Türkei: „Ich versuche, diese Situation in meinem Leben zu normalisieren“

von Hüseyin Civan

(24.02.2025) Der Kriegsdienstverweigerer Hüseyin Civan berichtete während der Veranstaltung „Der Zivile Tod: Kriegsdienstverweigerung in der Türkei“ am 24. Februar in Frankfurt am Main über seine Erfahrungen, seinen Alltag und was es bedeutet, mit dem „Zivilen Tod“ konfrontiert zu sein (Anm. der Redaktion).

Ich bin Hüseyin Civan, Ich bin 39 Jahre alt. Ich bin ein Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei.

Heute werde ich über meine persönlichen Erfahrungen als Verweigerer in der Türkei sprechen. Um die Kriegsdienstverweigerungsbewegung in der Türkei zu verstehen, ist es jedoch notwendig, einige Merkmale des Militärs in der Türkei näher zu erläutern.

Wir kommen aus einer Geografie, in der die Worte des Gründers des Landes (und gleichzeitig des Oberbefehlshabers) groß an die Wände öffentlicher Gebäude geschrieben wurden: „Das größte Recht des Bürgers ist die Wahl und die größte Pflicht des Bürgers ist der Militärdienst“. Es ist ein Land, wo bis vor kurzem Militärkommandanten an den Gymnasien unterrichteten. Es ist ein Land, wo es wiederholt Militärputsche gab. Wir kommen aus einer Geografie, in der es eine Armee gibt, die sehr kreativ darin ist, sich innere und äußere Feinde zu schaffen, die nicht zögert, Krieg zu führen und die Völker, die in dem von ihr beherrschten Land leben, niederzumetzeln.

Die drei Säulen, auf denen die Armee, der Anker der sozialen, politischen und manchmal auch wirtschaftlichen Ordnung der Türkei, ruht, ermöglichen es uns, nicht nur die Armee, sondern auch die militaristische Mentalität zu verstehen. Ich werde versuchen, diese drei Säulen mit drei Slogans zu erklären, die in der Türkei zu Klischees geworden sind.

“Jeder Türke wird als Soldat geboren”

Wenn wir die Geschichte der Türkei betrachten, sehen wir, dass bei der Gründung des Landes der Bürger als eine Person definiert wurde, die sich für die nationalen Ziele einsetzen soll, und die Bedrohungen für das nationale Ziel wurden sehr detailliert beschrieben.

Interne Bedrohungen könnten danach Gedanken und Handlungen sein, die sich gegen die Integrität der Nation und des Landes richten; äußere Bedrohungen könnten Feinde sein, die strategische Regionen begehren, oder es seien Bedrohungen durch Nachbarländer. Die Armee sei ein unverzichtbares Element, um gegen diese Bedrohungen gewappnet zu sein.

In der Türkei wird das „Türkentum“ mit der nationalistischen Ideologie verbunden, und die Eigenschaft „Soldat“ wird dieser Ideologie hinzugefügt. Die Armee ist verpflichtet, für den Staat geeignete Bürger zu schaffen. Der Staat mobilisiert diese Bürger innerhalb der Armee.

Diese untrennbare Verbindung zwischen der nationalistischen Ideologie und dem Militärdienst in der Türkei ist auf diese Staatsideologie zurückzuführen.  Die einfachste Zusammenfassung dieser Ideologie ist der Slogan „Jeder Türke wird als Soldat geboren“

“Unser Heimatland ist unsere Ehre wir sind verpflichtet es zu schützen”

Der Militarismus in der Türkei ist eng mit Sexismus, Patriarchat, Heterosexismus und allen Arten von Diskriminierung verwoben.

In der Türkei wird davon ausgegangen, dass Männer, die keinen Militärdienst geleistet haben, „das Ritual der Männlichkeit nicht erfüllt“ haben. Daher werden sie nicht als „echte Männer“ angesehen. Diese Situation ist in den von Männern dominierten sozialen Beziehungen ganz entscheidend.

Das Verhältnis zwischen Staatsbürgerschaft und Teilnahme an der Armee macht auch die Männer, die dazu verpflichtet sind, die Militärdienstpflicht zu erfüllen, zu „Bürgern erster Klasse“, während die Frauen auf die Rolle der „heiligen Mütter“ beschränkt sind, die geschützt werden müssen, um den Fortbestand der Nation sichern.

Diese unbestreitbare Beziehung zwischen Militärdienstpflicht und Patriarchat hat auch zu einem Wendepunkt in der türkischen Kriegsdienstverweigerungsbewegung geführt, und Kriegsdienstverweigerinnen sind zu einer Dynamik im Kampf gegen Militärdienstpflicht und Militarismus geworden.

“Die Armee ist das Haus des Propheten”

Der religiöse Charakter der Armee in der Türkei ist mit einem ideologischen Rahmen verbunden. Einberufene folgen dieser Linie angesichts drohender materieller und moralischer Verluste.

Das Sterben für das Vaterland und die Nation wird zu einer Ehre erklärt. Durch die Religion erhalten diese Tode eine sakrale Dimension. In der Türkei ist das Märtyrertum ein Versprechen auf das Paradies nach dem Tod. Der dschihadistische Charakter des Islams bietet in der Türkei auch eine nützliche Verbindung zwischen dem militärischen und dem spirituellen Bereich.  Er ist nützlich für die Mobilisierung sozialer Segmente, die die türkische Ideologie nur schwer homogenisieren kann. Genau aus diesem Grund wird die Institution des Militärdienstes in der Türkei oft als „Haus des Propheten“ bezeichnet.

Diese drei Punkte sind wichtig für das Verständnis der militaristischen Struktur und Mentalität in der Türkei. Unabhängig davon, wie bestimmend Ideologie und Unterdrückung waren, gab es bei all diesen Prozessen immer wieder Aussteiger oder Deserteure. Die Geschichte derjenigen, die nicht im Militär dienen wollen, ist mindestens so alt wie die moderne Armee. Nach 1989 konnte die Existenz der Kriegsdienstverweigerung, die sich als politische Bewegung entwickelte, gesellschaftliche Segmente in der Türkei beeinflussen und schuf die Möglichkeit, das herrschende System in Frage zu stellen.

Meine Kriegsdienstverweigerung

Während meiner Studienzeit wurde ich auf Kriegsdienstverweigerung und Antimilitarismus aufmerksam. Dieser Prozess war auch eine Zeit, in der ich meine politischen Gedanken formte.

Ich sah die Schwierigkeiten, denen Kriegsdienstverweiger*innen in den 90er und 2000er Jahren ausgesetzt waren. Als jemand, der sich für Frieden, Leben und Freiheit einsetzt, beschloss ich, meine Kriegsdienstverweigerung zu erklären.

Im Jahr 2015 erklärte ein Freund von mir, ein anarchistischer Gefangener, seine Verweigerung gegen eine größere Militäroperation, die zu dieser Zeit in den kurdischen Provinzen stattfand. Diese Situation hat mich sehr berührt. Unter dem Einfluss der eben erwähnten politischen Beweggründe erklärte auch ich 2015 auf einer in Istanbul organisierten Demonstration öffentlich meine Verweigerung.

Als ich meine Kriegsdienstverweigerung erklärte, machte ich gerade einen Master-Abschluss in Politikwissenschaft und hatte einige Pläne für die Zukunft im akademischen Bereich. Leider konnte ich meinen Master nicht abschließen, weil ich meinen Militärdienst nicht abgeleistet habe. Man muss den Militärdienst ableisten, um die akademische Laufbahn fortsetzen zu können. Das hatte einen großen Einfluss auf meine Zukunftspläne. Ich hatte zwei Möglichkeiten: zum einen den Militärdienst abzuleisten und zum anderen mich weiterhin zu weigern. Ich entschied mich für die zweite Möglichkeit. Das war die Zeit, in der ich die Auswirkungen des Militärdienstes auf mein Leben am deutlichsten und direktesten spürte.

Die zweite und auch die dauerhafte direkte Auswirkung der Kriegsdienstverweigerung betrifft mein Arbeitsleben. Selbst mit einem Bachelor-Abschluss bin ich in einer Position, in der ich weder in staatlichen Einrichtungen noch in der Privatwirtschaft arbeiten kann. Eines der häufigsten Einstellungskriterien für Männer im privaten oder öffentlichen Sektor in der Türkei ist die Erfüllung der Militärdienstpflicht. Und für Arbeitgeber ist es auch riskant, jemanden einzustellen, der nicht beim Militär gedient hat. Für mich bedeutet das, dass ich ständig gezwungen bin, unversichert und unregistriert zu arbeiten und dass ich ständig auf der Suche nach einem Job bin. Das ist für mich ein ewiger Kreislauf. In den vergangenen Jahren war ich gezwungen einige Stellen aufzugeben, weil ich den Militärdienst verweigert habe. Deshalb fühle ich mich in jeder Art von Job, den ich ausübe, unsicher. Ich kann nicht wissen, wie lange ich in diesen Jobs arbeiten kann oder wann ich entlassen werde.

Zusätzlich zu dieser wirtschaftlichen Herausforderung für mich kann ich auch kein Bankkonto nutzen, das auf meinen eigenen Namen eingetragen ist. Es gibt verschiedene Geldstrafen, die gegen mich verhängt werden, weil ich Kriegsdienstverweigerer bin. Wenn ich ein persönliches Bankkonto habe, kann es wegen dieser Bußgelder gesperrt werden. Da ich nicht in der Lage bin, ein persönliches Bankkonto zu haben, gibt es einige andere indirekte Folgen. Als ich beispielsweise ein Visum beantragte, musste ich meine „wirtschaftlichen Verhältnisse“ anhand der Kontobewegungen nachweisen. Da ich kein Konto auf meinen eigenen Namen habe, musste ich weitere Dokumente vorlegen. Ich legte das Bankkonto meiner Frau als Nachweis vor und legte auch einige andere Dokumente vor, die mehr über meine persönliche Situation aussagen.

In den vergangenen Jahren war ich mit einigen willkürlichen Praktiken in einigen staatlichen Einrichtungen konfrontiert. Als ich vor ein paar Jahren bei einer staatlichen Einrichtung einen Reisepass beantragte, stieß ich auf einige Schwierigkeiten. Mein Passantrag im Jahr 2015 wurde unrechtmäßig blockiert. Obwohl dies für jeden ein einfacher Vorgang ist, wurde es für mich zu einem großen Problem. Erst nach einem mehrmonatigen Verfahren gelang es mir, meinen Reisepass zu erhalten.

Im Jahr 2022 erfuhr ich, dass gegen mich ein Ermittlungsverfahren wegen „Verstoßes gegen das Miliitärdienstgesetz“ eingeleitet wurde. Ich ging zur Staatsanwaltschaft und erklärte, dass ich Kriegsdienstverweigerer bin und nicht zum Militär gehen werde. Bisher ist es noch nicht zu einem Verfahren gekommen, aber wahrscheinlich wird es dazu kommen.

Auch die Einschränkung meiner Reisefreiheit gehört zu den häufigsten Verstößen gegen meine Rechte. Jedes Mal, wenn ich reise, komme ich in Ausweiskontrollen, die in der Türkei sehr üblich sind. Dabei erhalte ich eine Vorladung, genannt Tutanak, weil ich ein Verweigerer bin. Dies führt dann zu Geldstrafen. Ein einfaches Beispiel: Manchmal werde ich sogar beim Einkaufen damit konfrontiert. Das hängt natürlich von der Laune der Beamten ab. Ich habe auch schon Situationen erlebt, in denen ich lange warten musste, zur Polizeiwache oder zum Rekrutierungsbüro gebracht und dort abgefertigt wurde. Dieser Prozess kann manchmal sehr stressig sein.

All diese Schwierigkeiten, betreffen nicht nur mich. Ich habe eine Familie und einen sieben Jahre alten Sohn. Wir sind mit diesen Schwierigkeiten gemeinsam konfrontiert. Ich habe auf die wirtschaftlichen Herausforderungen hingewiesen; ich kann nicht sozialversichert arbeiten. Das bedeutet, dass wir keine Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen können. Und es ist mir unmöglich, eine Rente zu bekommen. Wir wurden mehrfach von der Polizei und der Gendarmerie kontrolliert, sie hielten unser Auto an, und als sie merkten, dass ich ein Verweigerer bin, holten sie mich aus dem Auto. Manchmal zwangen sie mich zu warten oder brachten mich zur Polizeiwache oder zum Rekrutierungsbüro.

Es war schwierig für mich und meine Frau, unserem Kind diese Situation zu erklären. Denn mein Sohn sah, dass sein Vater von Gendarmerie oder Polizei mitgenommen wurde, und das stresste ihn, das haben wir deutlich gesehen.

Einige sehr grundlegende Dinge sind auch für uns als Familie sehr schwierig. Sogar einen Familienurlaub zu planen... Denn es ist ein Problem für mich, frei zu reisen oder in einem Hotel zu übernachten.

Wie ich schon sagte, ist es für mich nicht leicht, all diese Schwierigkeiten zu überwinden. Also versuche ich, diese Situation in meinem Leben zu normalisieren. Ich weiß, dass ich überall angehalten werden kann, ich kann jeden Monat ein neues Tutanak bekommen, ich kann mehrmals mit der gleichen Anklage bestraft werden. Das ist für mich ein nie endender Kreislauf. Wir versuchen also, unser Leben und mein Familienleben entsprechend dieser Situation zu planen.

Die Entscheidung, sich zu weigern, jemanden zu töten, sollte nicht zu ständigem Druck und Drohungen im eigenen Leben führen. Das ist nicht richtig.

Hüseyin Civan: O yüzden bu durumu hayatımda normalleştirmeye çalışıyorum. 24. Februar 2025. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe März 2025

Stichworte:    ⇒ Kriegsdienstverweigerer berichten   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Türkei