Türkei: Militaristische Traditionen
(07.04.2025) Im folgenden Beitrag zeigt der Kriegsdienstverweigerer Hüseyin Civan auf, mit welcher Art von militaristischer Tradition die antimilitaristische Bewegung bzw. die Kriegsdienstverweigerungsbewegung in der Türkei konfrontiert ist. (d. Red.)
Die Armee ist einer der unvermeidlichen Akteure der nationalen Realität. Die Armee ist der Anker der sozialen, politischen und manchmal auch wirtschaftlichen Ordnung der Türkei. Die moderne Türkei wurde von militärischen Eliten gegründet. Der Titel des Gründers des Landes, Kemal Atatürk, ist nicht nur der des Gründers, sondern auch der des Oberbefehlshabers. Die Türkei ist ein Land, in dem die Worte dieses Oberbefehlshabers „Das größte Recht des Bürgers ist die Wahl und die größte Pflicht des Bürgers ist der Militärdienst“ in großen Buchstaben an den Wänden öffentlicher Gebäude geschrieben stehen. Es ist ein Land,
- in dem bis 1945 alle Menschen im Alter von 12 bis 30 Jahren gemäß dem Gesetz über die körperliche Ertüchtigung einer militärischen Disziplin unterworfen wurden;1
- in dem bis vor kurzem Militärkommandanten den Unterricht an Gymnasien besuchten;
- in dem das Militär 1960 und 1980 putschte und die Macht an sich riss;
- in dem die Regierung 1971 vom Militär zum Rücktritt gezwungen wurde;
- in dem Begriffe wie „postmoderner Putsch“ (1997) und „elektronisches Militärmemorandum“ (2007) Einzug in die politische Szene hielten.
Sogar der derzeitige defacto-Notstand hat mit dem gescheiterten Militärputsch und seinen Folgen zu tun, die nach den Rivalitäten zwischen den regierenden Cliquen im Jahr 2016 entstanden sind.
Die Armee, die seit den Anfängen des modernen Staates ein so wichtiger Akteur ist, hat einen großen Einfluss auf das Leben der Menschen in unserer Geografie. Dieser Einfluss hängt mit den Beweggründen für die Akzeptanz der Armee durch die Menschen zusammen. Manchmal beruhen diese Motivationen auf der nationalen Identität, manchmal auf den Geschlechterrollen und manchmal auf religiösen Einflüssen. Diese drei Elemente zu erkennen, ist sehr hilfreich, um die Armee, das militaristische System und die Mentalität in der Türkei zu verstehen. Ich werde versuchen, diese drei Elemente mit drei Slogans zu erklären, die in der Türkei zu Klischees geworden sind.
Jeder Türke wird als Soldat geboren!
Die Wehrpflicht stand im Osmanischen Reich ab dem späten 18. Jahrhundert auf der Tagesordnung. Im Vergleich zu europäischen Staaten war ein erheblicher Teil der Bevölkerung vom Militärdienst befreit. Nicht-Muslime (als Gegenleistung für Steuern), die in Istanbul-Mekka-Medina lebenden Menschen, Pilger, religiöse Beamte und Religionsschüler waren vom Militärdienst befreit.
Die protestantische Tradition im Osmanischen Reich war wurzellos und schwach. Die christliche Bevölkerung gehörte eher zu den großen Kirchen als zu den Quäkern oder den Zeugen Jehovas. Die sozialistische Bewegung entstand im 20. Jahrhundert und blieb eine Minderheitengemeinschaft in einigen wenigen Großstädten, die fast ausschließlich aus Nicht-Muslimen bestand. Außerdem gab es keine einheimische Tradition des muslimischen Pazifismus.
Die Bedeutung all dessen war also die folgende: Die Weigerung, aus religiösen oder politischen Gründen zu kämpfen, war im Osmanischen Reich unbekannt. Trotzdem gab es viele Menschen, die sich nicht zum Militärdienst melden wollten. Die Zahl der Deserteure in der osmanischen Armee während des Ersten Weltkriegs war im Vergleich zu Europa unvorstellbar hoch. In Deutschland beispielsweise waren 1% der Wehrpflichtigen des Ersten Weltkriegs Deserteure. Im Osmanischen Reich lag diese Zahl bei 20%. Am Ende des Krieges betrug die Zahl der Deserteure eine halbe Million.2 In den 1920er Jahren wurden Unabhängigkeitstribunale eingerichtet, um Deserteure zu bekämpfen, und das „Deserteursgesetz“ wurde erlassen. In den Jahren 1920-21 kam es zu Hinrichtungen, Inhaftierungen und der Enteignung von Familienbesitz. Die Desertionsrate wurde durch das Schüren von Angst und durch Terror gegenüber der Bevölkerung reduziert.
Dies ist genau der Ausgangspunkt dafür, zu definieren, welche Rolle der Bürger in der Nation haben solle. Die Ideologie der Militärnation wird genau in einem solchen Prozess gebildet. Die sich daraus formende Ideologie wird von den militärischen Eliten, den Begründern des modernen Staates, definiert. Nach dieser Ideologie ist die Geschichte ein Kampf der Nationen. Dieser Kampf könne mit einem starken und militärischen Staat erfolgreich bewältigt werden. Zu diesem Zweck müsse das Land rasch „homelandisiert“ und das Volk rasch in eine „Nation“ verwandelt werden. Letztlich bedeutet das eine totale Militarisierung der Gesellschaft.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts besteht die Aufgabe der Armee darin, die Idee des „Nationalgefühls“, der „Vaterlandsliebe“ und des „Staates“ zu verbreiten. Der Militärdienst wird als unverzichtbare und obligatorische Einrichtung dargestellt, um sowohl die materielle als auch die geistige Gesundheit des Organismus namens Nation zu schützen.
Ein Bürger wird als eine Person definiert, die das gemeinsame Schicksal der türkischen Nation teilt und sich mit ihrem ganzen geistigen Wesen für das nationale Ziel einsetzt. Das nationale Ziel ist hier vage formuliert. Es kann die Verteidigung, die wirtschaftliche Entwicklung usw. sein. Detailliert definiert werden Bedrohungen, die sich gegen dieses nationale Ziel richten. Interne Bedrohungen seien Gedanken und Handlungen, die sich gegen die Integrität der Nation und des Landes wenden; das Schüren von Rassen-, Religions- und Sprachunterschieden; das Ausnutzen wirtschaftlicher und sozialer Unruhen und die Aufwiegelung des Volkes gegen den Staat... Äußere Bedrohungen seien Feinde, die strategische Regionen begehren; Nachbarländer der ölreichen Länder des Nahen Ostens; Bedrohungen von Nachbarländern usw.
Außerhalb dieser Bedrohungen wird nichts anderes mehr wahrgenommen. Es wird die Vorstellung vermittelt, dass es immer innere oder äußere „Feinde“ gibt. Daher seien die Nation, der Staat, das Land und damit der Militärdienst und der Krieg unvermeidlich.
Daher wird einerseits das „Türkentum“ erfunden, und andererseits wird die Eigenschaft „Soldat“ zu dieser neuen Erfindung hinzugefügt. Wenn es die Armee ist, die die Nation definiert, ist es für diese Nation unvermeidlich, Soldat zu sein. Mit dieser Ideologie aus mehr als einem Jahrhundert schafft die Armee staatsfähige Bürger, und der Staat mobilisiert diese Bürger innerhalb der Armee.
Diese untrennbare Verbindung zwischen der nationalistischen Ideologie und dem Militärdienst in der Türkei entspringt dieser Staatsideologie. Der klischeehafte Satz, der diese Verbindung symbolisiert, ist ein häufig verwendeter Slogan sowohl des Staates als auch der Armee: Jeder Türke wird als Soldat geboren!
Das Mutterland zu schützen ist unsere Ehre!
Der Militarismus ist mit Sexismus, Patriarchat, Heterosexismus und allen Formen der Diskriminierung verflochten und reproduziert diese Herrschaftssysteme.
In der Türkei wird davon ausgegangen, dass diejenigen, die nicht im Militär gedient haben, das Ritual der Männlichkeit nicht erfüllt haben. Daher werden diese Menschen nicht als echte Männer angesehen. Diese Situation ist entscheidend für die von Männern dominierten sozialen Beziehungen. Männer, die keinen Militärdienst abgeleistet haben, werden aus den sozialen Beziehungen ausgeschlossen. Sie sehen sich Hindernissen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder bei der Eheschließung ausgesetzt. Sie sollen die Rechte und Pflichten erfüllen, die sich aus dem Mannsein ergeben, und die Anforderungen der Staatsbürgerschaft erfüllen.
Da die Staatsbürgerschaft mit der Teilnahme an der Armee verbunden ist, wird ein Mann durch die Ableistung des Militärdienstes zu einem Bürger erster Klasse. Er wird zum Befehlshaber der Familie und hat die öffentliche Vertretung und Entscheidungsbefugnis. Männern, die in der Armee auf der untersten Ebene stehen, wird mit dem Versprechen, der Befehlshaber in der Familie zu sein, ein Gefühl der Überlegenheit vermittelt.
Während junge, „gesunde“, taugliche Männer zu Bürgern erster Klasse werden, wird Frauen die Rolle der „Soldatenfrau“, der „heiligen Mutter“ und der „Kriegerin“ zugewiesen, die den Fortbestand des Systems sichern. Auf diese Weise wird die Wehrpflicht institutionalisiert und der Prozess des „patriotischen Dienstes“ und des „Mannwerdens“ normalisiert.
Ferda Ülker, eine der ersten Kriegsdienstverweigerinnen, sagte: „Die Tatsache, dass Frauen relativ wenig mit der Armee zu tun haben, sollte nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass Frauen von der Armee ausgenommen sind und dass Kriegsdienstverweigerung keine Frauenangelegenheit ist. Die Armee hat mich als Soldatenmutter, Ehefrau, Arbeitskraft hinter der Front, Krankenschwester, Prostituierte und Kugelträgerin positioniert. Angesichts einer Institution, die so viele Pläne mit mir hat, bedeutet Kriegsdienstverweigerung nicht nur, nicht zur Armee zu gehen.“3
Frauen sind die Mütter der Armeenation. Dies wird in einen Zusammenhang mit der biologischen Produktivität der Frauen gestellt. Mit anderen Worten: Frauen, die Soldaten gebären, leiten daraus ihre Heiligkeit ab. Nach diesem patriarchalischen Ansatz gehören die Frauen wie das Vaterland zu denen, die es zu schützen gilt. Die Existenz der Frauen, die als schutzbedürftig gelten, ist immer von den Soldaten-Männern abhängig. Der Slogan „Das Mutterland zu schützen ist unsere Ehre“, der durch den sexistischen Ehrbegriff und seine vermeintliche Verbindung mit dem Vaterland entsteht, ist eines der am häufigsten verwendeten männerdominierten Klischees.
Die Armee ist das Haus des Propheten!
Der religiöse Charakter der Armee steht in engem Zusammenhang mit einem ideologischen Rahmen, die ein wehrpflichtiger Bürger angesichts drohender materieller und moralischer Verluste gutheißt. Die Religion hat die Funktion, den Nationalismus zu stärken, indem sie einen Opfermythos konstruiert. Während der Tod um des Vaterlandes und der Nation willen in etwas Ehrenhaftes und Respektables gewandelt wird, wird diesem Tod durch die Religion eine sakrale Dimension hinzugefügt. Der Zustand des Märtyrertums ist die gute Nachricht vom Paradies nach dem Tod.
Der dschihadistische Charakter des Islams bietet auch eine nützliche Verbindung zwischen dem Kämpferischen und dem Spirituellen. Das Gebot „Kämpft, bis die fitna (das Chaos) beseitigt ist“ ist ein Motto für den Krieg gegen die Feinde, die innerhalb und außerhalb der Grenzen des Staates ständig präsent sind.4 Es ist nützlich für die Mobilisierung sozialer Segmente, die die türkische Ideologie nur schwer homogenisieren kann. Aus diesem Grund wird die Institution des Militärdienstes oft als das Haus des Propheten definiert. Vor allem seit Ende der 2000er Jahre hat die religiöse Einstellung in der Armee und den staatlichen Institutionen, die dem säkularen Gedankengut der militärischen Gründungseliten widerspricht, die Bedeutung der Religion verstärkt. Heute erhalten grenzüberschreitende Militäroperationen darüber einen Sinn und der Krieg wird durch dschihadistisches Gedankengut neben türkischem Gedankengut legitimiert.
Indem das religiöse Klischee aufrechterhalten wird, dass die Armee das Haus des Propheten ist, werden die militaristische Struktur und Mentalität durch die Religion legitimiert. Auf diese Weise erhält die Armee eine religiöse Legitimation.
Verweigerung und Desertion
Ich habe versucht, die militaristische Struktur und Mentalität in der Türkei mit drei verschiedenen Schlagwörtern zu beschreiben. Obwohl es im Laufe der Geschichte Unterschiede in den Eigenschaften und der Ideologie der Armee gegeben hat, ist die Dominanz der Armee im täglichen Leben unbestreitbar.
Bei all diesen Prozessen hat es jedoch immer wieder Verweiger*innen und Deserteur*innen gegeben. Beispiele erfahren wir immer wieder: Vom Nachbarssohn, der nicht zur Armee ging, bis hin zu unseren Verwandten, die versuchten, an Gewicht zuzulegen um ausgemustert zu werden; von Volksliedern, die für Deserteure komponiert wurden, bis hin zu Verweigerern, die in der Literatur als Phänomen auftauchen... Die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung ist mindestens so alt wie die moderne Armee. Es besteht ein Bedarf an weiteren Studien und Schriften zu diesem Thema. Wir sollten jedoch betonen, dass die Existenz der Kriegsdienstverweigerung, die nach 1989 als politische Bewegung in der Türkei aufkam, einen Einfluss auf soziale Segmente in der Türkei hatte und die Möglichkeit bot, das bestehende System in Frage zu stellen. Daher haben wir jetzt eine antimilitaristische Bewegung und Tradition, was zuvor nicht der Fall war.
Fußnoten
1 Suavi Aydın, „Toplumun Militarizasyonu: Zorunlu Askerlik Sisteminin ve Ulusal Orduların Yurttaş Yaratma Sürecindeki Rolü,“ Çarklardaki Kum: Vicdani Red. (İstanbul: İletişim Yayınları, 2008) p.38-42 ISBN-13: 978-975-05-0568-3
2 Erik Jan Zürcher, „Teoride ve Pratikte Osmanlı Zorunlu Askerlik Sistemi (1844-1918),“ Devletin Silahlanması. (İstanbul: Bilgi Üniversitesi Yayınları, 2003) p.100-104 ISBN: 975-6857-54-4
3 www.platform24.org/vicdan-reddimdir/
Hüseyin Civan: Clichés for Understanding Militarism in Turkey. 7. April 2025. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Mai 2025
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