Şendoğan Yazıcı, Foto: Gazete Duvar

Şendoğan Yazıcı, Foto: Gazete Duvar

Türkei: Kriegsdienstverweigerer sieht sich Teufelskreis der Strafverfolgung ausgesetzt

von Cihan Başakçıoğlu, Gazete Duvar

(17.10.2024) Der Kriegsdienstverweigerer Şendoğan Yazıcı kämpft seit seiner öffentlichen Erklärung im Jahr 2010 mit einem Teufelskreis aus strafrechtlichen Ermittlungen und Strafverfahren. Der Aktivist sagte der Gazete Duvar, dass der Staat Verweigerer in einer sozialen und rechtlichen Ungewissheit gefangen hält.

Şendoğan Yazıcı erklärte 2010 seine Kriegsdienstverweigerung und sah sich in den vergangenen 14 Jahren mit zahlreichen Prozessen konfrontiert. Yazıcı hat derzeit 14 laufende Verfahren und wurde am 11. September erneut von der Gendarmerie zum Verhör vorgeladen. Er wurde wegen „Verstoßes gegen das Militärstrafgesetz Nr. 1111“ verhört und veröffentlichte das Protokoll der Vernehmung in den sozialen Medien. Drei Tage später wurde Yazıcı erneut wegen „Verletzung der Vertraulichkeit der Ermittlungen“ verhört. Diesmal wurde er wegen Verstoßes gegen Artikel 286 des türkischen Strafgesetzbuchs verhört.

Gazete Duvar sprach mit Yazıcı, der wegen Vergehen wie „Distanzierung des Volkes vom Militär“, „Verstoß gegen das Militärstrafgesetzbuch“ und „Beleidigung der Republik Türkei“ angeklagt war, über die jüngsten Ermittlungen und seine Erfahrungen.

„Ich halte seit 14 Jahren an meiner Kriegsdienstverweigerung fest. Unzählige Male habe ich bei der Gendarmerie, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und vor Gerichten ausgesagt“, sagte Yazıcı. „Der willkürliche Druck des autoritären Systems auf Personen, die sich weigern, sich dem Staat zu beugen, hält unvermindert an.“

Er fügte hinzu: „Am 11. September wurde ich erneut von der Gendarmerie vorgeladen und machte eine Aussage wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das Militärstrafgesetz Nr. 1111. Wie üblich veröffentlichte ich meine Aussage in den sozialen Medien. Drei Tage später wurde ich beschuldigt, gegen Artikel 286 verstoßen zu haben, weil ich „die Vertraulichkeit der Ermittlungen verletzt“ habe. Absurd, nicht wahr? Es ist wie ein endloser Kreislauf: Ich werde beschuldigt, die Vertraulichkeit zu verletzen, weil ich meine Aussage veröffentlicht habe, und wenn ich diese weitergebe, muss ich wahrscheinlich eine weitere Aussage wegen „Verletzung der Vertraulichkeit“ machen. Vielleicht geht das so weiter, bis es zu einem noch absurderen ’Verstoß gegen eine Verletzung’ kommt. Während des Verhörs wurde kein einziges Wort über die Vertraulichkeit der Ermittlungen verloren.“

Yazıcı erklärte, er habe derzeit 14 laufende Verfahren. Seit seiner Erklärung von 2010 sei er staatlichem Druck ausgesetzt: „Als ich 2010 meine Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung abgab, wusste ich, was passieren könnte. Ich war darauf vorbereitet. Danach erlebte ich einen unglaublichen Prozess, der im Laufe der Zeit durch Gerichtsverfahren, Geldstrafen und Kontosperrungen an Intensität zunahm. Während der Vorbereitung dieser 14 Fälle habe ich in Ermittlungsverfahren, gegenüber Staatsanwälten und vor Gericht Aussagen gemacht, und all das hat sich zu einer ernsthaften Arbeit entwickelt. Ich versuche, diese Aussagen als Plattform für meine Kriegsdienstverweigerung zu nutzen.“

Yazıcı fügte hinzu, dass die Ermittlungen de facto eine Bestrafung für die Kriegsdienstverweigerung darstellten. „Oberflächlich betrachtet tun sie gar nichts. Es gibt keine zwangsweise Einberufung, aber sie machen daraus eine lebenslange Qual.“

Yazıcı erwähnte auch, dass er während seiner Prozesse mit absurden Situationen konfrontiert wurde, darunter einer Anklage wegen „Cocktail-Organisation“. Er erläuterte das: „Ich wurde vor dem Hohen Strafgerichtshof angeklagt. Aufgrund meiner Beiträge in den sozialen Medien wurde behauptet, meine Verteidigung der Gezi-Proteste deute darauf hin, dass (die verbotene Parallelorganisation) FETÖ dahinter stecke, und ich wurde wegen Unterstützung der FETÖ angeklagt. Außerdem wurde ich wegen „versuchter Zerstörung der unteilbaren Integrität des Staates“ angeklagt, weil ich den „Widerstand in Kobani“ erwähnt hatte, obwohl meine Äußerungen keine Propagandaelemente enthielten. Mir wurden Verbindungen zur FETÖ, PKK und PYD vorgeworfen, und es wurde eine Strafe von 18 Jahren gefordert. Bei der letzten Anhörung beantragte der Staatsanwalt meinen Freispruch, und ich wurde freigesprochen. Aber sie haben mir diesen ganzen Stress zugemutet.“

Yazıcı stellte fest, dass das Verfassungsgericht seine Anträge nicht behandelt habe, um zu verhindern, dass er den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anruft. „Aus irgendeinem Grund hat das Verfassungsgericht keine Entscheidung gefällt. Ich habe zwei Anträge gestellt, 2014 und 2017. Sie sind seit Jahren anhängig. Es sind 10 Jahre vergangen, und es ist noch keine Entscheidung gefallen“, sagte er.

Yazıcı erwähnte auch die drohenden Geldstrafen und erklärte: „Ich habe mein verfassungsmäßiges Recht auf Kriegsdienstverweigerung wahrgenommen. Dieses Recht geht darauf zurück, dass die Türkei 2006 die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat. Artikel 90 der Verfassung von 2010 deckt dies ebenfalls ab. Ich glaube, dass ich von meinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch mache, wenn ich meine Kriegsdienstverweigerung erkläre.

„Sie halten mich für einen Militärdienstentzieher. Aber ich bin kein Militärdienstentzieher, denn ich laufe vor nichts davon. Ich habe an jeder Gerichtsverhandlung teilgenommen und immer Stellung bezogen. Aber trotz meines laufenden Prozesses wird jedes Mal, wenn sie einen Bericht ausstellen, in dem sie mich als Militärdienstentzieher bezeichnen, eine Geldstrafe verhängt. Diese Geldstrafen kommen dann als Vollstreckungstitel zu mir zurück. Meine Konten wurden eingefroren. Auf der einen Seite läuft mein Verfahren weiter, auf der anderen Seite wird mein Geld beschlagnahmt. Das ist eine klare Ungerechtigkeit. Ich habe Bußgelder in Höhe von 36.500 Lira (971 €) angehäuft.“

„Das Leben wird uns schwer gemacht. Du wohnst in einem Hotel und die Polizei kommt um 5 Uhr morgens. Oder du kommst an eine Kontrollstelle und sie schreiben einen Bericht. Dieser Kreislauf geht endlos weiter. Wenn sie könnten, würden sie uns sogar am Atmen hindern“, sagte Yazıcı. „Es ist wirklich absurd. Und das ist nicht nur bei mir so. Ihr Ziel ist ganz klar, Kriegsdienstverweigerer in einem ständigen Zustand rechtlicher und sozialer Ungewissheit zu halten und ihr soziales, wirtschaftliches und kulturelles Leben mit illegitimen Mitteln unerträglich zu machen.“

Yazıcı schloss: „Das ist unser legitimes Recht. Es gibt ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss der Staat die notwendigen Regelungen treffen. Ich bin nicht schuldig, weil der Staat diese Regelung nicht umgesetzt hat. Es ist so, als ob das Verbrechen des Staates dem Bürger auferlegt wird.

„Sie glauben, wenn die Kriegsdienstverweigerung anerkannt wird, niemand mehr zum Militär gehen wird. Gerade wurde der Preis für den bezahlten Militärdienst erhöht. Für den Staat ist dies eine der lukrativsten Einnahmequellen. Es ist absurd zu glauben, dass es legitim ist, den Menschen Angst zu machen, damit sie für ihre Sicherheit bezahlen. Normalerweise wird man einmal für ein Verbrechen bestraft, und dann geht man mit seinem Leben weiter. Aber in der Türkei führt die Verweigerung des Militärdienstes zu einem endlosen Kreislauf. Selbst wenn ich 90 Jahre alt werde, werde ich immer noch vor den Strafgerichten erster Instanz wegen Militärdienstentziehung angeklagt sein. Ich spreche von einer endlosen Sinfonie“, schloss er.

Cihan Başakçıoğlu, Gazete Duvar: Conscientious objector faces vicious cycle of investigations in Turkey. 17. Oktober 2024. https://www.duvarenglish.com/conscientious-objector-faces-vicious-cycle-of-investigations-in-turkey-news-65111. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2024

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