Klare Forderung auf Asyl bei Verweigerung eines Angriffskrieges
(18.11.2024) Seit Februar 2022 haben etwa 5.400 russische Männer im Alter zwischen 18 und 45 Jahren in Deutschland Asylanträge gestellt. Nur ein Bruchteil von ihnen wurde anerkannt. Dabei entziehen sie sich einem völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz und müssten daher Schutz vor einer möglichen Verfolgung erhalten.
Connection e.V. liegen inzwischen eine ganze Reihe von Bescheiden des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor, mit denen vor allem Militärdienstentzieher*innen und Kriegsdienstverweiger*innen aus Russland abgelehnt werden. Entscheidendes Kriterium für eine Ablehnung ist, dass eine Rekrutierung in den Krieg in der Ukraine als nicht „beachtlich wahrscheinlich“ angesehen wird. Welche Konsequenzen das für die Betroffenen hat, das zeigen wir im folgenden Artikel auf. Wir prüfen zudem, ob sich die Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Völkerrecht deckt. Zuvor gehen wir auf Rahmenbedingungen in Russland ein.
Auf die Situation von Deserteur*innen und Militärdienstentzieher*innen aus der Ukraine und aus Belarus sind wir an anderer Stelle ausführlich eingegangen.
Zur Situation in der Russischen Föderation
Unterschiede: Desertion, Militärdienstentziehung und Kriegsdienstverweigerung
Zum Verständnis und zur Einschätzung über rechtliche Hintergründe und asylrechtliche Möglichkeiten ist es wichtig, die Bezeichnungen zu definieren:
Die meisten Menschen, die zu einem russischen Militärdienst verpflichtet sind, diesen aber verweigern, sind Militärdienstentzieher*innen. Sie haben sich bereits vor einer möglichen Rekrutierung dem Zugriff des Militärs entzogen und noch keine Einberufung erhalten. Zum Teil werden sie auch als Wehrdienstflüchtlinge bezeichnet.
Davon zu unterscheiden sind Deserteur*innen. Sie haben eine Einberufung erhalten und werden ab diesem Moment als Soldat*innen gesehen oder befinden sich schon im Militärdienst und flüchten aus dem Militär.
Die Kriegsdienstverweigerung ist 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Menschenrecht anerkannt worden und bezeichnet eine persönliche Entscheidung, nicht zum Militär zu gehen, die oft gegenüber den Behörden oder dem Militär erklärt wird. Sowohl Militärdienstentzieher*innen wie auch Deserteur*innen können sich dazu entschließen, ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären.
Rechtlicher Rahmen: Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Russland
In Russland gibt es eine Militärdienstpflicht, der alle Männer zwischen 18 und 30 Jahren unterliegen. Am 25. Mai 2022 wurde in Russland ein Gesetz verabschiedet, wonach Männer bis zum Alter von 65 Jahren zur Armee rekrutiert werden können.
Ein Antrag zur Kriegsdienstverweigerung ist nur bis zur Einberufung möglich. Für Reservist*innen und Soldat*innen gibt es kein Recht, einen Verweigerungsantrag zu stellen. Wenn Anträge überprüft werden, müsste dies durch ein unabhängiges Gremium erfolgen, in Russland aber ist das Militär an den Entscheidungen beteiligt. Die nach internationalem Recht für Militärdienstpflichtige vorgesehene Möglichkeit, jederzeit einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen zu können, wird nicht gewährleistet.
Durch eine weitere Gesetzesänderung im November 2022 können zudem auch Kriegsdienstverweiger*innen, die sich im sogenannten alternativen Dienst befinden, zum Militär eingezogen werden, um dort einen unbewaffneten Dienst abzuleisten.
Scharf verfolgt wird eine Desertion, insbesondere während eines Krieges. Mediazona berichtete am 18. Juni 2024, dass es in Russland seit Anfang des Krieges etwa 10.000 Strafverfahren gibt. In den Separatistengebieten wird zwangsrekrutiert, Verweiger*innen werden an die Front geschickt oder inhaftiert.
Römisches Statut für den Internationalen Gerichtshof
Pflicht zur Verweigerung eines Angriffskrieges
Aus dem Römischen Statut für den Internationalen Gerichtshof ergibt sich eine individuelle Verantwortung bei Begehung von Kriegsverbrechen, insbesondere Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nun ist ein Krieg immer damit verbunden, dass Soldat*innen von den Vorgesetzten dazu aufgefordert werden, z.B. zivile Ziele zu beschießen und so in der Tat ein Kriegsverbrechen zu begehen. Noch offensichtlicher ist es, wenn wie im Falle des Krieges Russlands gegen die Ukraine der Krieg an sich ein Angriffskrieg und damit völkerrechtswidrig ist. In Artikel 25 (2) des Römischen Statuts heißt es dazu: „Wer ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begeht, ist dafür in Übereinstimmung mit diesem Statut individuell verantwortlich und strafbar.“
Soldat*innen hätten also die Pflicht, rechtswidrige Anordnungen der Vorgesetzten zu verweigern. Das ist im Falle eines Kriegseinsatzes praktisch nicht möglich, da ein Einsatz an der Front immer bedeutet, in einer von militärischer Gewalt bestimmten Hierarchie- und Werteordnung, in einem von militärischer Gewalt bestimmten Umfeld eine Entscheidung gegen einen Einsatz zu treffen, der von Vorgesetzten angeordnet ist. Wer das tut, riskiert damit oft sein Leben. Und wer es nicht tun will, dem bleibt letztlich nur die Flucht aus dem Militär, also die Desertion. Wer aber gar nicht erst in solch eine Situation kommen will, dem bleibt nur die Kriegsdienstverweigerung – soweit sie umsetzbar ist und akzeptiert wird – oder die Flucht vor der Rekrutierung, also eine Militärdienstentziehung.
Eine Kriegsdienstverweigerung – soweit sie umsetzbar ist und akzeptiert wird – oder die Flucht vor einem Militär, das einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, ist demnach der objektiv sinnvollste Schritt, um gar nicht erst in eine Situation zu kommen, indem eine Person dazu gezwungen werden könnte, Kriegsverbrechen zu begehen.
Nun sprechen wir bei der Invasion von Russland in der Ukraine anerkanntermaßen von einem Angriffskrieg, der völkerrechtlich verurteilt ist. Es kommt bei einer Einschätzung der Verantwortlichkeit von Soldat*innen also nicht mehr zwingend darum, dass völkerrechtswidrige Handlungen in einem Krieg begangen werden könnten. Der Krieg an sich, also auch die Beteiligung daran, ist als völkerrechtswidrig zu werten.
Im Umkehrschluss ließe sich damit sagen: Jede Person, der eine Zwangsrekrutierung droht, hat angesichts der Regelungen des Römischen Statuts die Pflicht, sich der Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu verweigern bzw. zu entziehen.
Dieser generelle Grundsatz wird gestärkt durch eine weitere Regelung der Römischen Verträge.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei einer Beihilfe
Das Römische Statut definiert in Artikel 25 (3) c) auch die strafrechtliche Verantwortung bei einer Beihilfe. Es heißt dort: „In Übereinstimmung mit diesem Statut ist für ein (…) Verbrechen strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wer (…) c) zur Erleichterung eines solchen Verbrechens Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung.“ Das bedeutet also, dass nicht nur die Soldat*innen im Kampf zur Verantwortung gezogen werden können, sondern sehr wohl auch Personen, die dazu beitragen, also dazu Beihilfe leisten, dass solch ein Krieg überhaupt geführt werden kann.
Mit dieser Frage hatte sich der Europäische Gerichtshof im Fall des US-Deserteurs André Shepherd befasst. André Shepherd, US-Soldat und 2004 als Mechaniker für Kampfhubschrauber im Irak-Einsatz, hatte sich bei einem Deutschlandaufenthalt der Fortsetzung seines Einsatzes entzogen und 2008 einen Asylantrag gestellt. Er berief sich dabei auf die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union. Mit ihr sollen nach Artikel 9 unter anderen die geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen. In dem Urteil kommt der Europäische Gerichtshof in Absatz 46 zu dem Schluss: „die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. E der Richtlinie 2004/83 sind dahin auszulegen, dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen.“
Der Europäische Gerichtshof spricht zwar hinsichtlich der Relevanz einer solchen Beihilfe davon, dass eine „unerlässliche Unterstützung“ vorliegen müsse. Aber klar ist doch, dass ein Krieg ohne Logistik, ohne Lieferung von Waffen, Munition und Verpflegung, ohne Reparatur- und Wartungsarbeiten, ohne militärische Infrastrukturmaßnahmen, ohne medizinische Dienste und vieles mehr nicht geführt werden kann. Hinzu kommt, dass Militärdienstpflichtige ja nicht selber entscheiden können, wo und wie sie eingesetzt werden. Sie haben also nicht die Möglichkeit, den einen Dienst zu verweigern um eine möglicherweise nicht so „unerlässlich unterstützende“ Tätigkeit zugewiesen zu bekommen. Das ist ein Fakt, der immer wieder gerne übersehen wird. Auch hier gilt: Wer gar nicht erst in die Situation kommen will, zu Arbeiten oder Diensten verpflichtet zu werden, die Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Krieg bedeuten, muss sich frühzeitig dem Zugriff des Militärs entziehen.
Blick auf die Rechtsprechung
Im den nächsten Abschnitten setzen wir uns mit der aktuellen Rechtsprechung insbesondere gegenüber Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen aus Russland auseinander, die sich dem Krieg verweigert oder entzogen bzw. desertiert sind. Es gibt dazu einige positive Ansätze. Zumeist ist jedoch festzustellen, dass Ablehnungen in den Asylverfahren ausgesprochen werden.
BAMF: „Beachtliche Wahrscheinlichkeit“ versus Völkerrechtskonformes Handeln
In mehreren uns vorliegenden Bescheiden des Bundesamtes für Migration wird schon deshalb eine Verfolgung ausgeschlossen, weil „nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ davon auszugehen sei, dass die Antragstellenden zu den Streitkräften oder zum Krieg in der Ukraine einberufen werden würden. Hier aus einem Bescheid vom 24. September 2024: „Schon aufgrund der schieren Zahl potenziell mobilisierbarer Reservisten (wäre eine künftige Einberufung des Antragstellers) nicht beachtlich wahrscheinlich. Schließlich läge das statistische Risiko einer Einberufung angesichts von rund 25 Millionen Reserveangehörigen in Russland, davon rund 5,5 Millionen in der Altersgruppe bis 35 Jahre (erste Mobilisierungspriorität), selbst im Falle einer neuerlichen Mobilisierung im Umfang von 300.000 Mann bei unter zwei bzw. unter sechs Prozent.“ (AZ 10114310 – 160) Dies taucht als Textbaustein immer wieder auf, ist sozusagen derzeit eine Standardantwort auf die Anliegen der Antrag stellenden Militärdienstentzieher*innen, in Deutschland Flüchtlingsschutz zu erhalten.
Es wird dabei im Wesentlichen mit Wahrscheinlichkeiten argumentiert. Ist es also wahrscheinlich, dass eine Person bei einer Rückkehr tatsächlich zum Militär einberufen und in den Krieg geschickt wird? Das eine Einberufung unwahrscheinlich sei, das hilft den Betroffenen nicht wirklich. Sie hatten angesichts einer Situation das Land verlassen, als es im Zuge der Teilmobilmachung im Oktober 2022 weitverbreitete Razzien gab, Einberufungen auf willkürlicher Basis erfolgten und es mehrere Tausend Fälle gab, in denen Personen zu Unrecht rekrutiert wurden. Nun wird in den Bescheiden argumentiert, dass dies ja in absehbarer Zeit nicht mehr zu erwarten sei, es also nicht „beachtlich wahrscheinlich“ ist.
Überlegen wir kurz, was das konkret bedeutet. Selbstverständlich gibt es für Antragstellende die Möglichkeit, gegen solche Bescheide des Bundesamtes zu klagen und damit eine Verhandlung vor einem Verwaltungsgericht zu erzwingen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass auch die Verwaltungsgerichte nicht anders urteilen werden, so wie zum Beispiel das Verwaltungsgericht Berlin am 24. November 2023: „Die Kammer ist nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnisse nämlich davon überzeugt, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger in absehbarer Zeit gegen seinen Willen in die russische Armee einberufen bzw. eingezogen und an die Front in der Ukraine entsandt werden wird.“ (AZ 33 K 499.16 A)
Nach einer Ablehnung durch ein Verwaltungsgericht gibt es zwar noch Rechtswege. Letzten Endes ist aber früher oder später von der Rechtskraft des Urteils auszugehen. Und dann steht da unmissverständlich: „Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens.“ Kommt der Asylsuchende dieser Aufforderung nicht nach, so kann er abgeschoben werden.
Dieses Verfahren und die im Asylrecht angewandte Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit führt also dazu, dass Personen, die sich nicht für einen völkerrechtswidrigen Krieg rekrutieren lassen wollen, abgelehnt und im Zweifel auch abgeschoben werden können. Dass es erste Abschiebungen gibt, hatte zuletzt die Tagesschau am 1. Oktober 2024 gemeldet.
Das bedeutet zum einen, dass völkerrechtskonformes Verhalten, also die Verweigerung eines Einsatzes im völkerrechtswidrigen Krieg, nicht geschützt wird. Das bedeutet zum anderen, dass die in verschiedenen Beschlüssen und Stellungnahmen von Politiker*innen genannte Unterstützung dieser Gruppe nicht stattfindet. Die Betroffenen wurden und werden im Stich gelassen.
Anerkennung in der Regel nur bei Desertion
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung und Desertion im Allgemeinen nicht als Asylgrund gewertet wird. Die obergerichtliche Rechtsprechung verweist darauf, dass es sich bei der Militärdienstpflicht um eine allgemeine staatliche Pflicht handelt, die alle Bürger*innen (oder jedenfalls alle Bürger*innen im militärdienstpflichtigen Alter und gegebenenfalls männlichen Geschlechts) gleichermaßen trifft. Strafverfolgung und Bestrafung für eine Verweigerung wird daher als legitimes staatliches Handeln eingestuft. Obwohl der Europäische Gerichtshof 2011 die Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht anerkannt hat, wird die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung nur in Einzelfällen als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet, womit lediglich ein Abschiebeschutz in Frage kommt.
Allein im Falle russischer Deserteur*innen sieht das Bundesinnenministerium das anders, weil es davon ausgeht, dass diesen Verfolgungshandlungen aus politischen Gründen drohen. Wörtlich heißt es in einer Mitteilung des Bundesinnenministeriums vom Mai 2022 dazu, es könne „davon ausgegangen werden, dass drohende Verfolgungshandlungen in der Regel in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) erfolgen. Da bereits die Bezeichnung ‚Krieg‘, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden.“
In der Mitteilung des Bundesinnenministeriums wird jedoch ausdrücklich weiter ausgeführt, dass russische „Wehrdienstflüchtlinge von den Ausführungen nicht umfasst“ sind.
Hohe Ablehnungsquote bei Asylanträgen
Mit dieser Praxis des BAMF wird nachvollziehbar, warum ein so großer Prozentsatz der Asylanträge russischer Staatsbürger*innen abgelehnt wird. Neben einer Desertion wird in der Regel nur noch Personen Flüchtlingsschutz gewährt, die politisch aktiv waren und denen deshalb Verfolgung droht. Wenn wir uns dazu die Zahlen über Entscheidungen aus den Jahren 2022 bis 2024 anschauen, stellen wir fest, dass lediglich 6,3% der männlichen Antragsteller zwischen 18 und 45 Jahren einen irgendwie gearteten Schutz erhalten. 32,6% werden abgelehnt.
Sehr hoch ist auch die Zahl der „formellen Verfahrenserledigungen“. Hinter diesem Begriff verbergen sich in den meisten Fällen Entscheidungen zur Dublin-III-Verordnung. In dieser ist geregelt, welches europäische Land des Schengen-Raumes für das Asylverfahren zuständig ist. Viele russische Militärdienstentzieher*innen oder Deserteur*innen konnten Deutschland nur über illegale Fluchtwege auf dem Landweg über die osteuropäischen Staaten erreichen, oder reisten mit einem Visum über ein anderes EU-Land ein. Aufgrund von Dublin-III ist dann in der Regel dieser Staat für die Bearbeitung des Asylantrages zuständig, selbst in den Fällen, in denen sie hier in Deutschland durch Verwandte oder Freund*innen umfangreiche Unterstützung erhalten würden.
Um dem entgegenzuwirken, haben einige Kirchengemeinden russische Verweiger*innen ins Kirchenasyl aufgenommen. Damit soll eine Abschiebung insbesondere in Länder wie Litauen, Polen oder Kroatien verhindert werden.
Einige positive Entscheidungen
In den Asylverfahren russischer Deserteur*innen und Verweiger*innen spielt immer wieder eine Regelung der europäischen Gesetzgebung eine Rolle, die sogenannte Qualifikationsrichtlinie. Sie regelt in Artikel 9, wer als Flüchtling in der Europäischen Union anerkannt werden kann. Hier findet sich ein Passus, der besagt, dass dies bei drohender Strafverfolgung wegen Verweigerung der Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen der Fall ist. Russische Verweiger*innen, Militärdienstentzieher*innen und Deserteur*innen sehen sich einer solchen Strafverfolgung ausgesetzt. In der Rechtsprechung wird aber die Frage aufgeworfen, unter welchen Umständen diese Regelung greift.
Hierüber hat der Europäische Gerichtshof, das höchste Gericht der Europäischen Union, bereits zwei Mal verhandelt. Damit wurden einige Voraussetzungen definiert, die es leider angesichts der aktuellen Situation wenig wahrscheinlich machen, dass darüber für die Betroffenen tatsächlich ein Schutz erreicht werden kann. Denn die Betroffenen müssten zuvor in ihrem Staat einen förmlichen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben, der abgelehnt wurde oder sie zumindest nicht davor bewahrt, als Teil der Truppe ins Kriegsgebiet entsendet zu werden. Sie müssten nachweisen, dass sie wirklich rekrutiert wurden und ein Einsatz im Krieg ernsthaft droht. Kaum jemand wird diese Kriterien erfüllen können.
Wie es dennoch gehen kann, machte das Verwaltungsgericht Halle in einer Entscheidung vom 27. April 2023 deutlich. Im Falle eines Folgeantrages russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit urteilt es: „Im Fall des Klägers (…) liegt indes deshalb ein Nachfluchttatbestand vor, weil ihm als 38-jährigem tschetschenischem Mann ohne gesundheitliche Einschränkungen bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland die Zwangsrekrutierung für den Kriegsdienst in der Ukraine droht. Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG kann nämlich […] auch Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt [gelten], wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3Abs. 2 AsylG fallen würden. […] Der von Russland in der Ukraine geführte Krieg ist ein völkerrechtlicher Angriffskrieg und den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln zufolge erscheint es […] beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger […] als gesunder tschetschenischer Mann gegen seinen Willen für eine tschetschenische Kampfeinheit eingezogen und in die Ukraine entsendet wird, um dort Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen oder zumindest den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderzuhandeln.“
Eine weitere positive Entscheidung traf das Verwaltungsgericht Berlin am 20. März 2023 im Falle eines 17-jährigen Tschetschenen: „Dem Kläger […] droht ein ernsthafter Schaden in Form der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, weil beachtlich wahrscheinlich ist, dass er nach seiner Rückkehr und in Zusammenhang mit dieser zum Wehrdienst eingezogen wird […] und ab diesem Zeitpunkt auch die beachtlich wahrscheinliche Gefahr der Entsendung in den Ukraine-Krieg besteht […], wo der Kläger […] damit zu rechnen hätte, zwangsweise an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und völkerrechts- und/oder menschenrechtswidrigen Handlungen teilnehmen zu müssen bzw. selbst schweren Schaden an Leib und Leben zu erleiden.“
Die große Kammer des Nationalen Asylgerichtshof (CNDA) in Frankreich urteilte am 6. September 2023, dass russische Staatsangehörige, die sich der Teilmobilmachung oder Zwangsrekrutierung im Rahmen des Krieges in der Ukraine verweigern, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden muss, da sie aufgrund der groß angelegten Begehung von Kriegsverbrechen durch die russischen Streitkräfte dazu veranlasst würden, solche Verbrechen direkt oder indirekt zu begehen. Sie müssten allerdings nachweisen, dass ihnen tatsächlich eine Rekrutierung für den Krieg droht. Der Gerichtshof stellte außerdem fest, dass die Teilmobilmachung im September 2022 weit gefasst war und es nicht möglich war, sich durch die Ableistung eines alternativen Zivildienstes dem Militärdienst zu entziehen. Zudem sei die Mobilmachung mit zahlreichen Unregelmäßigkeiten behaftet gewesen, die sowohl Betroffene als auch die Mobilmachungsverfahren betreffen. Der CNDA erklärte auch, dass die Teilmobilmachung de jure und de facto noch immer in Kraft ist, obwohl der russische Verteidigungsminister erklärt hatte, dass Mobilisierungsziel sei Ende 2022 erreicht. Personen, die sich der Mobilisierung widersetzen, müssen mit einer strafrechtlichen Verfolgung und Sanktionen rechnen.
Oberverwaltungsgericht sieht keine Gefährdung
Am 22. August 2024 folgte nun ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Berlin-Brandenburg, mit dem ein ähnliches positives Urteil des VG Berlin aufgehoben wurde (AZ 12 B 17/23). Es geht hier um einen tschetschenischen jungen Mann, der bislang keinen Militärdienst in Russland abgeleistet hat. Obwohl das Gericht davon ausgeht, dass er zum Militärdienst rekrutiert werden könnte, sieht es keine Gefährdung. Er würde als Militärdienstpflichtiger „nicht beachtlich wahrscheinlich in der Ukraine und damit in einem völkerrechtswidrigen Krieg eingesetzt“ werden. Dem widerspricht Artyom Klyga, Leiter der Rechtsabteilung der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland, in einem Schreiben am 11. November 2024: „Nein, Männer können auch ohne vorherige Ableistung des Militärdienstes mobilisiert werden. (...) So wurde zum Beispiel ich persönlich zur Mobilisierung aufgerufen, obwohl ich vom regulären Militärdienst befreit wurde.“
Bezüglich eines möglichen Einsatzes in der Region Kursk gegen die dort einmarschierten Truppen der Ukraine erklärt das Gericht, der finde „auf russischem Territorium statt“ und diene „der Abwehr der ukrainischen Offensive“. Das Gericht kommt zu dem Schluss: „Der Kampfeinsatz der Wehrpflichtigen findet nicht statt, um das Gebiet der Ukraine oder Teile davon völkerrechtswidrig zu erobern, zu besetzen oder zu annektieren.“ Dem Kläger drohe daher keine „Verstrickung in den Angriffskrieg gegen die Ukraine.“
Dies Urteil ist in der Tat sehr ernüchternd, bestätigt es doch zum einen die Praxis, Betroffene wegen „nicht beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ abzulehnen. Zum anderen zeigt es, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Militäraktionen Russlands in fahrlässiger Weise in die in der Ukraine und die außerhalb der Ukraine aufspaltet und auch eine Beihilfe völlig außer Acht lässt, nur um damit jeden Schutz zu verweigern. Wir müssen leider davon ausgehen, dass andere Gerichte dieser Argumentation folgen werden.
Resümee: Gegen die Logik von Zahlenspielereien
Wir stellen fest: Es gibt verschiedene juristische Ansätze, völkerrechtswidrige Handlungen, Angriffskriege und völkerrechtswidrige Kriege zu ahnden. Es gibt sogar über die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union den Ansatz, dass Personen geschützt werden sollen, die sich diesen völkerrechtswidrigen Handlungen verweigern und Verfolgung befürchten müssen. Die Rechtspraxis sieht dies aber nur als Ausnahmeregelung, die vom Flüchtling selbst nachgewiesen werden muss. In besonders offensichtlicher Art und Weise wird dies über die Definition der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ umgesetzt.
Das ist nicht hinnehmbar. Aus dem Völkerrecht ergibt sich eine Verpflichtung – sowohl von Staaten wie auch von Einzelpersonen – sich völkerrechtskonform zu verhalten, sich also nicht an Kriegsverbrechen, völkerrechtswidrigen Handlungen oder einem Angriffskrieg zu beteiligen. Und dieser Pflicht können Personen nicht enthoben werden mit dem Argument, es sei nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie in solch eine Situation geraten. Kurz: Wenn es diese Pflicht zur Verweigerung und Entziehung gibt, dann müssen diese Personen auch Schutz erhalten, wenn ihnen mit welcher Wahrscheinlichkeit auch immer eine Verfolgung droht. In den Asylverfahren müsste das bedeuten, dass die Behörden nachzuweisen haben, dass eine solche Verfolgung nicht nur unwahrscheinlich ist, sondern tatsächlich nicht besteht. Anders ausgedrückt: In jedem Einzelfall, in dem die behördliche Entscheidung dazu führt, dass ein Asylantragstellender nach Ablehnung und Abschiebung doch für einen Angriffskrieg zwangsweise rekrutiert wird, ist dies als Beihilfe zu werten.
Weitere Informationen stellt Connection e.V. regelmäßig im Rahmen der #ObjectWarCampaign zur Verfügung, mit der sich ein Verbund von europaweit mehr als 100 Organisationen für den Schutz und Asyl für Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine einsetzt: www.Connection-eV.org/ObjectWarCampaign und https://objectwarcampaign.org.
Connection e.V.: Klare Forderung auf Asyl bei Verweigerung eines Angriffskrieges. 18. November 2024. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2024
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