Olga Karatch - Das Urteil gegen die belarussische Menschenrechtsaktivistin und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung

von Zaira Zafarana

(09.10.2024) Am 8. Juli 2024 verurteilte das Regionalgericht Brest (Belarus) Olga Karatch, Direktorin des Internationalen Zentrums für zivilgesellschaftliche Initiativen NashDom („Unser Haus“), zu zwölf Jahren Haft und einer Geldstrafe von ca. 170.000 Euro.

Olga ist Menschenrechtsaktivistin und musste wie viele andere Frauen und Männer aus Belarus flüchten und im Ausland Schutz suchen, in ihrem Fall zusammen mit ihrer Familie in Vilnius (Litauen). Leider hat sie dort bis heute nicht den Schutzstatus erhalten, den sie angesichts ihres Einsatzes für die Menschenrechte und der Verfolgung in ihrer Heimat bräuchte. Deshalb wurde die internationale Solidaritätskampagne #protection4olga ins Leben gerufen.

„Unser Haus“ entstand aus einer selbstgemachten Zeitung, die Olga im Dezember 2002 in Vitebsk (Belarus) gründete. Im Jahr 2004 entwickelte sich daraus eine zivilgesellschaftliche Kampagne, an der sich verschiedene MenschenrechtsaktivistInnen beteiligten. Daraus entstand wiederum ein Netz von Organisationen und schließlich wurde 2014 Unser Haus als gemeinnützige Vereinigung in Litauen registriert. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs organisiert Unser Haus auch humanitäre Hilfe.

In Belarus laufen derzeit noch weitere Verfahren gegen Olga Karatch. Ihr drohen bis zu 25 Haft, ja sogar die Todesstrafe, die Anfang 2023 wieder eingeführt wurde.

In einer gemeinsamen Presseerklärung von Connection e.V., European Bureau for Conscientious Objection, War Resisters’ International und International Fellowship of Reconciliation vom 9. Juli werden die ihr zur Last gelegten Straftaten im Einzelnen aufgeführt: „Verschwörung zur Machtübernahme mit verfassungswidrigen Mitteln“ (§ 357 Abs.1 Strafgesetzbuch), „Förderung extremistischer Aktivitäten“ (§ 361-4 Abs. 1 und 2 Strafgesetzbuch) und „Diskreditierung der Republik Belarus“ (§ 369-1 Strafgesetzbuch).

Olga hat für ihre Arbeit zur Förderung der Menschenrechte mehrere internationale Auszeichnungen erhalten, so etwa den Bremer Friedenspreis 2019 und den Weimarer Menschenrechtspreis 2022; zuletzt wurde ihr am 22. Februar 2024 im italienischen Parlament in Rom der internationale Preis Alexander Langer 2023 verliehen.

Am 4. August 2023 nominierte das Internationale Ständige Friedensbüro (Friedensnobelpreis 1910) Unser Haus, die Ukrainische Pazifistische Bewegung und die Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland für den Friedensnobelpreis und begründete dies mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die Verteidigung des Friedens, des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und der Menschenrechte, insbesondere nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und ungeachtet der erheblichen Stigmatisierung, mit der diese Organisationen seitdem konfrontiert sind.

Olga Karatch und Unser Haus setzen sich auch für das in ihrem Land faktisch nicht anerkannte Menschenrecht der Kriegsdienstverweigerung ein und unterstützen all diejenigen, die den Dienst an der Waffe verweigern. Die Militarisierung der Gesellschaft und von Minderjährigen hat in Belarus besorgniserregende Ausmaße angenommen. Statistiken zufolge haben im Sommer 2022 über 18.000 Kinder ab sechs Jahren in militarisierten vaterländischen Camps den Umgang mit Schusswaffen geübt.

Im März 2022 rief Olga mit ihrer Organisation die Kampagne „No means No“ ins Leben, um jungen Belarussen zu helfen, die desertieren oder sich nicht für den Krieg rekrutieren lassen wollen. Seitdem haben viele Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Reservisten das Land verlassen und im Ausland Schutz gesucht. Sie werden von Unser Haus unterstützt.

Unser Haus beteiligt sich an der 2022 initiierten internationalen Kampagne #ObjectWarCampaign. Deren Ziel ist es, dass die EU all denjenigen Schutz gewährt, die sich dem Ukraine-Krieg entziehen und aus Russland, Belarus und der Ukraine fliehen. Viele Belarussen haben in EU-Staaten Asyl beantragt, jedoch noch keinen vollen Schutzstatus erhalten. Viele weigern sich aus religiösen oder anderen Gewissensgründen, an Militäraktionen teilzunehmen. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen hat in seiner Leitlinie Nr. 10 zum internationalen Schutz festgelegt, dass diejenigen, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigern und deshalb in ihrem Land Verfolgung befürchten müssen, Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling haben.

Die Arbeit von Menschenrechtsaktivist*innen ist unentbehrlich, weil sie die Menschenrechte schützen, indem sie die Aufmerksamkeit der weltweiten Öffentlichkeit auf die Verletzung dieser Rechte lenken. Zwar sind die Menschenrechte völkerrechtlich verankert, doch hängt deren Anerkennung vor Ort vom politischen Willen der einzelnen Regierungen und von der Einhaltung ihrer in der UN-Charta verankerten Verpflichtung ab, nach Treu und Glauben zusammenzuwirken.

Insbesondere seit den Wahlen im Jahr 2020 hat sich die Lage der belarussischen Menschenrechtsaktivist*innen dramatisch verschlechtert, worauf auch die Sonderberichterstatterin der UNO auf der letzten Tagung des Menschenrechtsrates im Juli dieses Jahres in Genf hingewiesen hat. Viele haben traumatische Erfahrungen gemacht, andere sind in Haft oder im Exil, wieder andere spurlos verschwunden. Am 8. Juli wurden neben Olga auch Veranika Tsepkala,Yauhen Vilski, Anatoli Kotau e Vadzim Dzmitrenak zu je 12 Jahren Haft und Geldstrafen verurteilt.

Auf die Frage, woraus sie die Kraft zum Weitermachen schöpft, antwortet Olga: „Die Überzeugung, dass eine Welt ohne Gewalt möglich ist, gibt mir die Kraft zum Widerstand. Ich sehe, dass die Menschen genug haben von all der Gewalt und Ungerechtigkeit und dass viele eine echte Veränderung wollen. Ich weiß, wie viele wirklich Frieden wollen, und das gibt mir die Kraft, jeden Tag erneut für eine Welt ohne Gewalt zu kämpfen, in der Frieden herrscht.“

Heute lebt Olga in Litauen, wo sie und ihre Familie jedoch noch immer nicht sicher sind, da sie keinen internationalen Schutzstatus genießen. Ebenso wie Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen aus Belarus droht auch ihnen ständig die Abschiebung nach Belarus.

Doch obwohl sie selbst mit ihrer Familie viele schwere Krisensituationen durchstehen musste, setzt sie sich weiterhin für andere ein.

So berichtet sie: „2011 wurden mein Mann und ich wegen Terrorismusverdachts verhaftet, uns drohte die Todesstrafe. In der Haft wurde ich von der Polizei verprügelt, mir wurde mit Vergewaltigung gedroht. Nur dank des internationalen Protests wurden wir freigelassen. Im Jahr 2014 drohten die belarussischen Behörden, mir meinen Sohn wegzunehmen, wenn ich nicht alle Aktivitäten aufgeben und mich nur noch um meine Familie kümmern würde. Das ist wirklich die schlimmste Art der Repression: Zu wissen, dass dein Sohn wegen deiner Meinungen oder Aktivitäten leidet.“

Was sie wie andere Verteidiger*innen der Menschenrechte auszeichnet, ist ihre Entschlossenheit und Beharrlichkeit auch unter widrigsten Umständen. Sie gibt die Hoffnung nie auf und findet immer wieder neue Wege für die konkrete Umsetzung ihrer Ziele; jeglicher Opportunismus liegt ihr fern.

Auf die Frage, worauf sich ihre Hoffnung gründet, antwortet Olga: „Merkwürdigerweise sind es eher die älteren als die jüngeren Menschen, die mir Hoffnung machen. Sie erzählen mir, was sie durchgemacht haben; sie erzählen von Krieg, Tod und von dem, was sie verloren haben: Heimat, Familie, Arbeit, ihre Liebsten, die Hoffnung. Dann merke ich, dass es – trotz allem, was heute geschieht – früher noch viel schlimmer war. Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass unsere Kinder und Enkel, denen wir unsere Geschichten erzählen, entsetzt sein werden darüber, welches Ausmaß an Gewalt wir überlebt haben. Ich glaube, dass die Zukunft friedlicher sein wird als die Gegenwart.“

In Litauen lebt Olga mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Eltern. Ihre Schwiegereltern wurden am 15. Dezember 2022 in ihrer Wohnung in Belarus tot aufgefunden, genau fünf Tage nach der Verleihung des Weimarer Menschenrechtspreises an Olga. Tag und Nacht steht ihr Telefon nie still, ständig erhält sie eine Flut von E-Mails, Bitten um Hilfe und Rechtsberatung, Solidaritätsbekundungen und vieles mehr. „Unermüdlich“ ist mit Sicherheit das Adjektiv, das sie am besten beschreibt; sie hat nie Zeit für ihr Hobby, das Stricken. Selbst dieses bisschen Alltagsnormalität muss hinter ihrem unerschütterlichen Einsatz für die Menschenrechte zurücktreten.

Wie viele andere, die überall auf der Welt trotz aller Gefahren und Drohungen weiterhin unermüdlich für die Menschenrechte eintreten, stellt auch Olga jeden Tag unter Beweis, wie wertvoll jedes einzelne Menschenleben ist.

Zaira Zafarana ist Internationale Fachberaterin bei Connection e.V. und Mitglied des Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung

Zaira Zafarana in der Monatszeitschrift Mosaico di Pace, Pax Christi: Olga Karach - La condanna dell’attivista bielorussa per i diritti umani e il diritto all’obiezione di coscienza. 9.10.2024

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