Nordzypern: Wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Fall des Reservisten und Kriegsdienstverweigerers Murat Kanatlı v Türkiye
(03.05.2024) Das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), War Resisters’ International (WRI), der Internationale Versöhnungsbund (IFOR) und Connection e.V. begrüßen das am 12. März 2024 ergangene wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Kanatlı v Türkiye (application no. 18382/15). Murat Kanatlı ist Vorstandsmitglied von ECBO und Co-Koordinator der Initiative für Kriegsdienstverweigerung in Zypern.
Der Gerichtshof entschied einstimmig (einschließlich des türkischen Richters), dass die Inhaftierung von Murat Kanatlı im Jahr 2009 wegen seiner Weigerung, aus Gewissensgründen seinen eintägigen Reservedienst in den Streitkräften der selbsternannten "Türkischen Republik Nordzypern (TRNC)" zu leisten, eine Verletzung von Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt. Im Einklang mit der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs wurde erklärt, dass die "Türkische Republik Nordzypern" für die Zwecke der Konvention in den Zuständigkeitsbereich der Türkei selbst fällt. Der Gerichtshof stellte weiterhin fest, dass das Militärdienstgesetz der "TRNC" - das die Militärdienstpflicht in den Streitkräften, auch als Reservist, vorsah - keine Bestimmungen für Kriegsdienstverweiger*innen enthielt, die eine alternative Form des Dienstes leisten wollten. Es wurde festgestellt, dass Murat Kanatlı 2008 seine Kriegsdienstverweigerung erklärt hatte und 2009 in den Vorstand von EBCO gewählt worden war. Das Urteil ist von besonderer Bedeutung, da damit das erste Mal ein internationales Urteil in einem Einzelfall ausdrücklich bestätigt, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für den Reservedienst ebenso gilt wie für die erstmalige Einberufung.
Es sei darauf hingewiesen, dass derzeit zwei ähnliche Fälle im Zusammenhang mit dem Reservedienst in der "TRNC" vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig sind - die Fälle von Haluk Selam Tufanlı (Antrag Nr. 29367/15), der eine Verletzung von Artikel 5 Absätze 1, 4 und 5 (Freiheit und Sicherheit der Person), Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und Artikel 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) der Europäischen Menschenrechtskonvention geltend macht, weil er 2011 wegen Verweigerung des Reservedienstes inhaftiert wurde, und Halil Karapaşaoğlu (Antrag Nr. 40627/19), der ebenfalls Verstöße gegen die Artikel 5 und 9 sowie gegen Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) geltend macht, weil er 2018 wegen Verweigerung des Reservedienstes inhaftiert wurde. Es ist zu erwarten, dass der Gerichtshof im Hinblick auf Artikel 9 in beiden Fällen dem Präzedenzfall Kanatlı folgen wird.
Die vier Organisationen fordern die Behörden in "TRNC" auf, unverzüglich das Militärdienstgesetz zu ändern, um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen, auch in Bezug auf den Dienst von Reservisten. Außerdem wird gefordert, das Kanatlı-Urteil umzusetzen. Die Verfolgung von Kriegsdienstverweiger*innen muss umgehend eingestellt werden. Die Verurteilung von Mustafa Hürben (Berufungsanhörung am 17. Mai) ist aufzuheben, er ist für seine Haft zu entschädigen. Weitere Anklagen gegen Halil Karapaşaoğlu (Prozess angesetzt für den 30. Mai) müssen fallen gelassen werden.
Weitere Informationen:
Derek Brett, EBCO-Chefredakteur, derekubrett@gmail.com, +41 77 444 4420.
Halil Karapaşaoğlu (halilkarapasaoglu@gmail.com) & Murat Kanatlı (muratkanatli@gmail.com), Initiative für Kriegsdienstverweigerung in Zypern (Kıbrıs’ta vicdani ret).
Europäisches Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), War Resisters’ International (WRI), Internationaler Versöhnungsbund (IFOR) und Connection e.V., 3. Mai 2024
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