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Ukrainische Militärdienstpflichtige unter Druck

von Rudi Friedrich

(15.08.2024) Vor wenigen Tagen ging durch die Presse, dass ukrainischen Männern im militärdienstpflichtigen Alter keine Reiseausweise für Ausländer ausgestellt werden. Das hatte Connection e.V. gemeinsam mit PRO ASYL im Mai 2024 gefordert. Das hessische Sozialministerium hatte die Ablehnung der Ausstellung von Reiseausweisen mit dem Hinweis verbunden, dass den Betroffenen zumutbar sei, zur Passbeschaffung in die Ukraine zu reisen und der Wehrpflicht nachzukommen. Wie ist das einzuschätzen?

Es sind nach Schätzungen etwa 100.000 militärdienstpflichtige ukrainische Männer in Deutschland, die einen Aufenthalt nach der sogenannten Massenzustromrichtlinie bekommen haben, geregelt in §24 AufenthG. Darüber hinaus gibt es noch Tausende, die in Deutschland mit einem Arbeitsvisum einen Aufenthalt begründen konnten. Bei Connection e.V. gibt es seit einigen Monaten auch Anfragen von ukrainischen Soldaten oder ihren Angehörigen, die auf Familienurlaub oder zur Militärausbildung in Deutschland sind, welche Möglichkeiten des Aufenthaltes sie haben, wenn sie sich vom Militär absetzen.

Die aktuelle Diskussion betrifft vor allem diejenigen, deren ukrainische Reisepässe die Gültigkeit verlieren. Der Grundsatz nach §5 AufenthG besagt, dass für einen Aufenthalt ein gültiger Pass vorliegen muss. Dazu gibt es allerdings Ausnahmen. Hier eine Übersicht.

Aufenthalt nach §24 AufenthG

Der Aufenthalt und die Aufenthaltserlaubnisse nach §24 für militärdienstpflichtige Ukrainer stehen nicht in Frage. Auf der Ebene der Europäischen Union gibt es bereits die Einigung, dass dieser Aufenthalt bis zum März 2026 verlängert wird. Dieser Aufenthalt bleibt auch bestehen, wenn kein gültiger Pass mehr vorliegt. In §5 Abs. 3 AufenthG ist klar geregelt, dass im Falle der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §24 von der Erfüllung der Passpflicht abgesehen wird.

Das hessische Innenministerium verwehrt ihnen allerdings die Ausstellung von Reisepässen für Ausländer. Stattdessen erhalten „die betroffenen Personen die Aufenthaltserlaubnis dann in einen Ausweisersatz und erfüllen damit die Passpflicht in Deutschland“, so die Ausländerbehörde Kassel auf Nachfrage. Konsequenz ist, dass sie sich zwar in Deutschland aufhalten und sich ausweisen können, aber keine Möglichkeit haben, ins Ausland zu reisen.

Aufenthalt mit einem Arbeitsvisum

Hier stellt sich die Situation anders dar und in der Tat ist der Aufenthalt mit einem Arbeitsvisum an ein gültiges Reisedokument gekoppelt. Das regelt entsprechend §5 Abs. 1 des AufenthG. Für diese Gruppe von militärdienstpflichtigen ukrainischen Männern stellt sich die Situation sehr prekär dar, sofern der Reisepass seine Gültigkeit verliert. Es ist im Einzelfall zu überlegen, ob aus anderen Gründen ein Aufenthalt begründet werden kann. Denkbar wären Möglichkeiten wie eine Einbürgerung nach einem längeren Aufenthalt in Deutschland, ein Aufenthalt nach §24 AufenthG oder anderes.

Flucht vor der ukrainischen Armee im Ausland

Wer sich während des aktiven Dienstes im Militär, also z.B. während des Heimat- bzw. Familienurlaubs oder während einer Militärausbildung vom Militär absetzt, gilt als fahnenflüchtig. In der Ukraine könnte eine Strafverfolgung wegen Unerlaubter Abwesenheit oder wegen Desertion erfolgen.

Grundsätzlich hätten ukrainische Soldat*innen, die sich in Deutschland aufhalten, die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 AufenthG zu beantragen. Allerdings erreichten uns Berichte, wonach deutsche Behörden bei Anfragen aus dieser Personengruppe auch mal die Bundeswehr oder die US-Army davon in Kenntnis setzten.

Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist ausgesetzt

Widersetzen sich Kriegsdienstverweiger*innen ihrer Rekrutierung, veranlasst das Militär eine strafrechtliche Verfolgung. Das dafür vorgesehene Strafmaß beträgt drei bis fünf Jahre Haft. Die bislang ergangenen Urteile lauteten auf ein bis vier Jahre (manchmal auf Bewährung). Soldat*innen, die den Kriegsdienst verweigern, müssen damit rechnen, drangsaliert zu werden oder dass ihre Anträge nicht angenommen werden. Die Armee verhinderte auch, dass Soldat*innen zur Gerichtsverhandlung über ihre Kriegsdienstverweigerung erscheinen konnten. Gegen die Aussetzung der Möglichkeit, einen Antrag stellen zu können, gegen die Verurteilung zu Haftstrafen und dass Kriegs­dienst­ver­wei­ger*in­­nen nicht aus der Armee entlassen werden, gibt es Klagen vor dem Obersten Gericht der Ukraine.

Weitere Informationen dazu im Jahresbericht 2023/24 des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (Englisch: European Bureau for Conscientious Objection, EBCO).

Wie kann ein ukrainischer Reisepass beantragt werden?

Neue Reisepässe werden von der Ukraine nur ausgestellt, wenn die Betroffenen sich in der Ukraine melden, dort neu militärisch registriert und gemustert werden. Es droht ihnen bei einer Rückkehr in die Ukraine auf jeden Fall die Einberufung in den Krieg. Und aufgrund der Ausreisesperre der Ukraine, die seit Kriegsbeginn gilt, können sie nicht mehr ausreisen.

Letzte Möglichkeit Asyl?

Aufgrund der schwierigen Situation gibt es auch immer wieder die Überlegung Asyl zu beantragen. Das ist grundsätzlich möglich. Ein Asylantrag hat auch die Folge, dass eine Abschiebung aufgrund des Schutzes der Genfer Flüchtlingskonvention für die Zeit des laufenden Asylverfahrens ausgeschlossen ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob ein Asylantrag wirklich Chancen hat, anerkannt zu werden. Und hier müssen wir feststellen, dass die Chancen äußerst gering sind. Die Verfolgung bei Desertion oder Kriegsdienstverweigerung gilt in aller Regel nicht als Asylgrund.
Die Tatsache, dass die Ukraine das (eingeschränkte) Recht auf Kriegsdienstverweigerung seit Kriegsbeginn ausgesetzt hat und damit gegen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Englisch: European Court of Human Rights, ECtHR) verstößt, wird nicht als Grund akzeptiert werden, um einen Flüchtlingsschutz zu erhalten. Hier könnte bei überzeugten Kriegsdienstverweigerern höchstens ein Abschiebeschutz in Frage kommen, wenn sie gegenüber den ukrainischen Behörden bereits vergeblich versucht haben, einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen.

Ist eine Auslieferung möglich?

Eine Auslieferung auf Antrag ukrainischer Behörden aufgrund von Militärstraftaten ist entsprechend dem Europäischen Auslieferungsabkommens nicht möglich.

Desinformation als politisches Mittel der Verunsicherung

Bei der aktuellen Debatte ist interessant zu sehen, dass das hessische Sozialministerium zum einen erklärt hatte, keine Reiseausweise für Ausländer auszustellen und dies mit dem Hinweis verband, dass den Betroffenen zumutbar sei, zur Passbeschaffung in die Ukraine zu reisen und der Wehrpflicht nachzukommen. Wenn wir dazu die tatsächliche Regelung anschauen, ist das widersprüchlich. Insofern ist dies ein weiterer Versuch, die ukrainischen Geflüchteten zu verunsichern und ihren Aufenthalt in Frage zu stellen, obwohl gesetzlich klare Grenzen gesetzt sind. Ähnliches ist auch in den letzten Monaten immer wieder passiert. Da verkündete z.B. die ukrainische Regierung, Auslieferungsanträge stellen zu wollen. Die sind aber bei Militärstrafvergehen nicht zulässig. Es war also rechtlich nicht haltbar, hat aber für Unruhe in der Community gesorgt.

Hier in Deutschland geht es angesichts dieser Desinformationskampagnen darum, zutreffende Informationen in verschiedenen Sprachen zur Verfügung zu stellen und in der Beratung darüber zu informieren.

Wer Kontakt zu Betroffenen hat wird aus erster Hand die Sorgen und Nöte erfahren. Wenn es für die Betroffenen unsicher ist oder unklar, sind wir gerne ansprechbar. Für uns hat jeder und jede das Recht, sich dem Kriegsdienst zu verweigern, auch in einem Verteidigungskrieg.

Rudi Friedrich. Ukrainische Militärdienstpflichtige unter Druck. 15. August 2024. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2024

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