"Mein Exil prangert die Schrecken des belarussischen Regimes an"
Interview mit Olga Karatch
(29.04.2024) Olga Karatch ist eine belarussische Aktivistin, Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Menschenrechtsorganisation „Unser Haus“ (Nash Dom), die 2002 als selbstfinanzierte Zeitung gegründet wurde. Die 45-jährige Kandidatin für den Friedensnobelpreis ist im Netzwerk der Menschen- und Bürgerrechte aktiv, das in ihrem Land vom Lukaschenko-Regime unterdrückt wird. Sie wurde mehrfach inhaftiert und auch gefoltert; auf der KGB-Website wird ihr Name auf der Liste der Terroristen veröffentlicht. Heute lebt sie im Exil in Vilnius, Litauen, von wo aus sie ihre wichtige gewaltfreie Arbeit fortsetzt. Ende April hat die litauische Migrationsbehörde ein Verfahren zur Auslieferung ihres Ehemanns, des Journalisten Oleg Borshevsky, an Belarus eingeleitet. 2019 hat Olga Karatch den Internationalen Bremer Friedenspreis erhalten.
Ihr Leben wurde durch ihr Engagement im Namen des Friedens erschüttert. Wie viel Mut braucht es in Belarus und in der heutigen Gesellschaft allgemein, um Gewaltfreiheit öffentlich zu vertreten?
Ja, heute braucht man eine besondere Art von Mut, um über Frieden zu sprechen, unabhängig von der Art des militärischen Konflikts. Die Gesellschaft ist polarisiert und radikalisiert. Sobald man etwas über Frieden sagt, wird man verfolgt, der schlimmsten Verbrechen verdächtigt und die Folgen sind nicht harmlos. Das Erstaunlichste ist, dass dies nicht nur in den baltischen Ländern geschieht, die sich inzwischen stark der extremen Rechten zuneigen, sondern auch in westeuropäischen Ländern. Wir sehen, welch heftige Angriffe heute zum Beispiel gegen die katholische Kirche geführt werden, nur weil der Papst gesagt hat, dass Verhandlungen wichtig und notwendig seien. Irgendetwas scheint im europäischen Wertesystem und in den Regeln der Menschenrechte zerbrochen zu sein. Wo ist die Redefreiheit geblieben, auf die alle so stolz waren? Warum ist der politische Dialog zu einem dominanten Standpunkt geworden, während andere Standpunkte von vornherein als falsch abgestempelt werden?
Das Schlimmste ist, dass wir nicht bemerkt haben, wie sich die europäische Kultur innerhalb von zwei Jahren radikal von einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit zu einer Kultur der Gewalt und der Romantisierung des Krieges gewandelt hat. Kinder werden militarisiert, die Gesellschaft spricht in militärischen Begriffen. Politiker versuchen die öffentliche Meinung zu manipulieren und die Situation zu verschärfen. Das Beängstigende ist jedoch, dass viele Menschen dies gut finden. Die Kultur der Gewalt macht die Notwendigkeit von Toleranz, Respekt vor der Vielfalt und allgemein die Akzeptanz dieser Vielfalt zunichte. Es ist ganz normal geworden, Probleme der Demokratie, die mangelnde Achtung der Menschenrechte und Diskriminierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen damit zu rechtfertigen, dass "wir uns im Krieg befinden". Haben wir eine Wirtschaftskrise? Hier kommt die Antwort: "Was erwarten Sie denn? Wir befinden uns im Krieg.“ Gibt es nicht genug Geld für die Grundsicherung? „Was wollt ihr, wir sind im Krieg". Diskriminierung von Flüchtlingen? „Aber wir sind doch im Krieg!“ Und so weiter. Dies ist eine einfache Erklärung und eine einfache Antwort auf alle Fragen, was dazu führt, dass bestehende Probleme nicht gelöst, sondern eingefroren werden.
Die Spannungen in der europäischen Gesellschaft nehmen zu, und ich sehe, dass ohne die aktive Förderung einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit viele Probleme niemals gelöst werden können.
Warum ist es heute für einen Teil der Öffentlichkeit so kompliziert, eine Meinung gegen die Rückkehr des Krieges in Europa zu äußern? Haben Sie den Eindruck, dass Europa sich selbst verleugnet?
Ich denke, die Antwort hat mit vielen Faktoren zu tun. Kommen wir zu dem Argument, dass Europa sich selbst verleugnet. Erstens: Die Gesellschaft hat das Konzept des Krieges über viele Jahre hinweg verharmlost, auch durch verschiedene Computerspiele. Die Romantisierung von Krieg und Gewalt wird durch soziale Netzwerke begünstigt. Ich habe beobachtet, wie zu Beginn des Krieges in der Ukraine viele junge Russen in den Krieg zogen, weil der Krieg in ihren Köpfen „nicht real“ war, sondern etwas Lustiges: Es macht Spaß, wenn man alle umbringt und gewinnt. Es ist wie in einem Film oder als ob alles „fake“ wäre.
Zweitens stellte sich heraus, dass ein großer Teil der Gesellschaft (nicht nur die russische, sondern auch die ukrainische und die europäische im Allgemeinen) kämpfen will. Sie mögen den Krieg, weil er alles sehr trivial macht, ohne Tiefe oder Bewusstsein. In der militärischen Logik hat derjenige Recht, der stärker ist; wer mehr Waffen hat, hat Recht. Der Krieg bringt uns zurück zu jenen patriarchalischen und archetypischen Einstellungen, gegen die insbesondere Frauen, aber auch LGBTQ+-Gruppen so lange und so tapfer gekämpft haben. Stattdessen ist im Krieg alles schematisch, abgegrenzt, ohne Nuancen. Die Romantisierung des Krieges läuft nach folgendem Muster ab: Ein Mann kämpft mit einer Waffe in der Hand, eine Frau inspiriert ihn zum Krieg. Mann und Frau werden definiert und abgegrenzt. Vereinfacht und auf reine Gewalt reduziert. Für viele ist der Krieg eine Erleichterung, denn man wird zu jemandem in einer bestimmten Rolle mit bestimmten Funktionen, man muss sich nicht entscheiden, man muss nicht wählen, alles ist schon festgelegt. Man wird nicht zu einer Person, sondern zu einer Rolle, und man hat keine Wahlfreiheit. Aber anscheinend ist Wahlfreiheit eine schwere Last und die Gesellschaft ist ihrer überdrüssig. Der Krieg nimmt diese Wahlfreiheit weg, und viele Menschen sind erleichtert. Um also auf Ihre Frage zu Europa zurückzukommen, können wir sagen, dass Europa heute den gewaltfreien Widerstand, die Rolle des Friedens und die Komplexität des Denkens verleugnet.
Welches Land ist Ihr Belarus heute?
In Belarus herrscht kein Krieg, aber es gibt auch keinen Frieden. Es gibt brutale Repressionen gegen friedliche Bürger, auch gegen Priester und Gemeindemitglieder. Das belarussische Regime setzt alle Hebel und Instrumente ein, um abweichende Meinungen zu unterdrücken, und ist sogar noch gewalttätiger gegen Frauen. Jeden Tag wird jemand verhaftet; wir kennen nicht einmal die genaue Zahl der politischen Gefangenen. Offiziell sind etwa 1.500 bekannt, aber in Wirklichkeit sind es viel mehr.
Was ist mit der von Ihnen erwähnten Unterdrückung von religiösen Menschen?
Es geht nicht nur um Verhaftungen. So dürfen beispielsweise religiöse politische Gefangene in den Gefängnissen nicht von Priestern besucht werden. Der katholische Gläubige Nikita Emelyanov musste im Gefängnis in den Hungerstreik treten, um gegen die Tatsache zu protestieren, dass er keinen Priester sehen durfte, bis er von Bischof Aleksander Jaszewski besucht werden konnte. In Untersuchungshaftanstalten und Gefängnissen ist es der Verwaltung nicht gestattet, Gebetsbücher, Bibel und andere religiöse Literatur zu versenden.
Hat Ihnen die Nobelpreisnominierung bei Ihren Initiativen und der Verbreitung Ihrer Botschaft geholfen?
Es ist eine große Ehre, für den Friedensnobelpreis nominiert zu sein und im Jahr 2023 den Internationalen Alexander-Langer-Preis zu erhalten. Es ist eine einmalige Gelegenheit, über die Situation in Belarus, über Gewalt und Folter zu sprechen und das Thema der Kriegsdienstverweigerer in unserer Region anzusprechen. Es ist eine strategisch wichtige Kampagne: Krieg kann nicht weitergehen, wenn die Menschen sich weigern, in den Krieg zu ziehen. Jeder kann das tun, und die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen hat einen enormen Einfluss auf Krieg und Militarisierung. Es erfordert Mut, sich zu weigern, in den Krieg zu ziehen, denn die Gesellschaft ist auf Krieg strukturiert. Aber ich glaube, dass heute die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure das letzte Wort haben, und unsere Aufgabe ist es, denjenigen zu helfen, die zögern, Kriegsdienstverweigerer zu werden. Das ist nicht einfach, denn Kriegsdienstverweigerer aus Belarus, der Ukraine und Russland sind nirgendwo willkommen; es ist schwierig für sie, vor allem für Belarussen und Russen, einen legalen Status zu erhalten, und heute wird Kriegsdienstverweigerung von den Regierungen kriminalisiert.
Gibt es etwas, das Sie der jüngeren Generation und den jungen Frauen sagen möchten?
Ich sage jedem einzelnen Menschen und jeder einzelnen Frau: Gebt nicht nach und gebt nicht auf, auch wenn die Mehrheit nicht mit euch einverstanden ist. Die Situation ist sehr schwierig: Über Frieden zu sprechen ist giftig geworden. Organisationen, die für Frieden kämpfen, werden angegriffen. Selbst in Westeuropa werden ihnen Konferenzräume und finanzielle Unterstützung verweigert. Ich glaube, dass viele Menschen Frieden wollen, aber Angst haben, öffentlich darüber zu sprechen. Wir müssen die Stimme der Vernunft und des gewaltfreien Widerstands für die Menschen sein, die des Krieges müde sind und Frieden in ihren Häusern wollen.
Dorella Cianci, Olga Karach. "Il mio esilio, gradiando gli orrori del regime bielorusso". Veröffentlicht im Rahmen des Projekts "Donne per la Pace" der italienischen Tageszeitung AVVENIRE, 28. April 2024. Aus dem Italienischen übersetzt von der Stiftung die Schwelle. https://www.avvenire.it/donneperlapace/pagine/olga-karach-donne-per-la-pace-bielorussa. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juli 2024
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