Israel/Palästina: Sharon spielt mit dem Schicksal

von Adam Keller

(Mai 2004) Es war eine schwere Zeit für israelische Friedensbewegte. Nur die 200.000 Mitglieder der regierenden Likud-Partei waren dazu aufgerufen worden, über einen Plan abzustimmen, der den Rückzug aus besetzten palästinensischen Gebieten vorsieht und den Abbau von dort errichteten israelischen Siedlungen. Die Friedensbewegten waren aber weniger darüber frustriert, nicht mit abstimmen zu können; sie waren vielmehr höchst misstrauisch gegenüber den hinter dem Plan stehenden Absichten.

Mit Premierminister Ariel Sharon als Initiator gibt es tatsächlich gute Gründe für die Annahme, dass niemals wirklich beabsichtigt war, sich aus Gaza zurückzuziehen. Sharon erklärte seinen sogenannten „Befreiungsplan für Gaza“ zur „schlimmsten Sache, die den Palästinensern seit 1948 geschehen kann“ (sic!) und begleitete die Zeit vor der Abstimmung mit einer massiven Welle von Liquidierungen. Das Referendum des Likud ist aber die letzte Szene in einem zunehmend verzweifelten Kampf für das Überleben eines geplagten Premierministers - eines Mannes, der noch vor einem Jahr alle in Israel wie ein Koloss überragte.

Leben, Tod und Dinge, die eigentlich historisch entschieden werden sollten, wurden als Faustpfand in einer billigen Posse eines Korruptionsskandals benutzt, der aus den Annalen einer Bananenrepublik zu stammen scheint. Eine Sache wurde klar: Diejenigen, die trotz allem gehofft hatten, Ariel Sharon möge sich zu einem israelischen de Gaulle gewandelt haben, liegen falsch. Er ist ganz offensichtlich nicht fähig, irgendeine Lösung für die schwerwiegenden Probleme des Landes anzubieten.

Die Mauer steht im Blickpunkt

Den Haag am 23. Februar. Für einige Tage scheint sich der Blickpunkt des israelisch-palästinensischen Konfliktes nach Holland zu verlagern, als der Internationale Gerichtshof eine Anhörung zur Frage der Rechtmäßigkeit „des Trennzauns / der Trennmauer / der Sperre“ (so unterschiedlich wurde es genannt) durchführt. Rücksichtslos werden die Länder, Felder und Olivenhaine von einem palästinensischen Dorf nach dem anderen abgeschnitten und das tägliche Leben von Zehntausenden von Menschen ruiniert. Außerhalb des Gerichts versammelten sich Hunderte, um gegen die Mauer zu protestieren: PalästinenserInnen, die in Europa leben und andere, die extra dafür anreisten, Mitglieder von Friedensgruppen aus einem Dutzend Länder und auch einige israelische AktivistInnen und arabische Mitglieder der Knesset.

Auf der anderen Seite standen jüdische und christliche UnterstützerInnen der Mauer, unter denen die Israelis die größte Medienaufmerksamkeit erhielten, deren Familienmitglieder bei Selbstmordattentaten getötet worden waren. Es waren sogar die Überlebenden eines Busattentats in Jerusalem unter großen finanziellem Aufwand nach Europa gekommen. Die Familienangehörigen richteten einen sehr emotionalen Aufruf an die internationale Presse und erklärten, dass die Mauer notwendig sei um weitere Attentate zu verhindern - aber sie vermieden die Frage, warum die Mauer so tief im palästinensischen Gebiet errichtet worden ist, statt an der Grünen Linie, den Grenzen von Israel vor 1967. In den besetzten Gebieten wurde der Beginn der Beratungen in Den Haag mit einem Generalstreik begrüßt, mit zahlreichen Demonstrationen an der gesamten Mauer und in den großen palästinensischen Zentren - denen zumeist vom israelischen Militär und Polizei mit brutaler Gewalt begegnet wurde. In Tel Aviv blockierten junge israelische Anarchisten die Straße vor dem Verteidigungsministerium und wurden in Polizeigewahrsam genommen. Auf einer Demonstration außerhalb des Premierministeriums wurde eine symbolische, aus Karton erstellte, Mauer niedergerissen. Zur selben Zeit legten vor dem Gericht in Den Haag palästinensische Vertreter dem Gericht detaillierte Informationen über die Mauer und die zerstörerischen Folgen vor.

Die Regierung unter Sharon schickte zu den Beratungen keine Vertreter - so wird es später einfacher sein, das Ergebnis des Gerichts anzuzweifeln und das Urteil nicht umzusetzen. „Wir verweigern uns dieser europäischen Scheinheiligkeit“, erklärte Sharon, während seine Minister und einige Kommentatoren der Presse deutlich zu verstehen gaben, dass die internationale Kritik an der Mauer in erster Linie auf Antisemitismus zurückzuführen sei. Dennoch war die Regierung, so wurde berichtet, über die unerwartete Kraft der palästinensischen Kampagne beunruhigt. Nach drei Tagen öffentlicher Anhörung, die weltweit live ausgestrahlt wurde, zogen sich die Richter für Wochen oder Monate zur Beratung zurück. „Das Haager Festival“ verschwand aus den Medien - und schon am nächsten Tag erschossen israelische Sicherheitskräfte drei unbewaffnete palästinensische Demonstranten, die nordöstlich von Jerusalem, im zerstörten Olivenhain von Biddu, gegen die Mauer demonstriert hatten.

Unerschrocken kamen die BewohnerInnen von Biddu am nächsten Tag wieder. Sie kommen alle aus einem Dorf, dessen Länder von den Bulldozern zerstört wurden. Einige warfen Steine, andere saßen oder standen einfach auf dem zerstörerischen Weg der Maschinen. Die Armee und die Polizei, die zur Bewachung der Bulldozer eingesetzt war und die Weiterarbeit an der Mauer sicherstellen sollte, antwortete mit Tränengas, Knüppeleinsatz, Schallbomben und Gummigeschossen - und griff gelegentlich auch auf lebensbedrohliche Waffen zurück.

Biddu blieb nicht allein: Der Bau der Mauer wurde fortgesetzt. Dorf für Dorf fand sich auf dem Weg der Bulldozer wieder. Das rief immer wieder neu den Kampf von DorfbewohnerInnen hervor, die bis dahin außen vor geblieben waren. Tatsächlich war es eine Rückkehr zu den massenhaften Widerstandsformen der ersten Intifada, wie es schon lange von palästinensischen nichtstaatlichen Organisationen verfochten wird - mit intensiver Beteiligung israelischer AktivistInnen und in einem bisher nicht gesehenem Ausmaß.

Die Anarchisten gegen die Mauer kamen Tag für Tag, um am Kampf der Dorfbevölkerung teilzunehmen. Gelegentlich stießen Israelis anderer Gruppen hinzu: Rabbis für Menschenrechte, Gush Shalom, die Frauenkoalition ...

Es nahmen auch Israelis aus der Stadt Mevasseret Zion teil, die gegenüber von Biddu auf der anderen Seite der Grünen Linie liegt und von der aus es viele persönliche Verbindungen und Kontakte gibt. Ihrem Beispiel folgten Israelis von anderen Grenzstädten.

Während dessen stürzte sich die renommierte Organisation Vereinigung für Menschenrechte (ACRI) auf den rechtlichen Kampf gegen die Mauer. Es waren ehemalige Generale der Tauben1, die im Rat für Frieden und Sicherheit organisiert sind: Sie erklärten gegenüber dem Obersten Gericht, dass der gegenwärtige Verlauf der Mauer nicht nur ernsthaften Schaden gegenüber der palästinensischen Bevölkerung verursacht, sondern auch vom rein militärischen Standpunkt aus unsinnig ist... Aufgrund des andauernden Kampfes - und sicherlich auch wegen des nicht-öffentlichen Druckes aus den USA, die die Klage der Palästinenser vor dem Gericht in Den Haag ablehnte, gleichwohl aber ihre Opposition gegen die geplante Route der Mauer erklärte - begann die Regierung, zurückzuweichen. Bei einigen Dörfern gab sie Änderungen des Verlaufs bekannt und verminderte damit den Schaden für die Bevölkerung - beseitigte ihn aber keineswegs.

Militärischer Weg in Frage gestellt

Die israelische Bevölkerung verliert zunehmend den Glauben daran, dass es eine militärische Lösung für den Konflikt mit den PalästinenserInnen geben kann - und es war Basis des Versprechens von Sharon, eine solche Lösung zu erreichen, als er im Jahre 2001 die Macht übernahm. Zwei Jahre nach der Operation „Verteidigungsschild“, in der die Armee die Städte in der Westbank stürmte und den Regierungssitz von Arafat in Schutt verwandelte, bleibt die Bedrohung durch Selbstmordattentate sehr lebendig.

Ein halbes Jahr lang gab es die Idee, dass der ehemalige Regierungschef der Palästinensischen Autonomiebeörde, Abu Mazen, Israels Partner für Frieden sein könnte. Er hatte versucht, den Waffenstillstand (Hudna) aufrecht zu erhalten. Israelis konnten ihn bei der spektakulären Akaba-Konferenz zusammen mit Sharon und Bush im Fernsehen sehen. Für viele Israelis - einschließlich der Wähler von Sharon - war es ein Hoffnungsschimmer. Nach dem Rücktritt von Abu Mazen war es für die Israelis schwierig, wieder die selbstzufriedenen und selbstgerechten Formulierungen nachzuvollziehen, auf der Sharons Position basierte: „Wir wollen Frieden, aber es gibt keinen Partner, mit dem wir darüber reden können. Es ist unser Schicksal, stark und standfest zu bleiben, bis einmal der Frieden kommt. Prinzipiell sind wir mit der Roadmap2 einverstanden. Sie kann aber nicht umgesetzt werden, so lange die Palästinenser nicht den Terror bekämpfen.“

Ein konkreter Schritt war notwendig geworden. Stattdessen gab es ein Vakuum, dass - da Sharon nichts dafür tat, es zu füllen - durch viele andere gefüllt wurde. Zuallererst war es die Genfer Initiative - die plötzlich für Monate in das Zentrum der Aufmerksamkeit unter Israelis, Palästinensern und der internationalen Diplomatie rückte. Es gab noch eine ganze Reihe weiterer Initiativen - offizielle, halb-offizielle und inoffizielle, von Israelis, Palästinensern und internationalen Kräften, von Diplomaten, wirtschaftlichen Führungskräften, Religionsführern und Filmstars - die teils sehr idealistisch und naiv, teils pragmatisch und erdverbunden waren. Jede neue Initiative für Frieden erhielt ganze Seiten in den Wochenendbeilagen der Zeitungen. Und tatsächlich wurde immer die gleiche Analyse damit verbunden: „Die offensichtliche Untätigkeit und das völlige Fehlen politischer Initiativen der Regierung hat das Feld frei gemacht für diese Art privater Initiativen...“

Es war klar, dass der Erzkrieger Sharon sich diesmal nicht aus den Problemen herauswinden könnte, nur mit dem, was er als bestes Mittel ansieht: Eine neue Runde der Aggression zu starten. Sich mit den Friedensschaffern messend, versuchte er sich selbst als eine einzigartige Mischung darzustellen: als ein Krieger, der Frieden schafft.

Sharons erster Versuch - die weitverbreitete politische Erklärung auf der Herzliya-Konferenz im Dezember 2003 - erreichte das Ziel nicht. Sein obskurer Verweis auf „eine Phase der Rückentwicklung der Siedlungen“ im Zusammenhang mit einer „einseitigen Loslösung von den Palästinensern“, die zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft beginnen solle, ließ die kritischen Stellungnahmen nicht verstummen. Die Herzliya-Rede wurde als lediglich neue Variante von Sharons längst diskreditierten leeren Versprechen mit unklaren „schmerzhaften Konzessionen“ zurückgewiesen. Um wieder die Initiative zu ergreifen, musste er weiter gehen, etwas Konkretes und Reales anbieten - oder wenigstens so tun.

... nicht für Netzarim

Am 25. Oktober 2003 gelang es zwei bewaffneten Palästinensern in das stark geschützte Netzarim, einer Enklave von Siedlern in der Mitte des Gazastreifens, einzudringen und drei israelische SoldatInnen zu töten, bevor sie selbst erschossen wurden. Am nächsten Tag gaben die Zeitungen bekannt, dass zwei der Getöteten Soldatinnen waren, die keine Waffen getragen hatten. Dennoch waren sie an einem der gefährlichsten Plätze in den besetzten Gebieten stationiert worden.

Es folgten einige Tage scharfer öffentlicher Kontroverse. Die Familien der toten SoldatInnen machten der Regierung bittere Vorwürfe. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich auf Netzarim und die anderen Siedlungen im Gazastreifen.

Die Situation - die schon immer bekannt war, aber lange wegen der Wellen von palästinensischen Selbstmordattentaten in den großen israelischen Siedlungszentren verborgen blieb - stand nun im Rampenlicht. Eine Handvoll religiös-nationalistischer Siedler aus befestigten Enklaven werden von einer Zahl von Soldaten bewacht, die die Zahl der Siedler bei weitem übersteigt. Die Siedler betreiben Ackerbau und beuten die billige Arbeitskraft von dafür extra aus Thailand importierten ArbeiterInnen aus. Das alles geschieht inmitten schrecklicher Armut und Elend im überbevölkerten Gazastreifen. Die ersten, die ob der absurden Situation protestierten, waren die Soldaten, die als Wache für die Siedlungen eingesetzt worden waren.

Nun schloss Sharon in verschiedenen Statements wiederholt aus, dass Netzarim oder andere Siedlungen evakuiert werden könnten: „Jede Evakuierung einer Siedlung, die unter Beschuss steht, würde entsetzliche Folgen haben und den Terrorismus schüren.“

Dann gab es eine ganze Gruppe von Reserveoffzieren, die am Ende ihrer Reservedienstzeit in Netzarim der Tageszeitung Ha’aretz ein scharfsinniges kritisches Interview gaben und darin feststellten: „Hier dürfen wir nicht bleiben.“ (5. Dezember 2003)

Es folgten sechs Wehrpflichtige, die in Netzarim stationiert waren. Sie verließen gemeinsam unerlaubterweise die Truppe und protestierten gegen den harten Wachdienst „von bis zu vierzig Stunden mit kaum einer Pause“, bei dem „ein einziger Soldat den gefährlichsten Abschnitt des Zauns am Rande zu bewachen hat, wohingegen die eigenen Regeln der Armee vorsehen, dass die Wache zu zweit stattzufinden hat.“ Ein Vater von ihnen erzählte im israelischen Radio: „Ich kämpfte in den 70er Jahren am Suezkanal und habe meinem Sohn beigebracht, ein guter Soldat zu sein, aber als er mich anrief und mir die Situation schilderte, sagte ich ihm, dass er heimkommen solle. Dann rief ich den Kommandeur an und sagte: ‚Sie werden ihn zurückbekommen, wenn sie aufhören, ihn zu misshandeln.’“

In einem anderen Fall erschien die Soldatin Gali Ofek - nachdem sie einen Kurzlehrgang von einer einzigen Woche absolviert hatte - nicht zu ihrem Dienst in Netzarim. Der Vater, Moshe Ofek, selbst ein Reserveoffizier, erklärte: „Ich lasse es nicht zu, dass sie ihr Leben für nichts wegwirft!“ (Yediot Aharonot, 5. Januar 2004). Trotz streitlustiger Reden von den Vorgesetzten musste am Ende das Militär zurückstecken und Gali Ofek eine andere Aufgabe zuweisen.

Der Protest wird politisch

Eine Gruppe „betroffener Bürger“ aus der Stadt Rishon Letzion begann wöchentliche Mahnwachen am Zugang zum Gazastreifen abzuhalten und forderte den sofortigen Rückzug. Es war keine eindrucksvolle Gruppe - wer sich aber gut erinnert, dachte an den Beginn der Vier Mütter, deren Demonstrationen schließlich zum Rückzug der Armee aus dem Libanon führte. Die Reservistengruppe Courage to Refuse (Mut zum Verweigern) hielt am gleichen Platz eine Mahnwache ab, sprach SoldatInnen direkt an und bekam „gute Reaktionen“. Und die Arbeitspartei machte eine Petition unter dem Titel „Bis zum Passahfest aus dem Gazastreifen“. Ende Dezember berichtete ein bekannter Kommentator der Tageszeitung Yediot Aharonot, dass eine Gruppe von Millionären, die den Tauben1 zugehören, eine großangelegte Kampagne zum Rückzug aus dem Gazastreifen finanzieren wollten. Das „würde Sharon am schwächsten Punkt treffen“, erklärten sie. Eine Woche später veröffentlichte Peace Now (Frieden Jetzt) eine ganzseitige Anzeige in Ha’aretz und kündigte „einen Protestzug von Tel-Aviv zum Gazastreifen“ an.

Bald folgte die Arbeitspartei mit der strategischen Entscheidung, sich auf eine Kampagne zum Rückzug aus dem Gazastreifen zu konzentrieren. Kommentatoren begrüßten dies als brillanten Schachzug, da es so für Sharon schwierig sein würde, seine Position aufrechtzuerhalten, dass „Netzarim aufgeben Tel Aviv aufgeben“ heiße.

Währenddessen erklärte der als wankelmütig berüchtigte Kolumnist Yoel Markus in einer auffälligen Anzeige in Ha’aretz, dass „der Moment der historischen Prüfung für Sharon gekommen sein“ und der Premierminister „von sich aus eine unerschrockene Initiative starten müsse, oder in Vergessenheit und Schmach versinken werde“. Einige Tage später wurde Markus zu einem Exklusivgespräch auf den Bauernhof von Sharon eingeladen. Er kam zurück mit der sensationellen Meldung: Sharon habe seine Absicht erklärt, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und die dortigen Siedlungen abzureißen...

Kein Datum genannt

Der Premierminister sprach geradezu redselig von seinem Plan für die „Loslösung von Gaza“ und war immer bereit - geradezu übereifrig - es in allen Details zu diskutieren. Er und seine Helfer blieben aber extrem vage bezüglich eines exakten Datums: „Nicht vor den US-Wahlen, die Amerikaner baten uns, nicht für Unruhe zu sorgen“; „zum nächsten Passahfest (Mai 2005) werden wir soweit sein“; „die Armee hält September 2005 für das Zieldatum, aber das ist nicht offiziell“. In dem schnelllebigen Tempo der israelischen Nahostpolitik sind eineinhalb Jahre eine Ewigkeit. Mehr noch, Premierminister, deren Motive viel vertrauenswürdiger als Sharons waren, waren weit davon entfernt, pünktlich Verpflichtungen dieser Art zu erfüllen, selbst wenn diese bindend in internationalen Vereinbarungen genannt worden waren. Es war völlig plausibel anzunehmen, dass Sharon eine Zeitlang vom Rückzug aus Gaza reden würde, um maximalen Nutzen auf nationaler und internationaler Ebene zu ernten, Zeit zu gewinnen, um die Siedlungen auszubauen und die Mauer zu bauen - und dann eine Entschuldigung zu erfinden, um sich wieder herauszuwinden.

Auf der anderen Seite: Sollte er sich zu sehr darauf festgelegt haben, würde er wahrscheinlich einen Rückzug aus Gaza als ein würdiges Opfer propagieren, um sein langfristiges Ziel zu stützen: die meisten Teile der Westbank unter israelischer Kontrolle zu halten. Tzvi Hendel, stellvertretender Minister für Erziehung und Führer der Siedler aus dem Gazastreifen, hatte eine andere Erklärung dafür: „Je tiefer die Staatsanwälte die Affäre um Sharon und seinen Sohn untersuchen, desto gründlicher werden seine Pläne, die Siedlungen zu zerstören.“ Viele Israelis aus anderen politischen Spektren sehen das ähnlich, wenn sie auch sonst nicht mit Hendel übereinstimmen. Trotz der Leugnungen des Premierministers wurde zumeist angenommen, dass eine seiner wesentlichen Motive war, die Staatsanwälte einzuschüchtern und eine Situation zu schaffen, in der „sie es nicht wagen würden“, einen Premierminister anzuklagen, der an einem „solch historischen Unternehmen“ beteiligt ist.

Die Tauben in Unordnung

Sogar dieser sehr parteiische und zweifelhafte Rückzugsplan reichte Sharon, um die Initiative wieder an sich zu reißen, wieder einmal das politische Tagesgeschäft zu diktieren sowie Verwirrung und Unordnung in den Reihen der Friedenskräfte zu säen. Mit einer Initiative, die von einem Premierminister mit Regierungsgewalt unternommen wurde, verloren die Medien schon bald das Interesse an den Ideen und Plänen der Genfer Initiative von oppositionellen Gruppen. Ursprünglich war sie in Meinungsumfragen von 30 bis 40% unterstützt worden. Nun verlor sie an Schwung. Die Initiatoren schwankten, ob sie eine Massendemonstration durchführen sollten oder nicht. Peace Now dachte tatsächlich darüber nach, eine öffentliche Kampagne unter dem Slogan „Loslösung der Siedlungen rettet Leben“ durchzuführen - ein altes Schlagwort der Friedensbewegung, das aber nun unter dem Vorzeichen stand, als Unterstützung für Sharon gewertet zu werden. Der springende Punkt war, dass im Prinzip kein Friedensaktivist (und diesbezüglich auch kein Palästinenser) gegen einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und den Abbau der Siedlungen sprechen konnte.

Mit jeder Woche, die verging, wurde Sharons Plan aber immer widerwärtiger - weil der Rückzug aus Gaza von der Annektierung von Teilen der Westbank begleitet werden sollte; weil es sich herausstellte, dass ein Rückzug aus Gaza selbst keineswegs vollständig umgesetzt werden sollte und der „befreite“ Streifen tatsächlich zu einem großen Gefängnis werden würde; weil, nachdem Sharon seine linke Flanke geschützt hatte, er dabei war, die rechte zu gewinnen, indem er eine antipalästinensische Kampagne startete, brutal und primitiv selbst nach den eigenen Standards des Premierministers...

Der Nebelwerfer-Effekt

Immer wenn die verschiedenen Korruptionsvorwürfe in die Schlagzeilen kamen, machte Sharon schnell eine neue überraschende Äußerung - oder eine undichte Stelle aus dem Büro des Premierministers gab einen verlockenden Einblick in die komplizierten Pläne und Strategien, die hinter verschlossenen Türen diskutiert und ausgearbeitet wurden. Israelis aller politischen Couleur - und der Rest der Welt - staunten und konnten sich nur auf Vermutungen stützen.

Abgesehen von bruchstückhaften und sich oft widersprechenden Informationen in den Zeitungen, haben nur wenige Leute in Israel irgendeinen Einfluss auf diesen Prozess. Sharon und seine Berater halten das Kabinett und die Knesset komplett im Dunkeln. Noch weiter von Informationen ausgeschlossen sind die Palästinenser, für die jede Änderung der Details enorme Auswirkungen in ihrem Leben haben kann. Seit der Veröffentlichung des Plans von Sharon, ist die palästinensische Szene in Aufruhr. Sowohl die Palästinensische Autonomiebehörde wie auch die verschiedenen politischen und militärischen Fraktionen - insbesondere Hamas, die ihren größten Stützpunkt in Gaza hat - bleiben zwar höchst skeptisch, kämpfen aber verzweifelt um Positionen und bereiten sich auf die Möglichkeit vor, dass der israelische Rückzug Wirklichkeit wird.

Bush als Friedenspartner

Es war Dov Weisglass - Büroleiter von Sharon und enger Berater, zuvor Anwalt der Familie Sharon - der die ursprüngliche Idee entwickelte, für einen Rückzug aus Gaza eine Belohnung von den US-Amerikanern zu verlangen, um so den Rückzug und den Rückbau der Siedlungen innerhalb des Likud schmackhaft zu machen.

Angesichts des irakischen Debakels und den bevorstehenden Wahlen hatte die US-Regierung die Absicht, jede Bewegung im Nahen Osten zu vermeiden. Die US-Amerikaner waren auch nicht sehr erfreut, Sharon irgendeine finanzielle oder diplomatische Belohnung zu geben - für einen einseitigen Plan, den er ausgeheckt und bekannt gegeben hatte, ohne sie zu konsultieren. So war die erste Reaktion: „Bitte nicht vor November 2004!“ Aber Weisglass bestand wieder und wieder darauf, nach Washington zu fahren und sich mit den wichtigen Personen zu treffen und ihnen zu erzählen, dass die Initiative von Sharon zu einem lebensnotwendigen außenpolitischen Erfolg für den Präsidenten werden könnte. Für lange Zeit schienen die Bemühungen von Weisglass erfolglos zu sein. Er bat weiter um einen Besuch von Sharon im Weißen Haus, um eine öffentliche Billigung durch den Präsidenten für seinen Plan zu erhalten; die zögernden US-Amerikaner verschoben das von Weisglass vorgeschlagene Datum von Februar auf März und dann April. Währenddessen wurden die Gespräche in Washington für Sharon immer dringender, da Netanyahu und andere Rivalen im Likud die Unterstützung davon abhängig machten, dass es „eine bedeutsame Belohnung durch die Amerikaner“ gäbe.

Die Menschen in Gaza zahlen den Preis

Unter anderen Umständen hätte ein israelischer Rückzug aus den besetzten Gebieten und die Aufgabe der Siedlungen eine große vertrauensbildende Maßnahme sein und zu einer vollständigen Erneuerung des Friedensprozesses führen können. Sharons Logik war aber eine andere: Er wollte vor allem sicherstellen, dass der Rückzug aus Gaza und die scheinbare Evakuierung der nördlichen Westbank das Ende und keineswegs der Auftakt des großen Rückzugs darstelle. Die Generale von Sharon waren ihrerseits davon besessen, dass die Palästinenser den Rückzug als „einen Sieg“ ansehen, der sie anstacheln würde, weitere Angriffe durchzuführen. Das Ergebnis war eine Eskalation im Gazastreifen. Das Blutvergießen nahm in ziemlich genau dem gleichem Maße zu wie die Zahl der Reden von Sharon, sich aus dem selben Gebiet zurückzuziehen. Die Armee führte eine Reihe von Razzien in den dichtbevölkerten, von Armut betroffenen Städten und Flüchtlingslagern durch, mit der erklärten Absicht, „verdächtige Terroristen festzunehmen“, „Terrorzellen aufzuspüren“ und „Tunnel für den Waffenschmuggel zu zerstören“. Bei diesen Razzien begleiteten Panzer die Bulldozer, die „Terroristenhäuser“ zerstörten. Oben drüber schwebten Kampfhubschrauber. Die israelische Infanterie kam kaum aus dem Schutz der Panzer heraus. Leichtbewaffnete palästinensische Miliz leistete Widerstand, so weit es ihr möglich war, während Hunderte von Jugendlichen Steine auf die gepanzerten Fahrzeuge warfen. Dieser einseitige Kampf endete natürlich mit schweren palästinensischen Opfern - in einem Fall waren fünfzehn getötet und mehr als hundert innerhalb von wenigen Stunden verwundet worden - aber die Armee war keineswegs besonders erfolgreich, was ihre ursprünglichen Ziele betraf. In vielen Fällen waren die Militanten, die sie suchten, lange vorher verschwunden. Am Ende der Razzien zogen sich die israelischen Kräfte immer wieder zurück. Die palästinensischen Milizen übten Vergeltung und schossen Mörser auf israelische Siedlungen im Gazastreifen ab. Gelegentlich wurden auch Raketen benutzt, um auf israelische Städte auf der anderen Seite der Grenze zu schießen. Als die Angriffe zunahmen, führte die Armee neue Razzien durch und zerstörte systematisch Orangenplantagen, da sie den Raketenschützen Verstecke böten. Solche Zerstörungsaktionen führen in der Regel nicht dazu, die Raketenangriffe zu beenden, sondern zu neuem Widerstand - mit neuen palästinensischen Opfern.

Die Liquidierungsliste

Selbstzufrieden stützte sich das Militär auf die Annahme, dass die Palästinenser innerhalb des Gazastreifens hinter einem 1994 errichteten Zaun eingeschlossen waren und keine Gefahr von ihnen ausginge. Dies wurde brutal widerlegt, als zwei Militante der Hamas sich in einem leeren Container einschmuggeln und damit in den israelischen Überseehafen Ashdod gelangen konnten - wo sie sich selbst in die Luft sprengten und dabei zehn Hafenarbeiter töteten. In den folgenden Tagen ging es in den israelischen Zeitungen nicht nur um die üblichen sensationellen Zahlen und Beschreibungen eines Selbstmordattentates, sondern auch um die Behauptung, dass die Attentäter beabsichtigt hätten, die großen Chemielager und Vorratslager für Düngemittel im Zentrum des Hafens in die Luft zu sprengen. „Wenn dieser satanische Plan erfolgreich gewesen wäre, wäre ein großer Teil von Ashdod zerstört worden, mit Tausenden von Opfern“, behauptete die Tageszeitung Ma’ariv, die auch einen Stadtplan von Ashdod veröffentlichte, in dem ein Radius der voraussichtlichen Explosion mit einem grellen roten Kreis gekennzeichnet war... Tatsächlich wurde kein Beweis für eine solche Absicht der Attentäter erbracht. Experten erklärten stattdessen, dass die Stärke des Sprengstoffs, die sie bei sich trugen, nicht ausgereicht hätte, die robust-gebauten Chemiecontainer zu durchbrechen. Trotzdem wurde der Anschlag von Ashdod sofort als ein „strategisches Attentat“ und fast als „ein von Israel abgewendeter 11. September gewertet“. Das innere Kabinett trat zusammen und Sharon hatte es nicht sehr schwer, eine Blankovollmacht zu erhalten, „jedes Mitglied und jeden Führer der Hamas ohne Ausnahme“ zu liquidieren. Die Regierung musste sich nicht mehr bemühen, die „gezielten Liquidierungen“ mit dem Vorwand zu begründen, dass sie nur auf „tickende Bomben“ zielten, d.h. dass die Personen aktuell darin verwickelt sind, Attentate vorzubereiten oder umzusetzen. Nun gab es keine Unterscheidung mehr zwischen den militärischen und politischen Personen. „Die ganze Hamas ist eine einzige tickende Bombe“, erklärte der Premierminister. Und tatsächlich machte ein israelischer Kampfhubschrauber vier Tage später am frühen Morgen Scheich Ahmad Yassin aus - den Gründer und verehrten Führer der Hamas - als er in seinem Rollstuhl aus einer Moschee in Gaza gebracht wurde. Eine Rakete wurde abgeschossen - die ihn und sieben andere tötete. Über 200.000 Menschen nahmen an seiner Beerdigung teil - die bislang größte Demonstration zur Unterstützung der Hamas - und die Führer der Hamas schworen grässliche Rache. Wie Kommentatoren anmerkten, war der Zeitpunkt der Liquidierung ganz angenehm für den Premierminister. Er traf genau mit dem Zeitpunkt einer Vertrauensabstimmung in der Knesset zusammen wie auch mit einem Treffen, auf dem Sharon das erste Mal offiziell seinen Gazaplan den Ministern der Likud bekannt gab. Meinungsumfragen zeigten, dass die Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit mit den Liquidierungen einverstanden war - ein nicht unbedeutender Teil war dagegen.

Die Masche mit dem Referendum

Am 28. März gab die Staatsanwältin Edna Arbel - die Nr. 2 in der Hierarchie - bekannt, dass die Beweise gegen Premierminister Sharon die Aufnahme eines Verfahrens rechtfertigen. Weiter erklärte sie, dass gerade eine Klageschrift vorbereitet werde, in der es um einige Fälle von Korruption gehen werde. Nach dem israelischen Gesetz kann eine Anklage gegen den Premierminister nur vom Generalstaatsanwalt selbst erhoben werden, dem Vorgesetzten von Arbel. Generalstaatsanwalt Mazuz, der seine Arbeit im Januar angetreten hatte, machte klar, dass er voraussichtlich Ende Mai die Beweise selbst nachprüfen und seine eigene Entscheidung treffen werde. Eine Entscheidung zur Anklage würde Sharon keine andere Wahl mehr lassen, als zurückzutreten.

Drei Tage später, nachdem Arbel ihre Bombe hatte platzen lassen, war Sharon für die eigene bereit: Er erschien auf einer Parteikonferenz der Likud und erklärte seine Absicht, zum ersten Mal ein Referendum unter den 200.000 Mitgliedern des Likud abzuhalten und damit die Loslösung des Gazastreifens ihrer Entscheidung zu unterstellen. Das Referendum ersetzte in den Schlagzeilen sofort die Korruptionsaffäre. Intensiv wurde die Entscheidung des Premierministers diskutiert, eine Abstimmung unter den Likudmitgliedern durchzuführen und nicht unter der israelischen Bevölkerung. Viele, die nicht Mitglieder beim Likud sind, waren ärgerlich und verletzt, dass sie nicht an einer Entscheidung teilhaben konnten, die so große Folgen für die Zukunft haben könnte. Irgendwie war es aber eine logische Erweiterung der abnormalen Situation, die seit 1967 existiert: Die israelischen WählerInnen bestimmen in einer unangreifbaren Wahl auch das Schicksal von einigen Millionen PalästinenserInnen ohne Wahlrecht. Die Kommentatoren fragten neugierig, warum Sharon tatsächlich nicht die gesamte israelische Bevölkerung befragen wollte - wo der Rückzug aus Gaza leicht von einer großen Mehrheit angenommen werden würde. Stattdessen hatte er seine politische Zukunft praktisch den Likudmitgliedern anvertraut, die viel nationalistischer und siedlerfreundlicher als der Großteil der Israelis sind.

Die Erklärung von Bush

Gerade, weil Sharon weit davon entfernt war, das Referendum zu gewinnen, konnte er den Hebel an einem ganz anderen Punkt ansetzen. Es war zum Beispiel der ausschlaggebende Faktor dafür, dass die Bemühungen von Weisglass in Washington zum Abschluss gebracht werden konnten. Angespannte und von Krisen geschüttelte Gespräche mit den US-Amerikanern gingen bis zum Abend, als Sharon zum Treffen ins Weiße Haus am 14. April fuhr - am Ende aber war Bush überzeugt davon, die Einwendungen der Experten des US-Außenministeriums zu übergehen und „meinem Freund Ariel“ das zu geben, worum dieser so verzweifelt gebeten hatte. In der Pressekonferenz, die weltweit im Fernsehen ausgestrahlt wurde, maßte sich Präsident Bush die Rolle als Chefunterhändler für die Palästinenser an - eine Rolle, die keinem normalen Palästinenser im Traum eingefallen wäre - und machte an ihrer Stelle zwei bedeutsame Konzessionen: Das palästinensische Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge würde sich auf einen palästinensischen Staat beziehen, „statt auf Israel“; und Israel hätte sich nicht auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen, wenn es um „israelische Siedlungsschwerpunkte“ ginge, die bereits in den besetzten Gebieten existieren. Tatsächlich war die öffentliche Meinung der Palästinenser dafür gewesen, sowohl bei den Verhandlungen mit Barak in Camp David und Taba wie auch bei den inoffiziellen Gesprächen in Genf, beide Themen zu diskutieren - im Zusammenhang mit einer umfassenden Vereinbarung und mit bedeutsamen Kompensationen für ihre Zugeständnisse. Die Palästinenser waren umso wütender auf Präsident Bush, da er an ihrer Stelle sprach, ohne sie gefragt zu haben.

Die Aktion von Sharon und Bush schien die grundsätzliche Annahme der Hamas zu bestätigen - die Verhandlungen mit Israel und die diplomatischen Lösungen sind aussichtslos, ein Kampf der einzig weiterführende Weg. Währenddessen bezogen sich palästinensische Militante, die an Selbstmordattentaten beteiligt waren, immer weniger auf die Organisationsstrukturen von Hamas, der Fatah oder anderer Gruppen, die oft an den Aktionen beteiligt sind. Ironischerweise war das auch in den Dörfern entlang der Mauer so, wo sich ein massenhafter Widerstand entwickelte - während die Palästinensische Autonomiebehörde, deren Macht von Sharon bei der Invasion vom April 2002 demontiert worden war, mehr und mehr zu einer leeren Hülle wurde, mit Parlament und Kabinett, aber kaum Substanz.

Die Masche mit dem Referendum schlägt zurück

Die Wellen des Bush-Effekts gaben Sharon Auftrieb. Er erhielt die widerwillige Einwilligung der Likud-Minister zur Loslösung von Gaza - insbesondere die Unterstützung von Netanyahu. Nach dem Plan, den die Berater von Sharon erdacht hatten, sollte der Rest der Kampagne von diesem Punkt aus ein Spaziergang sein: Mit der deutlich sichtbaren Unterstützung des US-Präsidenten und mit allen Likud-Ministern an seiner Seite sollte es keine weiteren Hindernisse geben, die Mehrheit der Likud-Mitglieder dafür zu gewinnen. Der selbstsichere Sharon entschied sich, keine Anzeigen zu veröffentlichen, keine Demonstrationen oder Haus-zu-Haus-Besuche durchzuführen - und stützte sich allein auf den unbegrenzten Zugang zu den Medien und die Loyalität der Likud-Mitglieder zu seinem Führer. Die Siedler und Likud-Hardliner führten dagegen eine riesige Kampagne durch, mit überall präsenten Anzeigen: an den Autobahnen, an den Bussen, mit Graffitis an Häuserwänden im ganzen Land. Es waren riesige Ausgaben, meistens mit Regierungsmitteln für die Siedler bestritten... Tausende von Siedlern - die natürlich persönlich davon betroffen waren - verteilten sich über das Land, besuchten selbst Likud-Mitglieder zu Hause und führten emotionale und demagogische Argumente an: „Wir, jüdische Pioniere, werden aus unseren Häusern vertrieben, in die sich die Terroristen der Hamas einquartieren werden; unsere Synagogen werden entweiht und in Moscheen verwandelt werden; die Kindergärten unserer Kinder werden islamisch werden, aus ihnen werden Selbstmordattentäter erwachsen...“

Im Vergleich zur klaren Mitteilung der Siedler, waren die Aussagen von Sharon widersprüchlich. Mehr als jemals zuvor, als er den Maulheld spielte, sprach er von den Palästinensern in einer verachtenden und bedrohlichen Art, er wiederholte eins ums andere Mal, dass sein Plan das Schlimmste für die Palästinenser sei, verwies auf die vergangenen Liquidierungen und versprach, neue auszuführen. Und es waren nicht bloße Worte - in der letzten Woche vor dem Referendum gab es jeden Tag ein neues Kommuniqué des Militärs, in dem von immer mehr „gesuchten Terroristen“ gesprochen wurde, die „während der Flucht erschossen“ worden seien. Solch eine dramatische Steigerung passte nicht zum Plan, für dessen Annahme Sharon warb - ein Plan zum Rückzug und zur Zerstörung der Siedlungen - und seine Zuhörer fühlten es wohl. In einem letzten Versuch kam Sharon mit - so wird er wohl angenommen haben - seiner Trumpfkarte: Jasir Arafat. In einem Fernsehinterview drohte er, den palästinensischen Präsidenten zum nächsten Ziel auf der Liste der Liquidierungen zu machen. Auch das schlug zurück. Inwieweit Präsident Bush auch zu Sharon und gegen Arafat stehen mag, er realisierte, dass die Ermordung von Arafat durch israelische Hände viel zu sehr die US-Interessen in der Region bedroht hätte. Er stellte klar, dass er weiter an Sharons ursprünglicher Verpflichtung festhält, Arafat keinen Schaden zuzufügen.

Für die Mitglieder des Likud war der Anblick von Sharon, der als aufbrausender Maulheld von einem größeren Maulhelden zurückgepfiffen wird, nicht erbauend. Nun zeigten die Siedler auch noch ihre Stärke und brachten Zehntausende auf für eine Demonstration zu einer Siedlung im Gazastreifen. So zeigten drei Tage vor der Abstimmung alle Meinungsumfragen an, dass Sharon verlieren würde. Mit einer Handvoll von Helfern lancierte Sharon fieberhaft Aktivitäten. Am letzten Wochenende vor dem Referendum rief der Premierminister persönlich Tausende von Likud-Mitgliedern an. Zur selben Zeit forcierte er die fortwährende Fahndung in den besetzten Gebieten und weitete auch die Liquidierungsaktionen vom Gazastreifen auf die Westbank aus. In der Nacht zum 1. Mai, einige Stunden vor Beginn des Referendums, während einer der „in die Tiefe gehenden Razzien“ im Gazastreifen in der Stadt Khan Yunis, eröffneten israelische Soldaten hemmungslos das Feuer und töteten ein acht Jahre altes Kind. Am Abend wurde es kaum in den Medien erwähnt, die Erschießung eines palästinensischen Kindes ist schon so üblich geworden. Zwölf Stunden später griffen zwei palästinensische Militante ein Siedlerauto am Eingang zum Gazastreifen an und töteten eine junge Mutter mit ihren vier Kindern.

Als Sharon und seine Helfer hörten, was passiert war, sahen sie: das Spiel war vorbei. Dieses Mal würde ihnen die Tragödie nichts nützen.

Ob er wirklich beabsichtigte, den Gazastreifen zu räumen, wird wahrscheinlich für immer strittig bleiben. Selbst wenn er es wollte, wird es ihm nun kaum möglich sein, die Siedlungen zu räumen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Sharon wie ein verwundeter Löwe verhalten - und mit mehr Gewalt um sich schlagen wird. Für einen skrupellosen Mann, dessen militärische und politische Karriere der letzten fünf Jahrzehnte zumeist in gefährlichen Unternehmen bestand, wäre es nur natürlich - erst recht, wenn er nichts mehr zu verlieren hat. Es wäre definitiv für alle das Beste, wenn ihm Generalstaatsanwalt Mazuz durch eine Anklage wegen Korruption den Gnadenstoß gäbe und man ihn ein für allemal los werden würde - aber darauf kann man nicht vertrauen. Es ist auch zu sehen, dass die extremen Elemente der israelischen Rechten nun weit in den politischen Mainstream des Landes eingedrungen sind und eine Art von Vetomacht etabliert haben, die länger dauern könnte, als die ungute Erinnerung an Sharon. Die Medien widmen nun Moshe Feiglin starke Aufmerksamkeit, der die Fraktion Jüdische Führerschaft gegründet hatte und sich aufmacht, den Likud zu unterwandern, um ihn schließlich zu übernehmen. „Heute den Likud, morgen das ganze Land. Wir bringen die Dinge ins Lot, die Leute zu ihren jüdischen Wurzeln zurück und richten die Rolle der Gläubigen wieder auf.“ Derzeit ist der Sieg dieser rückschrittlichen Kräfte nicht zwangsläufig. Das Referendum in der Likud-Partei wurde durch die Stimmen von etwa 50.000 Personen entschieden - weniger als ein Prozent der israelischen Bevölkerung, ein kleiner Teil sogar unter den Likud-Wählern des letzten Jahres. In der israelischen Öffentlichkeit und auch unter der Mehrheit der Likud-Wähler gibt es einen ernsthaften Wunsch, aus Gaza heraus zu gehen (und nicht nur aus Gaza) und ein Ende des langen, ermüdenden Konflikts zu finden. Es ist ein tiefer und weiterverbreiteter Wunsch, der seinen politischen Ausdruck sucht und Grund dafür ist, dass Sharon die Gaza-Initiative an die erste Stelle setzte. Sharon konnte die Initiative aber nur ungeschickt und halbherzig fördern, weil er ist, was er ist.

Gerade wegen des aktuellen Schocks könnte dieser unklare Wunsch, die Besatzung zu beenden, einen klareren Ausdruck finden. So könnte der Zusammenbruch des Experiments von Sharon zu einem einseitigen Weg schließlich die öffentliche Meinung verändern: Zur Idee von Friedensverhandlungen mit den palästinensischen Partnern - die Option, die Sharon ausradieren wollte.

Fußnoten

1 linker Flügel der Arbeitspartei

2 Die Roadmap ist ein Friedensfahrplan, der im Jahre 2003 von der Europäischen Union, den USA, Russland und den Vereinten Nationen vorgelegt wurde. Er sieht die Schaffung eines palästinensischen Staates bis zum Jahr 2005 vor.

Adam Keller: The Doomed Gamble, Mai 2004; Übersetzung aus dem Englischen: Rudi Friedrich und Thomas Stiefel; Auszüge aus: The Other Israel, Holon, Israel, Mai 2004. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Broschüre »Israel/Palästina: Widerstand gegen Terror, Krieg und Besatzung«, Offenbach/Main, Mai 2004. Wir danken für die finanzielle Förderung durch den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED).

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