Türkei: Vicdani Ret İzleme und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung
(24.02.2025) Merve Arkun ist Vorsitzende der türkischen Initiative Vicdani Ret İzleme (dt. Beobachtungsstelle Kriegsdienstverweigerung). Während der Veranstaltung „Der Zivile Tod: Kriegsdienstverweigerung in der Türkei“ am 24. Februar in Frankfurt am Main hat sie die Situation der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei und die Arbeit von Vicdani Ret İzleme vorgestellt. Dies ist eine Mitschrift ihres Beitrags (Anm. der Redaktion).
Geschichte der Kriegsdienstverweigerung
In der Türkei erklärten die ersten Kriegsdienstverweigerer Anfang der 1990er Jahre öffentlich ihre Verweigerung und setzten sich gegen den Krieg, das Militär und die Militärdienstpflicht ein.
In den 90er Jahren begannen Kriegsdienstverweiger*innen und Antikriegsaktivist*innen, sich in verschiedenen Städten der Türkei zu organisieren. Sie führten Antikriegsaktivitäten durch und Solidaritätskampagnen für gefährdete Kriegsdienstverweiger*innen. Trotz all des Drucks und der organisatorischen Schwierigkeiten wurde die Kriegsdienstverweigerung sichtbar gemacht.
Nach dem Jahr 2000 begannen verschiedene gesellschaftliche Gruppen, sich für die Kriegsdienstverweigerungsbewegung zu interessieren. Frauen, Gymnasiast*innen, Anarchist*innen, Sozialist*innen, Muslime, Kurd*innen entwickelten eigene Dynamiken in der Kriegsdienstverweigerungsbewegung. Dies war ein wichtiger Schritt, damit die Bewegung in die Gesellschaft hinein wirken konnte.
2013 wurde der Verband zur Kriegsdienstverweigerung (VR-DER) gegründet. Das war für die Bewegung ein Meilenstein. In vielen Städten wurde Lobbyarbeit für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung geleistet. In weiteren Städten außerhalb von Ankara, Istanbul und Izmir fanden Veranstaltungen und Treffen statt.
In dieser Zeit versuchten wir, die Kriegsdienstverweigerung in der Türkei bekannter zu machen, organisierten einige Lobby-Aktivitäten auf nationaler und internationaler Ebene und konzentrierten uns auf die verschiedenen Aspekte des Militarismus, wie z.B. verdächtige Todesfälle in der Armee.
Aufgrund der antidemokratischen, repressiven und autoritären Situation in der Türkei seit 2015 wurden Verweigerungserklärungen und Kriegsdienstverweigerungsaktivitäten eingeschränkt. Gegen Vorstand und Mitglieder des Verbandes wurden wiederholt Ermittlungen und Gerichtsverfahren aufgrund von Aktivitäten, Veranstaltungen, Äußerungen und Posts in den sozialen Medien eingeleitet. Aufgrund der repressiven politischen Atmosphäre begannen Kriegsdienstverweiger*innen, in EU-Ländern Asyl zu suchen.
Aufgrund dieser politischen Repressionen und der formalen Einschränkungen mussten wir unsere frühere Organisation, den Verband zur Kriegsdienstverweigerung, schließen. Die aktiven Mitglieder arbeiten nun als Conscientious Objection Watch weiter, die seit Anfang 2022 die aktuelle Situation der Kriegsdienstverweigerungsbewegung aktiv beobachtet und darüber berichtet.
Aktuelle Situation der Kriegsdienstverweiger*innen in der Türkei
Die Türkei ist das einzige Mitgliedsland des Europarates, das das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkannt hat. Kriegsdienstverweigerer werden durch viele verschiedene Sanktionen gezwungen, den Militärdienst abzuleisten. Ihnen drohen ständige Haftbefehle, ein lebenslanger Kreislauf von Verfolgungen und Inhaftierungen und eine Situation des „zivilen Todes“.
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird nicht anerkannt, es gibt kein Verfahren, das Kriegsdienstverweigerer wahrnehmen können, und es gibt auch keinen alternativen Zivildienst.
Rechtliche Situation
Nach dem Militärdienstgesetz ist jeder Mann zwischen 20 und 41 Jahren zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet. In der Praxis ist eine lebenslange Rekrutierung möglich.
Da es kein Gesetz über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, werden die Verweigerer in der Türkei als Kriegsdienstverweigerer oder Militärdienstentzieher kriminalisiert. Ihnen drohen Bußgelder, Strafverfahren und wiederholte Verurteilungen.
Ersatzzahlung
Seit 2019 ist ein verkürzter Militärdienst durch Zahlung eines Geldbetrags möglich. Wer eine bestimmte, vom Verteidigungsministerium festgelegte Summe zahlt und einen Monat der militärischen Grundausbildung absolviert, hat seine Militärdienstpflicht erfüllt. In Zeiten des Krieges und der Mobilmachung ist eine Verkürzung des Militärdienstes durch Bezahlung jedoch nicht möglich. Es ist wichtig zu betonen, dass der verkürzte Militärdienst durch Bezahlung keine geeignete Option für Kriegsdienstverweigerer ist und nicht für alle Kriegsdienstverweigerer verfügbar ist.
Wehrpflichtgesetz
Nach dem Militärdienstgesetz werden Kriegsdienstverweigerer, Militärdienstentzieher und Deserteure dem Innenministerium gemeldet, um sicherzustellen, dass sie zur Ableistung des Militärdienstes festgenommen werden. Bei jeder Identitätskontrolle, sei es auf Reisen, in Hotels oder bei regelmäßigen Ausweiskontrollen durch Polizei oder Gendarmerie, wird dies festgestellt. Sie erhalten dann eine Vorladung, ein Tutanak, in dem steht, dass sie sich innerhalb von 15 Tagen bei der Militärdienststelle melden sollen. Wer dem nicht folgt, kann nach 15 Tagen erneut vorgeladen werden.
Sie erhalten also jedes Mal, wenn sie bei einer Kontrolle aufgegriffen werden, diese Vorladung. Die Folge: zunächst Geldstrafen, dann Strafverfahren. Dies ist ein nie endender Kreislauf. Er geht so lange, bis die Person den Militärdienst abgeleistet hat.
Kriegsdienstverweiger*innen sind also ständig mit diesem unendlichen Kreislauf konfrontiert, der als „ziviler Tod“ bezeichnet wird. In der Folge erleiden sie verschiedene Menschenrechtsverletzungen. Hüseyin berichtet darüber in seinem Beitrag. (siehe Seite 16)
Nach unsere Daten betreffen die häufigsten Verletzungen/Einschränkungen der Rechte von Kriegsdienstverweigerern und Wehrpflichtigen im Jahr 2024 die Bewegungsfreiheit und das Recht auf Arbeit. Diese beiden Kategorien wirken sich direkt auf das soziale und wirtschaftliche Leben von Kriegsdienstverweigerern aus und vervielfachen die Auswirkungen des zivilen Todes auf ihr Leben.
Was macht die Beobachtungsstelle Kriegsdienstverweigerung
Wir beobachten die aktuelle Situation von Kriegsdienstverweigerern in der Türkei, die Menschenrechtsverletzungen, denen sie ausgesetzt sind, und die Gerichtsverfahren, die sie durchlaufen. Wir setzen uns für die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei ein und berichten über die nationalen und internationalen Entwicklungen in Bezug auf das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.
Da die türkische Regierung weiterhin darauf besteht, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anzuerkennen, nehmen die Einschränkungen und Rechtsverletzungen, denen sich Verweigerer ausgesetzt sehen, Tag für Tag zu.
Vor allem in den letzten Jahren hat die Zahl der Kriegsdienstverweigerer, die überlegen, ihr Heimatland zu verlassen und ins Ausland zu gehen, stark zugenommen: In den Anfragen, die bei Conscientious Objection Watch eingehen, ist die Zahl der Personen, die Informationen über das Verlassen des Landes oder Asyl suchen, sehr hoch.
Regelmäßige Berichterstattung: Wir veröffentlichen alle drei Monate Bulletins in Türkisch und Englisch. Die Bulletins helfen uns, zuverlässige und aktuelle Informationen für die Öffentlichkeit und die Medien zu verbreiten.
Rechtliche Unterstützung: Wir bieten den Kriegsdienstverweigerern rechtliche Unterstützung und versuchen, ihre Fälle zu verfolgen. Durch unsere rechtliche Unterstützung wird die Vertretung der Verweigerer vor den Justizbehörden gestärkt.
Lobbyarbeit: Lobbyarbeit beim Europarat, dem Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission und dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist Teil unserer Arbeit. Wir arbeiten in dieser Frage eng mit War Resisters‘ International, dem Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung, Connection e.V. und dem Quaker United Nations Office zusammen.
Kriegsdienstverweigerung in der Gesellschaft sichtbar machen: Wir sensibilisieren für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und organisieren die Öffentlichkeitsarbeit in der Türkei.
Wie können Kriegsdienstverweiger*innen in der Türkei unterstützt werden?
Stärkt unseren Kampf
Sie können öffentliche Veranstaltungen und Proteste organisieren, um die Kriegsdienstverweigerung in der Türkei sichtbar zu machen und CO Watch zu unterstützen.
Lobbyarbeit / Bewusstsein schaffen
Sie können unsere Lobbyarbeit unterstützen, Treffen mit Ihren Abgeordneten im Europäischen Parlament organisieren und sie über die Verletzung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei informieren. Sie können sie auffordern, uns zu unterstützen und mehr Druck auf die türkische Regierung auszuüben, damit sie die Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht anerkennt.
Langfristige Unterstützung
Wir führen eine Spendenaktion mit Unterstützung von Connection e.V. durch, damit wir langfristig arbeiten können.
Jede Spende für unsere Arbeit kann uns helfen, Kriegsdienstverweigerer rechtlich zu unterstützen, weiterhin für die Kriegsdienstverweigerung in der Türkei einzutreten und unsere Bemühungen um die Organisation der Kriegsdienstverweigerung in der Gesellschaft zu unterstützen.
Weitere Informationen zur Arbeit von Vicdani Ret İzleme findet ihr auf der Website der Initiative unter https://vicdaniret.org/ (in Englisch) und auf der Projektseite www.connection-ev.org/KDV_Tuerkei (auf Deutsch und Englisch). Der Jahresbericht 2024 sowie weiteres Informationsmaterial kann in unserem Onlineshop unter www.connection-ev.org/shop/ bestellt werden.
Merve Arkun: Türkiye’de Vicdani Ret. 24. Februar 2025. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe März 2025
Stichworte: ⇒ Kriegsdienstverweigerung ⇒ Türkei