Aachener Friedenspreis 2004 an die Soldatenmütter St. Petersburg
Rede der Preisträgerinnen
(01.09.2004) Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
Wir sind Ihnen unendlich dankbar für die mit diesem Preis verbundene große Wertschätzung unserer Arbeit! Der Aachener Friedenspreis ist für die Arbeit unserer vielen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die sieben tausend Mütter, die tagtäglich und uneigennützig den vielen jungen Männern, ihren Familien und Verwandten helfen, sich für ihre Freiheit einsetzen und so für die Würde jeder Persönlichkeit, das Recht auf Leben, Frieden und eine Zukunft kämpfen, die höchste Anerkennung.
Unsere Organisation Soldatenmütter von Sankt Petersburg gibt es seit 1991. Angefangen haben wir mit einer kleinen Gruppe von Müttern. Damals hat eine kleine Gruppe von Müttern Zivilcourage gezeigt und den Machthabern deutlich gemacht: Heimat, das ist nicht nur die Macht in ihren Amtsstuben. Heimat ist auch die Familie, das Haus, in dem man geboren und aufgewachsen ist, die Kinder und Enkelkinder am sonntäglichen Tisch. Vor allem aber ist Heimat das, was jeder Mensch in seinem Herzen trägt und wofür zu leben sich lohnt.
Heute blicken wir auf eine mehrjährige Arbeit zurück: Mehr als 100.000 jungen Männern haben wir geholfen, nicht in der Armee dienen zu müssen, mehr als 5.000 Soldaten sind wir beigestanden, haben ihr Leben und ihre Gesundheit geschützt und zu einer vorzeitigen Entlassung aus gesundheitlichen oder sozialen Gründen verholfen.
Unsere Arbeit fußt auf der unbedingten Einhaltung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten, der Deklaration der Rechte und Freiheiten des Menschen, der Verfassung der Russischen Föderation und der russischen Gesetzgebung. Seit mehreren Jahren arbeitet unter dem Dach unserer Organisation die Menschenrechtsschule "Wir schützen die Söhne". Wer diese Schule besucht, erwirbt nicht nur juristische Kenntnisse, beschäftigt sich mit den rechtlichen Aspekten des Kampfes für die gesetzlich verankerten Rechte, Kenntnisse, die gleichzeitig ein Instrument sind, das den Besuchern dieser Schule in ihrem Kampf für ihre Ziele zur Verfügung steht. Diese Schule ist auch ein Ort, an dem sich junge Männer und ihre Eltern über ihre Erfahrungen und Erfolge austauschen. Die Kontakte gehen häufig über ein bloßes Kennenlernen hinaus, viele knüpfen Netzwerke zur gegenseitigen Hilfe, man unterstützt sich gegenseitig im nicht einfachen Kampf. Der Einsatz für die Menschenrechte ist nicht einfach, doch gleichzeitig kein Ding der Unmöglichkeit. Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass diese Aufgabe einfacher wird, wenn sich die gesamte Familie für die Einberufung interessiert, sich mit den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen beschäftigt und es lernt, mit Behörden und Beamten zu verhandeln. Und so gelingt es vielfach, das gesteckte Ziel ohne den Rechtsweg über die Gerichte zu erreichen, etwas, was im modernen Russland nicht unwichtig ist.
Heute ist die juristische Unterstützung junger Männer, die zum Wehrdienst einberufen wurden und der Soldaten, die wegen der Gewalt beim Militär aus ihrer Einheit geflohen sind, von ungeheurer Wichtigkeit. Leider ist es mittlerweile traurige Praxis, im Rahmen der Einberufung junge Männer buchstäblich von der Straße weg mit Gewalt in die Kasernen zu bringen. Ohne gesetzliche Grundlage wird hier jungen Männern die Freiheit geraubt, werden sie mit Gewalt zur Einberufungsbehörde gebracht. Man gibt ihnen dabei nicht einmal die Möglichkeit, sich an ein Gericht zu wenden. Mit Gewalt werden sie in eine militärische Einheit gebracht. Junge Männer, die in der Armee Opfer von Gewalt wurden, haben kein Recht auf eine kostenlose anwaltliche Verteidigung. Und die materiellen Möglichkeiten tausender Familien sind derart eingeschränkt, dass sie sich keinen Anwalt leisten können.
Trotz unserer Erfolge und unseres großen Erfahrungsschatzes werden die Schwierigkeiten, mit denen wir zu kämpfen haben, von Jahr zu Jahr größer: Seit dem Jahre 2000 hat sich die politische Situation in unserem Land grundlegend geändert. Die demokratischen Errungenschaften der Jelzin-Epoche, die Freiheit des Wortes, das Recht auf Information, das Versammlungs- und Demonstrationsrecht, das Recht auf eine gerechte Behandlung vor den Gerichten, machen dem zunehmenden Totalitarismus immer mehr Platz. Und so konnte sich bis heute in unserem Land keine Zivilgesellschaft herausbilden, das totalitäre Denken der Bevölkerungsmehrheit ist ungebrochen. Die Menschen haben Angst angesichts der Veränderungen, trauen sich nicht Verantwortung für sich, ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder zu übernehmen. Und in dieser Situation sind Personen aus Armee und KGB-FSB an die Macht gekommen. Die Macht hatten sie mit der Zustimmung einer verängstigten Bevölkerungsmehrheit erlangt, sie haben einen Krieg entfesselt, einen "Blitzsieg" versprochen. Xenophobie, Rassismus griffen in erschreckendem Tempo um sich, es begann die Suche nach inneren und äußeren "Feinden Russlands". Viele Vertreterinnen unserer Organisation machten sich auf den Weg. nach Tschetschenien und Dagestan. Und dort haben wir mit eigenen Augen gesehen, unter welch schrecklichen Bedingungen die Zivilbevölkerung dort lebt, was für eine Rolle dort unsere Jungs spielen müssen.
In dieser Situation ist es unsere Aufgabe, jedes junge Leben davor zu bewahren, dieser Schande des Tschetschenienkrieges zum Opfer zu fallen. Ständig erklären wir, worum es in diesem schändlichen Krieg wirklich geht. Immer wieder bekommen wir von jungen Menschen und ihren Eltern ein "Russland den Russen!" zu hören. Vor diesem Hintergrund ist es unsere Aufgabe, immer wieder unsere Arbeit zu erklären. Dies ist um so wichtiger angesichts der Tatsache, dass sich unsere Massenmedien immer mehr zu Massenagitationsmedien entwickeln. Faktisch gibt es in Russland nur noch eine unabhängige demokratische Radiostation, das Echo Moskaus. Doch das Echo Moskaus sendet nicht russlandweit. Und lediglich 5% der Bevölkerung in den großen Städten nutzt das Internet. Deswegen ist es das Ziel einer Menschenrechtsorganisation, um der Zukunft der Menschen willen, mit den Menschen zu arbeiten.
Wir wissen aus der Geschichte: es gibt nur einen Weg, die Zivilisation zu erhalten. Und zu diesem Weg gibt es keine Alternative: es ist der Weg der Gewaltlosigkeit, der Toleranz und der Anerkennung des absoluten Wertes des menschlichen Lebens. Keine Interessen der Machthabenden rechtfertigen Tränen von Müttern, die Augen von verwaisten Kindern und Gräber. Mit nichts lassen sich Tod, Leid, Zerstörung und Verzweiflung rechtfertigen. Und so werden wir weiterhin unermüdlich für das Leben, das Leben von unseren und ihren Kindern, die Freiheit, das heilige Menschenrecht auf Leben und die Schöpfung kämpfen.
Kontakt
Soldiers Mothers St. Petersburg
9 Raz’eezhaya ul., 191002 St. Petersburg
Tel: 007-812-1124199, Fax: 007-812-1125058
Ella Polyakova, Soldatenmütter St. Petersburg, Rede zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2004. Übersetzung aus dem Russischen: Bernhard Clasen. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2004.
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