Russland: „Soldaten werden zur Unterschrift gezwungen“

Interview mit Ljudmilla Wachnina

Die 63-jährige Ljudmilla Wachnina, von Beruf Physikerin, die seit 1995 für die Rechte der Soldaten in der russischen Armee kämpft, hat in zahlreichen Projekten und Organisationen mitgewirkt. Sie ist Mitglied des Menschenrechtszentrums Memorial, war viele Jahre Aktivistin der russlandweit tätigen Koalition für einen demokratischen Zivildienst, einer Dachorganisation von über 100 Organisationen. Ljudmilla Wachnina ist Leiterin des Programmes Der überflüssige Soldat, das sich für die Rechte der russischen Soldaten stark macht. Bernhard Clasen sprach mit ihr im Januar 2009.

Sie setzen sich seit über zehn Jahren für die Rechte von Soldaten in Russlands Armee ein. Was war der Auslöser ihres Einsatzes?

Der erste Tschetschenien-Krieg 1995 hat mein Leben sehr verändert. Ich sah die ganzen Schrecken des Krieges, fühlte mit den Soldaten mit, die durch diese Hölle gehen mussten, begriff, dass ich nicht mehr länger dieser Entwicklung tatenlos zusehen durfte. Ich entschied mich, gegen den Krieg zu kämpfen und denen zu helfen, die nach Tschetschenien mussten.

Ich habe damals ein Bulletin herausgegeben, „Für ein friedliches Russland”. Dieses verbreiteten wir in allen Regionen Russlands, in ihm fanden sich Zeugnisse von Soldatenmüttern. Und relativ schnell kristallisierte sich für uns als Schwerpunkt heraus, dass wir Soldaten helfen. Insbesondere in den Regionen wussten viele nicht, dass Soldaten nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben. Kaum jemand wusste, dass per Gesetz die Einberufung von kranken Männern verboten ist.

Arbeiten Sie alleine oder sind Sie für eine Organisation tätig?

Mir war es von Anfang an wichtig, die Initiativen gegen den Krieg und für die Rechte der Soldaten zu vernetzen. Neben meiner Arbeit für das Bulletin habe ich am Aufbau der Koalition für einen demokratischen Zivildienst mitgewirkt. Diese Organisation, zu der über 100 Organisationen von Kaliningrad bis Chabarowsk gehören, kämpfte nicht nur für die Einführung eines Zivildienstes, sie hat sich auch nach der offiziellen Einführung eines alternativen Zivildienstes 2002 weiter für die Soldaten in der russischen Armee eingesetzt.

Im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes zum Zivildienst haben wir aktiv Vorschläge ausgearbeitet und diese Vorschläge in die Gesetzgebung eingebracht.

Eines Ihrer wichtigsten Themen ist die Zwangsarbeit von Soldaten. Wie stellt sich das dar?

In Russland und in der Sowjetunion sind Soldaten immer wieder zu Arbeiten gezwungen worden, die mit dem Militärdienst nichts zu tun haben. Noch gut kann ich mich daran erinnern, wie ich als Studentin Soldaten beim Putzen der Fenster unseres Instituts beobachtet habe. Damals haben wir uns nicht einmal etwas dabei gedacht. Und daran hat sich in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nichts geändert. Soldaten wurden in Russland nach dem Ende der Sowjetunion als billige Arbeitskräfte an Firmen und Organisationen regelrecht weiterverliehen, sie mussten Datschen für die Generäle bauen, in Fabriken und bei Ernteeinsätzen arbeiten. Den Lohn erhalten aber nicht die Soldaten, sondern ihre Militäreinheit und damit die Offiziere. Die Offiziere vieler Einheiten haben regelrecht Verträge mit kommerziellen Firmen über die Arbeitseinsätze ihrer Soldaten abgeschlossen.

Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

2003 begannen wir, die Öffentlichkeit über diese Zwangsarbeit zu informieren. Wenig später, 2004, stellten wir einen Bericht zu diesem Thema vor, den wir dem russischen Menschenrechtsbeauftragten, internationalen Menschenrechtsorganisationen und der Presse zur Verfügung stellten. Das Echo war überwältigend.

Auf der Grundlage unseres Berichtes erstellte der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation, Wladimir Lukin, einen eigenen Abschnitt zu diesem Thema in seinen Jahresbericht. Der damalige Menschenrechtskommissar des Europarates, Alvaro Gil-Robles, interessierte sich nach der Lektüre unseres Berichtes so sehr für das Thema, dass er bei einem Russlandbesuch mehrere Militäreinheiten in Chabarowsk aufsuchte. In seinem anschließenden Bericht kritisierte Robles scharf die Zwangsarbeit von Soldaten.

Nun geriet die Situation der russischen Soldaten immer mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Im Herbst 2005 sah sich das russische Verteidigungsministerium gezwungen, in einem Erlass die Zwangsarbeit von Soldaten zu verbieten. Leider änderte dieser Erlass in der Praxis nur wenig. Er diente mehr dazu, die Öffentlichkeit und das Ausland zu beruhigen.

In einem weiteren Bericht, den wir als Koalition für einen demokratischen Zivildienst 2006 veröffentlichten, beschrieben wir erneut die Situation der russischen Soldaten, die sich auch nach diesem Erlass kaum gebessert hatte. Zwar kam es zu einigen Gerichtsprozessen, doch in den meisten Fällen erhielten die angeklagten Offiziere nur eine Bewährungsstrafe oder mussten eine Geldbuße bezahlen, umgerechnet zwischen ca. 300 und 2.400 Euro.

Eigentlich ist die Zwangsarbeit von Soldaten nur dort zurückgegangen, wo Menschenrechtler vor Ort die Lage in den Kasernen sehr genau beobachten.

Ich kann nicht sagen, wie verbreitet die Zwangsarbeit in der russischen Armee ist. Dazu gibt es keine Statistik. Aber allein die Koalition für einen demokratischen Zivildienst hat im letzten Jahr 300 Fälle von Zwangsarbeit in der russischen Armee dokumentiert. Insgesamt ist dies auch nach dem Erlass des Verteidigungsministers von 2005 weiterhin sehr verbreitet.

Die rechtlose Situation der Soldaten wird von den Vorgesetzten schamlos ausgenutzt. Da die Staatsanwaltschaft in der Regel diesem Treiben zusieht, gibt es für die Betroffenen keinen effektiven Schutzmechanismus. Wir Menschenrechtler tun unser bestes, um ihnen trotzdem einen gewissen Schutz zu ermöglichen. In unserem soeben erschienen Bericht zu 2008 (Herausgeber ist die Koalition für einen demokratischen Zivildienst) berichten wir von einem Fall aus der Stadt Dzerschinsk. Dort hatte ein Oberst Soldaten an eine Baufirma verliehen. Die Baufirma hatte den Soldaten zwar einen Bauwagen für deren Übernachtungen zur Verfügung gestellt. In diesem war jedoch keine Heizung. Die Soldaten hatten sich daraufhin selbst eine Heizspirale gebaut. Doch eines Tages kam es zu einem Feuer, ausgelöst von dieser Heizspirale, bei dem einer der Soldaten in den Flammen ums Leben kam. In dem anschließenden Prozess wurde der Oberst, der die Soldaten verliehen hatte, zu fünf Jahren verurteilt. Doch unmittelbar nach dem Prozess wurde der Oberst amnestiert. Die gleichzeitig verhängte Geldstrafe ist ungewöhnlich hoch: eine Million Rubel (ca. 30.000 Euro) musste die Einheit an die Mutter des toten Soldaten bezahlen. Doch nicht der Oberst musste diese Strafe bezahlen, sondern die Militäreinheit, und damit der Staat, letztlich also die Steuerzahler.

Werden die Verträge, in denen sich Männer freiwillig für eine längere Zeit für den Militärdienst verpflichten, immer ohne Druck abgeschlossen?

Das Militär findet nicht genügend Berufssoldaten. Gründe dafür gibt es genug. Von einer guten Bezahlung kann keine Rede sein. Berufssoldaten erhalten gerade einmal zwischen sechs- und siebentausend Rubel, das sind umgerechnet 160 Euro. Im Oktober wurde der Sold auf 8.000 Rubel erhöht, das sind knapp 200 Euro. Nur wer in Tschetschenien Dienst leistet, erhält mehr. Und weil sich nicht genügend Leute finden, die Berufssoldat werden wollen, wird eben mit Druck nachgeholfen. Die Vorgesetzten haben ein ganzes Instrumentarium von Druckmöglichkeiten zur Verfügung, mit dem sie ihre Soldaten zwingen können, den Vertrag zu unterschreiben. Zwar darf ein Soldat erst nach einem halben Jahr Militärdienst einen Zeitvertrag unterschreiben. Doch oft werden sie bereits nach zwei oder drei Monaten zur Unterschrift gezwungen. Nur dort, wo Menschenrechtler die Kasernen beobachten, kann die Willkür eingeschränkt werden. So musste die Staatsanwaltschaft in Kaliningrad 80 Verträge annullieren. Zuvor hatten die vor Ort tätigen Menschenrechtler aufgedeckt, dass die Soldaten zur Unterschrift gezwungen worden waren.

Oft genügt die Drohung, man werde einen Soldaten in eine Einheit versetzen, die für ihre Grausamkeiten unter den Soldaten bekannt ist. Immer wieder wenden Offiziere körperliche Gewalt an. Manch ein Soldat hat so sein Leben verloren oder wurde für den Rest seines Lebens zum Invaliden.

Wer die begehrte Unterschrift abgegeben hat, ist nicht vor Willkür geschützt. Viele Soldaten sehen ihren Lohn nicht oder nur teilweise, werden aber gezwungen, den Empfang des nicht erhaltenen Lohnes zu quittieren. Oft erhalten Soldaten bei ihrer Entlassung keine Entlassungspapiere, die Gehälter gehen so weiter auf das Konto der Einheit und dann in die Taschen der Offiziere. Und wenn ein entlassener Soldat in eine Passkontrolle gerät, man in seinen Papieren keinen Entlassungsstempel der Armee findet, ist auch eine Festnahme wegen Fahnenflucht nicht auszuschließen.

400 Soldaten sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums im letzten Jahr in der Armee umgekommen, die bei Kriegseinsätzen getöteten Soldaten sind hier noch nicht mitgezählt. Ist diese Zahl realistisch?

Das Komitee der Soldatenmütter und die Stiftung Das Recht der Mutter, die Familien unterstützt, deren Söhne beim Militär ums Leben gekommen sind, nennen hier andere Zahlen. Deren Angaben zufolge verliert die russische Armee in den letzten Jahren jedes Jahr zwischen zweieinhalb- und dreitausend Soldaten, die in Kriegseinsätzen gefallenen Soldaten sind hier noch gar nicht mit eingerechnet.

Die Zahlen der Soldatenmütter und der Stiftung Das Recht der Mutter scheinen mir realistisch zu sein. Wissen Sie: Statistiken geben nicht die ganze Wahrheit wieder. Wenn ein Soldat bei der Armee verletzt wird und wenig später im Krankenhaus stirbt, wird sein Tod nicht in diese Statistik aufgenommen.

Interview mit Ljudmilla Wachnina, Januar 2009. Das Interview führte Bernhard Clasen. Wer Kontakt mit Ljudmilla Wachnina aufnehmen möchte, kann sich gerne an den Autor des Artikels wenden über www.clasen.net. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Broschüre »Machtproben im Kaukasus«, Februar 2009

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