Neuer Krieg niedriger Intensität in Serbien

von Marija Perkovic und Stasa Zajovic

Der Wahlkampf des früheren und aktuellen Präsidenten Boris Tadic hatte die Integration Serbiens in die Europäische Union in den Mittelpunkt gerückt. Dennoch wurde mit dem Kosovo als "ein untrennbarer Teil des Territoriums" von Serbien gespielt. Damit wird die Wiederannäherung der Demokratischen Partei an die populistisch-nationalistische Ideologie der Zeiten unter Milosevic fortgesetzt, eine Ideologie, die derzeit insbesondere durch die Demokratische Partei von Serbien von Vojislav Kostunica und die Serbische Radikale Partei präsentiert wird, deren Kandidat bei den letzten Wahlen Tomislav Nikolic war, der nur knapp Boris Tadic bei der Präsidentschaftswahl unterlag.

Gleichzeitig brachte der hart erkämpfte Sieg von Tadic die Unfähigkeit der Demokratischen Partei und ihrer Führer zum Vorschein, nach der Ermordung von Premierminister Zoran Djindjic den Kurs der europäischen Integration fortzuführen. Der Grund für die ideologische Annäherung an die Rechten und für die weitreichenden Konzessionen gegenüber Kostunica (bei der Aufstellung der Regierung im letzten Jahr, als es z.B. Kostunica gelang, über das Büro des Premierministers und den Polizeiminister zu verfügen), liegt nicht in der faktischen Macht von Kostunica begründet, sondern bei der Führung der Demokratischen Partei, in der nach einer Säuberung nach der Ermordung von Djindjic "moderate Nationalisten" fest im Sattel sitzen. Die letzten Wahlen in Serbien haben wieder einmal bestätigt, dass die Opposition der Milosevic-Ära keine wirkliche zivile Alternative war, sondern in breiten Teilen nationalistisch. Und obwohl diese politischen Lager keine militärische oder wirtschaftliche Handhabe hatten, das Projekt eines "Großserbiens" voranzutreiben, wurden alle Fehler, die Korruption und kriminelle Handlungen, kleingeredet mit der Rhetorik, dass die serbische Bevölkerung "Opfer der neuen Weltordnung" sei. Viel zu sehr vom Nationalismus beeinflusst, ohne charismatische Personen und einem Mangel an Wissen und Erfahrung sind die Aussichten gering, dass Tadic und die Demokratische Partei Serbien nach Europa führen.

Wie wird die Mitgliedschaft in der Europäischen Union der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs präsentiert?

Die Mitgliedschaft von Serbien in der Europäischen Union wird vor allem dargestellt mit:

  • Möglichkeiten für neue Investitionen; das ist das Thema, auf das die Minister der gegenwärtigen Regierung der Demokratischen Partei setzen.
  • Einer voreingenommenen Botschaft der wichtigsten Medien; sie sehen durch eine EU-Mitgliedschaft einen Verlust von Identität, Stolz und Territorium.
  • Dem Fokus auf die Menschenrechte durch die zivilgesellschaftlichen Kräfte, was aber kaum Thema in der Öffentlichkeit ist.

Neue Investitionen stellt für die Mehrheit der Einwohner von Serbien kaum ein klar umrissenes Konzept dar - nach den umfangreichen Plünderungen der staatlichen und sozialen Wohlfahrt in der Milosevic-Ära und dem ultimativen Zusammenbrechen ihrer Betriebe bzw. den massiven Entlassungen nach dem Oktober 2000. Die Erfahrung der Privatisierung in Serbien wurde auf der einen Seite bei der Mehrheit der Betriebe als Insolvenz erlebt. Auf der anderen Seite war es ein Ausverkauf zu radikal niedrigen Preisen - in Verbindung mit dem Verlust an Arbeitsplätzen - mit unverfrorener Einmischung der staatlichen Führer bei der Verwendung der Gelder, was die Zweifel in der Bevölkerung sprunghaft ansteigen ließ.

Die Einfachheit der nationalistischen Rhetorik, die die meisten Medien durchziehen, ergibt für den größten Teil der Bürger Serbiens viel mehr Sinn. Es erlaubt, klar auswärtige Instanzen zu benennen und ihnen die Verantwortung zuzuschreiben, wie der Europäischen Union, den USA oder den Kosovo-Albanern. Ihnen wird damit die gesamte Verantwortung auf die Schultern geladen. Tatsache ist, dass die offizielle Zahl zur Arbeitslosigkeit mit 25% angegeben wird und das fast 30% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. In der Realität ist der Prozentsatz viel höher und es wird angenommen, dass über 60% der Bevölkerung in Serbien in Armut lebt. Unter solchen Umständen schürt die echte ökonomische und soziale Unfähigkeit den Nationalismus.

Die Botschaft der zivilgesellschaftlichen Kräfte findet nur bei Wenigen Widerhall, da ein bestimmtes Bildungs- und kulturelles Niveau sowie gewisse soziale Hintergründe Voraussetzung dafür sind. In diesem Zusammenhang ist die Zunahme der Wählerstimmen für die Liberaldemokratische Partei von Cedomir Jovanovic einzuschätzen, die auch in Zukunft nicht mehr als diese knapp 6% erhalten wird.

Als weiterer Rückschlag ist die Tatsache zu werten, dass sich die politischen Parteien, die das Wort "demokratisch" führen, aktuell nicht um die Verlierer der Veränderungsprozesse kümmern, z.B. mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen, die es in unserer Gesellschaft gibt. Ihre Rhetorik richtet sich an die dünne Mittelschicht, die sich im Allgemeinen aus der staatlichen Verwaltung speist und nicht aus der Wirtschaft, und schließt damit die Mehrheit der Bevölkerung aus. Der verarmte Teil Serbiens ist gedankenlos der Serbischen Radikalen Partei ergeben, d.h. einem Populismus schlimmster Sorte.

Können wir Änderungen der offiziellen Politik erwarten, oder wird es ein Déja Vu?

Das Verhalten der politischen Elite nach den Wahlen und der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo lässt keine Änderung der Politik erwarten. Die Politiker, die organisiert haben, dass Hooligans und Neonazis auf den Straßen demonstrieren, können kaum ernst genommen werden. Die wichtigeren Befürworter solch einer Politik sind die Koalitionspartner der gegenwärtigen Regierung, die Demokratische Partei Serbiens von Premierminister Kostunica. Die Demokratische Partei von Präsident Tadic zeigt extreme Nachsicht gegenüber der Politik Kostunicas, während die ultra-nationalistischen Radikalen gegenwärtig die Regierungspolitik führen.

Was zeigen die letzten Unruhen in Serbien nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo an?

Die unrealistische Wahrnehmung der serbischen Position auf dem Balkan, in Europa und auf der übrigen Welt, wie auch die offensichtliche Ignoranz der Regierungsstrukturen (so die Nichtwahrnehmung der Unterschiede zwischen der Rolle des Staates und der der Gesellschaft, was zum Beispiel bei den vom Staat organisierten Straßendemonstrationen beobachtet werden konnte), deckt eine vollständig unreife Macht auf. Sie ist schlecht vorbereitet auf die Auseinandersetzung mit diesen Verhältnissen. Das Ergebnis einer gemäßigten Politik des einen Teils der Regierung und einer extrem nationalistischen Politik auf der anderen Seite wurde bei den wilden Ausschreitungen der Hooligans und Banden von Sportfans sichtbar, die am 12. Februar 2008 ihren Höhepunkt erreichten. Die gewalttätigen Ausschreitungen sind keineswegs ein Ausdruck sozialer Unzufriedenheit, sondern vielmehr zeigen sie die sozial-pathologische Situation an, die Serbien nicht überwinden kann. Es ist die gleiche Symptomatik, die die sogenannten Wochenendkämpfer und andere Kriegsverbrecher in der Vergangenheit hervorbrachte. Heute nimmt es die Form von professionell unterstützten Banden und wachsenden neo-nationalistischen und klerikal-faschistischen Gruppen an. Verantwortlich dafür, dass diese destruktiven Gruppen existieren, die selbst die Polizei nicht im Zaum halten kann, sind Kostunica und all die politischen Kräften des Nach-Oktober, die verhinderten, dass die Politik des Regimes unter Milosevic gebrochen wurde und die eine umfassende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihren Verbrechen, die in unserem Namen begangen wurden, verhinderten. Falls es keine sichtbare Änderung gibt, etwa, dass. sich die Demokratische Partei mit dem Kern des Problems auseinandersetzt - was höchst unwahrscheinlich ist - sind keine neuen Entwicklungen zu erwarten. Serbien wird tiefer in die Isolation und den Sumpf versinken, oder zu einer Kolonie des Putinschen Russlands werden.

Wie ist die allgemeine Stimmung in Serbien?

Die allgemeine Stimmung ist durch Zorn gekennzeichnet. Das zeigt sich z.B. bei einer SMS, die gegenwärtig im Land kursiert: "Wenn Du die SMS öffnest, hast Du einen Shiptar (Schimpfwort für Kosovo-Albaner) getötet. Dein Lächeln verrät, dass es Dir Spaß gemacht hat. Leite die SMS weiter! Lass das Lächeln auf die serbischen Gesichter zurückkehren! Lang lebe Serbien!"

Es ist ein Krieg niedriger Intensität in Serbien, gegen diejenigen, die sich weigern, den nationalen Konsens zu akzeptieren, wie er durch die Nationalisten in der Regierung und Opposition formuliert wird, geführt von der Idee des "Vaters der Nation", Dobrica Cosic, dass "wir alle Gewinner der Kriege sind und Verlierer des Friedens". Diese Idee des ständigen Kriegszustandes, wobei Plünderungen, Ermordungen und ethnische Säuberungen, wie sie in den 90er Jahren der Fall waren, außerhalb der Grenzen Serbiens nicht mehr erlaubt sind, führt:

  • zu Straffreiheit und ungestrafter Gewalt; das ist eine Konsequenz der Glorifizierung der Kriege und der Kriegsverbrechen, die es auf allen Ebenen in den 90er Jahren gab.
  • zu Aggressionen innerhalb der Gesellschaft; sie ist offensichtlich staatlich sanktioniert und wird gewöhnlich von "unkontrollierbaren" extremistischen Elementen ausgeübt, die die Sicherheit aller Menschen aufs Spiel setzen, insbesondere von MenschenrechtsaktivistInnen u.a.
  • zu Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Gedankenfreiheit und von kritischem Denken; auf einer institutionellen Ebene wird die Gewalt und sogar physische Eliminierung von Andersdenkenden gefördert
  • das ist nicht mehr nur typisch für das Verhalten von klerikal-faschistischen Organisationen, denen nun einige der Minister der Regierung der Republik Serbien, insbesondere Velja Ilic, beigetreten sind. zur Schaffung von Feinden; die Verleumdung, Diskreditierung und Kriminalisierung von Friedens- und MenschenrechtsaktivistInnen schreitet seit Beginn der 90er Jahre voran. Seit der Ermordung von Premierminister Zoran Djindjic hat sie an Kraft gewonnen, insbesondere seit die gegenwärtige Regierung unter Vojislav Kostunica an die Macht kam. Friedens- und MenschenrechtsaktivistInnen, die für einen Bruch mit der kriminellen Vergangenheit plädieren und die Wahrheit über die Verbrechen suchen, die in unserem Namen begangen wurden, mit dem Glauben, dass dies eine Vorbedingung für einen stabilen und gerechten Frieden und die Durchsetzung von Recht und Demokratie ist, wurden verschiedener Formen von Repression und Gewalt ausgesetzt.
  • zu einem Klima der ständigen Angst, Bedrohung und Verschwörung; auf das Gesicht des Feindes zu zeigen, ist die wichtigste Rechtfertigung für Unterdrückung. Deswegen werden Anklagen wegen "Hochverrat" oder wegen Gefährdung der "verfassungsmäßigen Ordnung" eingefordert. Das machen vor allem Medien, die von Institutionen kontrolliert werden, die von der Regierung von Serbien oder der ultra-rechten nationalistischen Serbischen Radikalen Partei kontrolliert werden. Diese Kampagnen schaffen eine Klima der Lynchjustiz, die auf einige der Verteidiger der Menschenrechte und prominente Vertreter der Zivilgesellschaft zielt. In den letzten Monaten wurde dies verstärkt betrieben im Zusammenhang mit der Abschlussresolution zum Status des Kosovo und hat seinen Höhepunkt jetzt mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo erreicht.

Was ist das Ziel des Krieges niedriger Intensität?

  • Die Schuld auf "Kollaborateure" schieben und sie zu "Sündenböcken" machen; Ihnen wird die gesamte Situation, das ganze Fiasko, die Gefährdung der "verfassungsmäßigen Ordnung" (der Verlust des Kosovo) zur Last gelegt, mit dem Ziel, die Integrität der Menschen oder Gruppen zu brechen.
  • Horizontale Unterdrückung; Der Staatsapparat ist nicht die vorrangige Quelle der Unterdrückung bzw. Kontrolle, weil ein Staat in Alarmbereitschaft darin alle Bürger, die Nachbarn usw. einbezieht - es ist ein Mechanismus der Denunzierung.
  • Stigmatisierung; Der Schutz der Bürger vor "Gefahr" und "sozialer Störung" (personifiziert durch uns, da wir nicht Teil des Konsens’ sind), ermutigt die "Bürger" selbst bei MenschenrechtsverteidigerInnen Hand anzulegen...
  • Unterdrückung des persönlichen Lebens, der soziale Tod; Die repressive Strategie der Vertreibung aus dem "normalen Leben", der Angriff auf das private Leben mit dem Ziel, eine noch größere Verwundbarkeit, emotionale und tatsächliche Unsicherheit zu schaffen, wirkt sich auf die Möglichkeiten aus, Aktionen durchzuführen und Dinge zu ändern.
  • Verhinderung oder Abtötung jeder Form von Selbstorganisation und bürgerlicher Solidarität; Das Ziel der politischen Repression ist es, die Netzwerke der Solidarität zu zerstören und die "internen Feinde" unter Kontrolle zu bringen.

Welche Haltung haben Zivilgesellschaft und Frauenbewegung dazu?

Die Zivilgesellschaft in Serbien sieht sich deshalb angesichts der aktuellen Ereignisse, die unter dem Vorwand der Gefährdung der nationalen Interessen aufgrund des Verlustes des Kosovo im Gange sind, mit ernsthaften Problemen und Aufgaben konfrontiert. Es ist ein Versuch, eine nationalistische Regierung einzusetzen und zu einer ethnischen Gleichschaltung der Bevölkerung zurückzufallen, wie es in Deutschland in den 30er Jahren geschah und in Serbien in der Zeit, als Milosevic an die Macht kam.

Wenn wir uns nicht dieser kriminellen Politik entgegenstellen und das Wertesystem durchbrechen, das zu den Kriegen geführt hat, die sich mit den Namen Milosevic und Seselj (dem heutigen Präsidenten der Serbischen Radikalen Partei) verbinden, gibt es keine Hoffnung für Serbien. Das ist die wahre Realität für den Teil der Zivilgesellschaft in Serbien, der nicht nur die Bezeichnung vor sich her trägt, sondern an einem System von Werten festhält und sich aktiv an einem Prozess der Konfrontation mit der Vergangenheit beteiligt, um die Katharsis (innerliche, sittliche Reinigung) zu erlangen. Es gibt einen breiten Konsens innerhalb der Zivilgesellschaft in Serbien, von dem das Netzwerk von Frauen in Schwarz unzweifelhaft ein integraler und konstitutiver Bestandteil ist, dass die Suche nach den Verantwortlichen für den Krieg und die Kriegsverbrechen, die Bestrafung der Militärs, Vollstrecker und Antreiber der Verbrechen, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts begangen worden sind, beständig weiter geführt werden muss, wenn es eine Zukunft für Serbien geben soll.

Wir müssen weiter ringen um Veränderungen für ein sogar strengeres Wertesystem:

  • Jede Relativierung der Verbrechen und Akzeptanz von Gewalt muss abgelehnt werden.
  • Die Werte der Solidarität und der gegenseitigen Unterstützung müssen weiter entwickelt werden.
  • Gemeinsame Aktionen sind durchzuführen und die Koalitionen der Solidarität sind zu stärken, sowohl gegenüber der kriminellen Vergangenheit und der Politik der Ausgrenzung von anderen, wie auch gegen faschistische und klerikal-faschistische Tendenzen, Homophobie, Hass und alle Formen der Diskriminierung.

Mit diesen Zielen fordern die Organisationen der Zivilgesellschaft die politische und allgemeine Verantwortung des Premierminister Kostunica ein, wie auch des Minister Ilic, der bei verschiedenen Gelegenheiten Gewalt unterstützt und zu Gewalttaten ermutigt hat, des Erziehungsministers Lonca, der befohlen hatte, alle Schulen am 21. Februar zu schließen, damit das Lehrpersonal an der Demonstration teilnehmen konnte und die Schüler auf die Straßen gehen konnten, um gewalttätige Aktionen vorzubereiten, die sich am Abend in den Straßen von Belgrad zuspitzten, wie auch von anderen Regierungsvertretern, die eine Atmosphäre der Angst und Gewalt schafften.

Kontakt

Women in Black, Jug. Bogdanova 18/5

11000 Belgrade, Serbien

Tel. und Fax: +381-11-2623225

stasazen(at)eunet(Punkt)yu

Marija Perkovic und Stasa Zajovic, Frauen in Schwarz Belgrad: Serbia Faces Low Intensity War Again. 25. Februar 2008. Übersetzung: Rudi Friedrich und Thomas Stiefel. Der Beitrag erschien in: Connection e.V. und AG "KDV im Krieg" (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, März 2008.

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