Sechs russische Soldaten erhalten nach ihrer Flucht aus der Ukraine eine befristete Einreisegenehmigung für Frankreich
(17.10.2024) Sechs russische Soldaten, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, haben eine befristete Einreiseerlaubnis erhalten, um in Frankreich politisches Asyl zu beantragen. Menschenrechtsaktivist*innen bezeichnen dies als den ersten größeren Fall einer Gruppe von Deserteur*innen, die in einem EU-Land aufgenommen wurden.
Die Männer kamen in den letzten Monaten mit getrennten Flügen in Paris an, nachdem sie zunächst in den Jahren 2022 und 2023 aus Russland nach Kasachstan geflohen waren. Das berichtete eine Organisation, die den Deserteur*innen hilft.
„Als ich in Frankreich landete, war es das erste Mal, dass ich richtig durchatmen konnte. Ich spürte ein Gefühl der Ruhe und Freiheit ... das Schlimmste lag hinter mir“, sagte Alexander, ein ehemaliger russischer Vertragssoldat, der in die Ukraine geschickt wurde und im Sommer 2023 desertierte, dem Guardian.
Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind Zehntausende russischer Soldaten desertiert oder haben den Befehl zum Kampf verweigert, berichten Menschenrechtsaktivist*innen und Gruppen, die fliehenden Soldaten helfen.
Doch der Westen hat lange mit der Entscheidung gerungen, ob er sie aufnehmen soll. Dabei stellt sich die Frage, ob man sie als Helden, potenzielle Sicherheitsrisiken oder Kriegsverbrecher behandeln soll. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben zwar öffentlich darüber diskutiert, russischen Deserteur*innen Asyl zu gewähren, aber es wurde noch keine Entscheidung getroffen, und es hat sich als schwierig erwiesen, dass sie Asyl erhalten.
„Dies ist das erste Mal, dass ein EU-Land eine Gruppe von Deserteuren aufnimmt, die keine Reisedokumente oder ausländischen Pässe haben“, sagte Iwan Tschuwiljajew, Sprecher von Go By The Forest, einer Gruppe, die russischen Soldaten bei der Desertion hilft und an dem Fall der sechs Soldaten gearbeitet hat.
Da sie nicht nach Europa reisen konnten und ihnen in ihrer Heimat eine lange Haftstrafe drohte, flohen die meisten Deserteur*innen in an Russland angrenzende Länder wie Armenien und Kasachstan, wo sie ohne Pass einreisen konnten. Dort saßen sie aber ohne die Möglichkeit einer Weiterreise fest.
Moskau hat große Anstrengungen unternommen, um sie aufzuspüren. Es gab eine wachsende Zahl von Fällen, in denen Deserteur*innen, die sich in postsowjetischen Ländern in Reichweite des Kremls versteckt hielten, entführt oder nach Russland zurückgeschoben wurden. Ihre prekäre Lage hat die Forderungen von Kriegsgegner*innen lauter werden lassen, den Soldaten einen sicheren Hafen zu bieten, indem sie im Westen Zuflucht suchen können.
„In Kasachstan kann man sich nie sicher fühlen; man muss einfach den Kopf einziehen“, sagte Alexander, der beschrieb, dass er ohne SIM-Karte oder Bankkonto lebte, um nicht von Russland verfolgt zu werden. Von Kasachstan aus begann Alexander, einen anonymen YouTube-Kanal zu betreiben, in dem er andere Soldaten zur Desertion aufrief.
Kriegsgegner*innen wie Chuviliaev glauben nun, dass Frankreichs Bereitschaft, Deserteur*innen aufzunehmen, einen Präzedenzfall schaffen und ein starkes Signal an andere westliche Länder senden könnte, was den Prozess möglicherweise beschleunigen würde.
„Die Entscheidung Frankreichs ist das Ergebnis einer umfassenden Zusammenarbeit zwischen den französischen Behörden und einer Gruppe von Menschenrechtsorganisationen“, so Chuviliaev, dessen Organisation mehr als 2.000 Soldaten bei der Flucht ins Ausland geholfen hat. „Wir hoffen, dass dies ein Anfang ist, dass mehr Deserteure nach Europa gelassen werden“, fügte er hinzu.
Chuviliaev sagte, dass jeder der Deserteure monatelang sorgfältig auf seine „starke, konsequente Anti-Kriegs-Haltung“ überprüft wurde, bevor er nach Frankreich gelassen wurde. „Wir verstehen, dass es im Westen Befürchtungen gibt, einige könnten nicht die sein, für die sie sich ausgeben“, sagte er.
Zu den Personen, denen eine befristete Einreisegenehmigung erteilt wurde, gehörten Männer, die im Krieg gegen die Ukraine gekämpft hatten, sowie Militärdienstpflichtige und Offiziere, denen es gelungen war, nicht an die Front geschickt zu werden.
Tschuwiljew glaubt, dass ihre Ankunft in Frankreich andere Russen zur Desertion aus der Armee anregen könnte. „Für jemanden, der eine Desertion in Erwägung zieht, ist es entscheidend, sich eine Zukunft in einem freien Land vorzustellen, anstatt im Gefängnis oder in einem an Russland angrenzenden Land in ständiger Angst vor Abschiebung zu leben“, sagte er.
Der Kreml hat in letzter Zeit seine Bemühungen verstärkt, gegen Desertion vorzugehen und Soldaten im In- und Ausland zu jagen und zu inhaftieren, um seinen ständigen Bedarf an Soldaten in der Ukraine zu decken. Um Desertion zu verhindern, hat Putin eine Reihe von Gesetzen unterzeichnet, die härtere Strafen vorsehen, darunter Gefängnisstrafen von bis zu 15 Jahren und die Beschlagnahmung des Eigentums von fliehenden Soldaten.
Es gibt auch zahlreiche Medienberichte und persönliche Berichte über so genannte „Löcher und Gruben“, Keller, in denen Offiziere und reguläre Soldaten tagelang gegen ihren Willen festgehalten werden, weil sie sich weigern zu kämpfen.
Das unabhängige Nachrichtenportal Mediazona berichtet, dass die Behörden in den letzten zwei Jahren mindestens 7.400 Verfahren gegen russische Soldaten eingeleitet haben, die beschuldigt werden, ihre Einheiten ohne Erlaubnis verlassen zu haben. Die tatsächliche Zahl dürfte angesichts der systematischen Versuche des Kremls, Informationen über das Militär zu verbergen, höher liegen.
Russland verfolgt auch Deserteur*innen, die sich im Ausland verstecken, und setzt Länder in seiner geopolitischen Nähe unter Druck, russische Deserteur*innen auszuliefern. Im Dezember 2022 deportierte Kasachstan den desertierten russischen Geheimdienstoffizier Mikhail Zhilin. Im März 2023 verurteilte ein russisches Gericht Zhilin zu sechseinhalb Jahren Gefängnis.
Einigen Deserteuren erging es noch schlechter. Im Februar wurde Maksim Kuzminov, ein russischer Pilot, der in die Ukraine übergelaufen war, vor seiner Wohnung in der spanischen Strandstadt Alicante, wo er sich aufhielt, niedergeschossen - eine Tat, die weithin dem russischen Geheimdienst zugeschrieben wird.
Da Alexander weiß, wie weit Russland bereit ist, Deserteur*innen zu bestrafen, äußerte erdie Hoffnung, mehr ehemaligen Soldaten bei der Umsiedlung in den Westen helfen zu können. „Ich weiß, was diese Leute durchmachen. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.“
The Guardian: Six Russian soldiers granted French temporary entry permits after fleeing Ukraine. 17. Oktober 2024. https://www.theguardian.com/world/2024/oct/16/six-russian-soldiers-granted-visas-to-france-after-fleeing-war-in-ukraine. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2024
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