hören. Den Demonstrant*innen drohen bis zu sieben Jahre Haft.
In Zaporozhye begaben sich die Einwohner*innen zum Gebäude des örtlichen Rekrutierungszentrums und forderten die Freilassung von Evgeniy Butenko. Aktivist*innen zufolge war Butenko am 3. Mai in seinem Haus von der Polizei festgenommen worden. Die Polizei erklärte, „dass er gesucht werde“. Den Demonstrant*innen zufolge hatte der Festgenommene jedoch weder ein Fahndungsdokument erhalten noch wurde ihm ein Anwalt zur Seite gestellt. Butenkos Ehefrau, die zum Zeitpunkt der Kundgebung mit einem kleinen Kind zu Hause war, sprach zu den zur Anwohner*innen, die sich versammelt hatten, um die Familie zu unterstützen. Das Gespräch zwischen den Anwohner*innen und der Frau wurde auf Video aufgezeichnet. Die Polizei umstellte das Gebäude des Rekrutierungszentrums, um die Menschen daran zu hindern, es zu betreten. Daraufhin erklärten die Polizei und die Angestellten des Zentrums, dass sie „Evgeniy Butenko nicht festgenommen hätten“. Es war nicht möglich, den Aufenthaltsort von Evgeniy Butenko zu ermitteln, obwohl er Kontakt aufgenommen hatte.
Diejenigen, die gezwungen sind im Land zu bleiben, entscheiden sich häufig dafür, sich in einer sozialen „Grauzone“ niederzulassen. Sie vermeiden jeden Kontakt mit dem Staat, um nicht eingezogen zu werden. Das Phänomen der „Gleichmacher“ („ukhyliant“ auf Ukrainisch [2]) entwickelt sich zu einem gesellschaftlichen Trend. In den sozialen Netzwerken kursieren äußerst populäre Videos, in denen ukrainische Einwohner*innen erklären, wie man den Militärdienst vermeiden kann und wie sie es tun. Sehr beliebt sind T-Shirts mit der Aufschrift „Dodge“ („ausweichen“ auf Deutsch).
„Etwa 650.000 Männer im militärdienstpflichtigen Alter haben das Land bereits verlassen, die meisten von ihnen irregulär“, schreibt die italienische Zeitung Politico. „Vor zwei Jahren waren die Züge, die Kiew in Richtung Europa verließen, fast ausschließlich mit Frauen, Kindern und älteren Menschen gefüllt, die um Asyl baten. In dieser Woche war etwa ein Drittel der Passagiere Männer im militärdienstpflichtigen Alter.“
Selbst in Militärkreisen ist man über das Phänomen der „Drückeberger“ ernsthaft alarmiert. „Sie bleiben eine Weile ruhig. Alles wird sich ohne Sie regeln, alles wird gut“, war zunächst die Annahme. „Das war der erste Schritt bis zu dem Punkt, an dem alles ans Licht kam und die Konsolidierung der Drückeberger zu funktionieren begann, weil diese Leute sich gegenseitig unterstützen. Es ist in gewisser Weise ihre Wahl – eine Wahl für ihre Freiheit“, gab das ukrainische Militärfernsehen „Army TV“ kürzlich zu.
Die anarchistische Gruppe Assembleia aus Charkow veröffentlichte auf ihrer Website ein Interview mit einer*m Vertreter*in des offenen Telegrammkanals der Gruppe „Escape“ über Selbstorganisation und kostenlose gegenseitige Hilfe in der äußerst gefährlichen Frage der Flucht aus einem Land, wo Menschen auf der Straße aufgegriffen werden, um sie zum Sterben für die Interessen des Staates und des Kapitals loszuschicken. Dies ist ein Ausschnitt des Interviews:
„Die Gruppe besteht seit über eineinhalb Jahren [...]. Wir haben sowohl ein Textformat, das in mehrere Threads unterteilt ist und die verschiedenen Aspekte des Flüchtens abdecken, als auch einen Voice-Chat. Darüber hinaus gibt es einen YouTube-Kanal mit Interviews. Es gibt eine etablierte Basis an Erfahrungen, auf die man sich beim Reisen stützen kann.“
Das Hauptziel der Gruppe besteht darin, unter extremen Bedingungen Leben zu retten. Bereiten Sie diese Menschen auf die extremen Bedingungen vor, in die sie geraten könnten?
„Wir haben im letzten Monat einen starken Anstieg des Zustroms von Menschen festgestellt. Es gibt viele neue Personen [die unsere Unterstützung anfragen], sowohl im Textformat als auch im Sprachformat. Die Struktur ist einfach. Es gibt Administrator*innen, welche die Arbeitsgruppe beaufsichtigen. Sie achten auf die Ordnung, die Einhaltung der Gruppenregeln, usw. Ein*e Administrator*in kümmert sich um die Interviews mit den erfolgreichen Drückebergern, ein*e andere*r um den YouTube-Kanal. Ein*e Administrator*in beaufsichtigt die Platform „Ukhilant FM“.
Selbstverständlich versuchen wir Erfahrungen, Eindrücke und andere Informationen über die Reise derjenigen zu teilen, die gegangen sind. Sie sind im gleichen Sprach- oder Textformat (unter bestimmten Regeln) zu teilen.
Es gibt einige, die das Projekt nach ihrer Reise verlassen – und andere, die bleiben und weiterhin Informationen austauschen. Es gibt Leute wie mich, die sich an der Moderation und der Entwicklung des Projekts beteiligen. Alle Menschen sind unterschiedlich.“
Die Situation ändert sich jeden Tag. Immer mehr Hindernisse tauchen auf in Form von Straßensperren, Kontrollen an Bahnhöfen und vielem mehr.
„Das Wichtigste, was Sie mitbringen müssen, sind Ihr Gehirn und Ihr Einfallsreichtum. Ohne diese beiden Elemente sinkt die Erfolgsquote der Reise erheblich. Die Ortung per Telefon ist ein Mythos. Der Flugzeugmodus reicht aus. Idealerweise sollte man jeden Busch kennen. Aber das ist nicht der Fall ... Nach meiner persönlichen Erfahrung reicht Google Maps aus.“
Ein*e Vertreter*in des Senders erklärte, dass die Gruppe über einen Fonds verfügt, um ihre Mitglieder zu unterstützen. „Er wurde erst vor einem halben Monat ins Leben gerufen. Einige haben nicht genug Geld, um eine Fahrkarte zu kaufen, andere haben nicht genug Geld für bestimmte Ausrüstungsgegenstände. Der Fonds ist für Notsituationen gedacht, die ein sofortiges Eingreifen erfordern. Es ist kostenlos. Aber es ist nicht einfach, Hilfe zu bekommen. Man muss mehrere Überprüfungsschritte durchlaufen, um den Bedarf an Hilfe zu bestätigen.“
Die Initiative Olga Taratuta unterstützt Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen unabhängig von ihrer Nationalität. Wir kümmern uns derzeit hauptsächlich um junge Russ*innen, die vor der Mobilmachung geflohen sind und in Frankreich Asyl suchen. Ihre Fälle werden noch bearbeitet. Der französische Staat sagt, dass er die Niederlage der russischen Armee anstrebe. Doch es scheint ihm leichter zu fallen, Waffen zu liefern mit denen russische Soldat*innen quasi von der Front „abgezogen“ werden als denselben Soldat*innen, die sich freiwillig von der Front zurückziehen, den Flüchtlingsstatus zu gewähren ... Die Profite der Kanonenhändler zählen offensichtlich mehr als Menschenleben ...
Kontaktadresse der Solidaritätsinitiative Olga Taratuta: contact@solidarite.online oder per Post an: Olga Taratura, c/o CNT-AIT, 7 rue ST Rémésy, 31000 Toulouse. Website: http://nowar.solidarite.online/blog
[1] Die territorialen Zentren für Rekrutierung und soziale Unterstützung sind Organe der Militärverwaltung, die für die Anwendung der Gesetze über die patriotische Pflicht und den Militärdienst, die Mobilisierung und die Ausbildung der Mobilisierten sorgen.
[2] Diese Ausweichbewegung gibt es auch in Russland https://nowar.solidarite.online/blog/les-autorit%C3%A9s-de-la-russie-et-de-lukraine-tentent-de-brise...
Olga Taratuta, eMail vom 15. Mai 2024. Übersetzung aus dem Französischen: mf
Stichworte: ⇒ Desertion ⇒ Militärdienstentziehung ⇒ Rekrutierung