Eritrea: „Ich wurde mit der Nummer Acht gefesselt“
Ich wurde 1980 in Asmara geboren. Mein Vater ist Arzt, meine Mutter Krankenschwester. Von der 1.-7. Klasse ging ich in die Amanuel-Schule, von der 8.-11. Klasse in die Halai-Schule, die ich 1997 mit dem Abitur abschloss. Am 9. September 1997 wurde ich zum Nationaldienst nach Sawa einberufen. Dort erhielten wir eine sechsmonatige Grundausbildung, die auch eine politische Schulung beinhaltete.
Nach der Grundausbildung, am 6. Mai 1998, sind wir mit unserem Kommandeur Isayos Amanuel nach Alitena Mereb gebracht worden. Uns wurde gesagt, dass der Krieg in Adi Murug angefangen hätte. Wir waren ängstlich, wir hatten doch noch nie Krieg erlebt.
Um 4 Uhr morgens wurde ich geweckt. Sie hatten offensichtlich meine Akte gelesen. Es hieß: „Henok, Sie werden an großen Geschützen ausgebildet“, an sogenannten Mortar.
Ich wurde nach Senafe in die Nähe von Minah versetzt. Dort erhielten wir eine dreimonatige Schulung zur Handhabung von großen Kalibern. Ich hatte daran kein so großes Interesse, zumal ich Sehnsucht nach meiner Familie hatte. Den anderen ging es ähnlich, so dass Druck auf uns ausgeübt wurde. Ich und ein Kamerad, Hadgu, wurden nun ständig beobachtet. Ich sagte zu Hadgu: „Lass Dich von ihm nicht provozieren. Bis wir irgendwann heil herauskommen, hast Du keine Chance und musst ihm gehorchen.“ Das hörte der Gruppenführer und machte dazu einen Vermerk in unseren Akten.
Wir beide hatten aufgrund unserer Schulausbildung gute Mathematikkenntnisse, die wir für die Schulung nutzen konnten. Wir gaben uns mehr Mühe und lösten alle mathematischen Fragen. Schließlich schlossen wir den Kurs als Beste ab. Da ließ der Druck etwas nach.
Am 12. Mai 2000 begann die 3. Invasion. Wir waren in ständiger Bereitschaft und mussten die Geschütze an die Front bringen. Um 23.30 Uhr, als die Invasion begann, waren wir in Aigar. Wir hatten es gar nicht gemerkt: Eine gegnerische Aufklärungseinheit war nahe an uns herangekommen. Es wurde eine Gruppe von uns zusammengestellt. Ich war als Mortar-Kenner dabei und erhielt den Befehl, das Heft und meine Kalkulation mitzunehmen. Wir blieben zwei Tage und Nächte fort. Am 19. Mai besetzte die 12. Division die ganze Gegend.
Ich sollte nun das Geschütz einstellen: Geschwindigkeit: 6,40; Geschützeinstellung: 45; Balance: 30 Milli. Am 22. ging der Krieg schließlich richtig los. Ich konnte mir das bis dahin nicht vorstellen. Die anderen sind einfach getötet worden. Das ist mir unvergesslich. Es war ein unbeschreibliches, ein schlimmes Gefühl.
Am 24. morgens sagten sie uns, wir sollten uns von Menokseto nach Senafe zurückziehen, ungefähr 25 Kilometer. Normalerweise nimmt einer dann das große Geschützrohr. Ein anderer den Geschützwagen, der dritte den Sitz, ich als Führer durfte nur ein Fernglas und ein Heft bei mir haben. Wenn wir irgendein Teil zurücklassen würden, hätten wir ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.
Als wir uns zurückzogen, wurde Negassi Abraham erschossen, der für den Sitz zuständig war. So mussten wir den Sitz liegen lassen und marschierten, ohne etwas zu uns zu nehmen, nach Keskessei. Dort trafen wir morgens um 11 Uhr ein. Wir waren müde und hungrig. Aber die Invasion des Gegners wurde stärker und stärker. Eigentlich wird ja die Mortar von 4 Soldaten bedient. Da die Invasion aber so stark war, wurde uns befohlen, das Geschütz nur noch mit zwei Leuten zu bedienen. Alle anderen sollten mit Gewehren an die Front gehen.
Dann sah ich, dass Hadgu gefährdet war. Er bediente ein anderes Geschütz in der Nähe und hatte eine besondere Jacke an, so dass die Gegner annahmen, er sei Offizier. Sie hatten ihn im Visier und schossen ständig nach ihm. Ich rief ihm etwas zu, aber er konnte mich nicht hören, weil er durch die lauten Schüsse nichts hörte. So ging ich zu ihm und holte ihn aus seiner Position heraus. Auch das nahm der Gruppenführer wahr und machte eine Notiz dazu.
Als der Friedensvertrag unterschrieben wurde, begann es ruhiger zu werden. Wir erfuhren davon aus dem Radio. Der Gruppenführer ließ Hadgu nun zu Geschützen mit mittlerem Kaliber, Doshka, versetzen. Trotzdem konnten wir uns ab und zu treffen.
Unsere Familie ist in Asmara bekannt, weil mein Vater Arzt war. Man wird sogar als Sohn vom Doktor, als Wodie-Hakim, angeredet. Auch mein Bruder war sehr bekannt gewesen. Kameraden von mir wussten aber nicht, dass ich sein Bruder war und sprachen darüber, dass er gefallen sei. Das hat mich richtig geschockt. Plötzlich dachte ich: Nun gibt es niemanden mehr aus meiner Familie. Ich hatte nur noch den Gedanken: Mich zu retten und abzuhauen.
Am 10. Juni wurde ich nach Hiret versetzt, zwischen Segeneti und Adi-Keyh gebracht. Ich sollte einen weiteren Kurs zur Militärstrategie besuchen. Ein Kamerad, der mich und meinen Bruder kannte, sagte zu mir: „Warum wirst Du ständig auf einen Kurs geschickt? Bestimmt hat Dich jemand im Visier. Irgendwas soll mit Dir passieren.“
Das machte mich hellhörig. Ich versuchte, mit meiner Schwester Kontakt aufzunehmen. Ich schrieb ihr einen Brief, dass sie mich besuchen kommen solle. Als sie kam, sagte ihr mein Brigadeführer: „Er ist nicht da. Er wurde versetzt.“ Aber meine Schwester ließ sich nicht abwimmeln. Sie wandte sich an Bekannte meines Vaters bei der Artillerie und schrieb mir schließlich einen kurzen Brief: „Ich bin die Mona Lisa, ich bin da, komm her.“ Ich ging zu meinem Kommandeur, um ihm um Erlaubnis für das Treffen zu bitten. Er sagte: „Geh nicht hin. Sie ist Zivilistin und lebt in Asmara. Du würdest nur Geheimnisse verraten.“ Er wollte, dass nichts von dem bekannt wird, was passiert war. Das war der eigentliche Grund, warum er mir den Ausgang verweigert hatte und sagte: „Du bist ein Soldat. Dein Gehirn und Dein Körper werden von uns kontrolliert.“ Ich antwortete ihm: „Wenn ich meine Rechte nicht wahrnehmen kann, bin ich für das Land verloren. Wenn ich nicht freiwillig mitmache, kann ich nichts für das Land tun.“ „Aber Du laberst ja nur rum“, gab er mir zurück.
Ich hatte so eine große Sehnsucht, meine Schwester zu sehen, dass ich mich selbst von meiner Einheit entfernte. Ich hatte meinen Kommandeur sogar gesagt: „Ich gehe.“ „Das darfst Du nicht machen. Wenn Du zurückkommst, wirst Du was erleben“, antwortete er mir. Ich gab zurück: „Mach was Du willst, ich gehe.“
Ich sprach lange mit meiner Schwester. Sie fragte nach unserem Bruder, aber ich konnte ihr nicht sagen, dass er gefallen war. Es war sowieso so schwer für uns beide. Ich sagte ihr, er sei versetzt worden und schickte sie nach Asmara zurück.
Danach musste ich meinen Stress runterspülen, ging nach Asmara, trank alkoholische Getränke und kam erst um ein Uhr nachts zur Kaserne zurück. Als ich kam, hieß es: „Stillgestanden!“ Dann wurde ich mit der Nummer Acht gefesselt und drei Tage und drei Nächte liegen gelassen. Seitdem nannte man mich in meiner Einheit ‚Mandela’.
Danach hatte ich mehrmals Streit mit meinem Kommandeur. Er setzte mich ständig unter Druck. Meine Schwester kam noch einmal mit Bekannten aus der Einheit. Ich sprach mit ihr und sagte: „Wenn es eine Gelegenheit gibt, abzuhauen und nach Asmara zu kommen, dann komme ich. Sag aber bloß nicht, dass ich kommen werde. Erzähle es niemandem weiter.“
Ich wartete auf eine gute Gelegenheit. Während der Schulung hatte ich keine Gelegenheit dazu, weil ich Schützengräben ziehen musste. Ab mittags war Schulung, nachmittags ging es in die Gräben. Ich erfuhr nun, dass es auch eine Schulung für das flache Land in Baka gäbe. Das sah ich als Chance, nicht nur zu meiner Schwester zu fliehen, sondern aus Eritrea hinaus zu kommen. Darauf wartete ich.
In der Zeit hatte Hadgu Streit mit dem Einheitsführer und wurde mehrmals gefesselt. Er wurde ausgezogen, gefesselt und man goss Milch über ihn. Dann kamen Mücken und stachen ihn. Ich durfte ihn nicht trösten. Wenn ich in seiner Nähe war, sagte ich ihm: „Das wird auch vorbei gehen. Es wird schon werden.“ Aber es war schlimm, ihn zu sehen. Hadgu sind mehrmals solche Sachen passiert. Er war moralisch am Ende, zumal er auch keine Geschwister hatte, schwer erzogen worden ist, seine Familie arm war. Öfter sagte er: „In all dieser Zeit hätte ich doch meiner Familie helfen können.“ Ich antwortete ihm: „Wir leben doch noch. Das ist die Hauptsache.“ Wenn der Einheitsführer uns sah, trennte er uns. Es hieß: „Sie versuchen, Geheimnisse auszutauschen.“
Ich kam vorerst nicht zum Kurs. Stattdessen mussten wir zwei Tage marschieren. Dabei wurde die Fußsohle von Hadgu ganz wund. Wer nicht mehr mitkam, musste sich an einem anderen Ort sammeln. Da wurde ich von ihm getrennt. Seitdem hieß es: „Mit wem willst Du Dich jetzt unterhalten?“ Ich sagte: „Ihr seid doch auch meine Freunde.“ Ich habe mit Hadgu über interne Dinge reden können, nicht aber mit den anderen. Das ging nicht, da man gegenseitig bespitzelt wird. Mit den anderen konnte ich nur über allgemeine Dinge reden.
Dann hörten wir im Radio, dass Hadgu nach Äthiopien geflüchtet sei. Als diese Meldung kam, verschlimmerte sich meine Situation. Seitdem wurde ich immer beobachtet. Immer war jemand bei mir, selbst beim Pinkeln.
Später wurde ich zum Glück doch noch zu dem Kurs nach Baka geschickt. Ich hatte einen Marschbefehl, besorgte mir aber von einem Freund unter der Hand eine Genehmigung, um für zwei Tage nach Asmara gehen zu können. Damit hatte ich mich unerlaubterweise entfernt, da es keine offizielle Genehmigung war.
Ich ging nicht zu meiner Schwester, sondern zu meiner Oma. Ich wusch mich, schnitt mir die Haare, damit ich anders aussehe. Soldaten kamen zu meiner Schwester, sogar in zivil, und fragen nach mir. Sie antwortete: „Der ist doch erwachsen. Er ist doch beim Militär.“ Ich konnte mich verstecken, da Jugendliche aus der Nachbarschaft rechtzeitig die Streifen sahen und mir Bescheid sagten. Ich blieb etwa einen Monat in Asmara. Die Einheit wurde währenddessen nach Baka in die Nähe von Teseney versetzt.
Ich besorgte mir von einem Freund seine Genehmigung, um nach Teseney zu gehen. Dort musste ich aufpassen, da es viele Zivilsoldaten gibt, deren Aufgabe es ist, sich als Fluchthelfer ausgeben. Sie nehmen aber nur das Geld und bringen Dich dann zu einer Einheit, statt in den Sudan. So ging ich nicht nach Teseney, sondern nach Baronto und beobachtete dort die Situation. Ich erfuhr, dass der Befehl ausgegeben worden war, dass alle festgenommen werden sollten, die eine Genehmigung von einer Einheit vorweisen, die nicht dort stationiert ist. Da wurde es für mich unmöglich, über Teseney in den Sudan zu fliehen. Im Juni 2001 ging ich wieder nach Asmara zurück.
Am 20. Juni machte ich mich erneut in Richtung Sudan auf. Ich ging nach Keren, weiter nach Teseney und nach Tebeldia. Dort hörte ich mich um. Ich fand einen Mufti, der mich akzeptierte, da ich mich als Muslim ausgab. Er wollte von mir 2.500 Nakba, damit er mich rüber bringe.
Zunächst blieb ich eine Nacht bei ihm. Später fragte er mich: „Kannst Du richtig marschieren?“ „Kein Problem“, antwortete ich. Dann sind wir von Tebeldia nach Mailuba an die Grenze zum Sudan gelaufen. Als ich in Hafir im Sudan ankam, war ich froh und wusste, dass ich mein Leben gerettet hatte.
Ich telefonierte mit Freunden in Khartoum und musste schließlich 65.000 sudanesische Pfund zahlen, um dorthin zu kommen. In Khartoum wurde ich schon erwartet. Als ich meine Freunde sah, wusste ich, dass ich außer Gefahr war. Wir saßen zusammen, redeten über unsere schlimmen Erlebnisse und sagten: „Wir sind wie neugeboren.“
Ich telefonierte mit Angehörigen aus den USA und sagte ihnen, wie viel Geld ich bräuchte, um mich retten zu können. Sie überwiesen mir das Geld, so dass ich mit Schleppern nach Deutschland kam.
Ich arbeite derzeit zwei Stunden am Tag. Mein Asylantrag wurde abgelehnt und ich wurde aufgefordert zur eritreischen Botschaft zu gehen und einen Pass zu beantragen - damit ich abgeschoben werden kann. Ich habe das verweigert. Nun wird mir dauernd gedroht und meine Duldung nur jeweils um einen Monat verlängert. Ich weiß nicht, was danach kommt. Wenn sie mich abschieben wollen, sollen sie mich vorher umbringen. Sonst gehe ich nicht.
Interview mit Henok Estifanos vom 26. Mai 2004, Übersetzung: Yonas Bahta, Abschrift: Rudi Friedrich. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und Eritreische Antimilitaristische Initiative in Zusammenarbeit mit der Flüchtlingsseelsorge der EKHN (Hrsg.): Broschüre »Eritrea: Kriegsdienstverweigerung und Desertion«, Offenbach/M., November 2004. Wir danken für die finanzielle Förderung durch: Dekadefonds zur Überwindung der Gewalt der EKHN, Förderverein Pro Asyl und Evangelischer Entwicklungsdienst (EED).
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