"Ihre Lösung für alles hieß: Tabletten"
Bericht zu Kriegserlebnissen, PTSD und Flucht aus dem Militär (Dave Cortelyou)
Dave Cortelyou ging Ende November 2004 zur US-Armee, mit der Hoffnung, Feuerwehrmann werden zu können. Vom 14. Januar 2006 bis 13. Januar 2007 wurde er in Bi’aj und Ramadi im Irak eingesetzt: als Fahrer, MG-Schütze, Funker und Telefonist. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland kämpfte er mit Depressionen und dachte an Suizid. Statt Hilfe zu erhalten, teilte ihm das US-Militär mit, dass er zu einer anderen Einheit in den Irak geschickt werden sollte. Dieser Aufforderung kam er nicht nach. Cortelyou verließ insgesamt zwei Mal unerlaubt die Armee, die ihn aufgrund dessen im Jahre 2007 entließ. Heute lebt er in Gießen. Der hier dokumentierte Beitrag beruht auf einem Radiointerview, das Courage to Resist am 5. April 2008 mit ihm führte. (d. Red.)
Zum Militär bin ich eigentlich nur gegangen, weil ich keine bessere Möglichkeit hatte. Die Schule hatte ich abgebrochen, bekam zwar eine Art Abschlusszeugnis, aber mit dem bekam ich keinen Job. Eines Tages hatte ich es satt. Ich sagte mir: „Ich bin 18 Jahre alt, immer nur auf Jobsuche, und keiner stellt mich ein. So kann’s nicht weitergehen. Ich frag’ mal beim Militär.“ Und genau das hab’ ich gemacht. Ich bin zum Militär gegangen, hab’ die Papiere unterschrieben und schon saß ich im Flugzeug in Richtung Fort Sill. Dort bekam ich eine Grundausbildung als Artilleriebeobachter, ich lernte, Artillerie anzufordern und so.
Danach wurde ich als Mitglied eines Feldartillerieregiments nach Gießen (Deutschland) geschickt. Dort war ich ungefähr elf Monate stationiert. Während dieser Zeit wurden wir fit gemacht und auf den Kriegseinsatz vorbereitet.
Im Dezember 2005 wurde ich mit meiner Einheit in den Irak verlegt. Die ersten fünf Monate waren wir in Bi’aj stationiert. Dort ging es relativ ruhig und sicher zu. Wir waren dauernd auf Patrouille, führten aber keine richtigen Razzien durch. Unser Lager wurde zwar jeden Tag mit Granatwerfern beschossen, aber das war’s dann auch. Normalerweise passierte nichts. Einmal hat einer versucht, einen Sprengsatz zu legen, dabei hat er sich aber selbst in die Luft gejagt. Die Explosion selbst habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen, aber das Ergebnis schon: Fleischfetzen und Knochensplitter klebten an der Mauer. Sah nicht gut aus. Aber wir, meine ganze Einheit, wir machten uns einen Spaß draus. Schließlich war der Typ ein Hadschi gewesen, ein Iraker. Wir feixten: Haha, guck mal, der Iraker, will’n Sprengsatz legen und jagt sich selbst in die Luft. Das war unsere Art, damit umzugehen.
Wir sagten immer: „Entweder du lachst drüber, oder du heulst drüber, oder du sagst gar nichts und wirst verrückt.“ Also haben wir gelacht. Wir waren ja große starke Männer, und Heulen kam nicht in Frage, da haben wir eben gelacht.
Sonst ist in Bi’aj wirklich nichts weiter passiert. Ach ja, ich hab’ ja gesagt, dass wir immer beschossen wurden, und einmal gab’s zwei Treffer in unserer Sicherheitszone. Einer davon traf mein Zelt, aber wir waren nicht drin. Wir waren draußen auf irgendeiner Mission, und als wir zurückkamen, war unser Zelt weg. Unsere Sachen natürlich auch, Computer und Fernseher und so. Aber es war niemand verletzt worden, weil außer den Wachleuten keiner im Lager gewesen war.
Manche Soldaten haben Hunde gequält. Einmal haben sie einen Hund wirklich übel zugerichtet: ihn geschlagen, ihm das Bein gebrochen, ihm mit der Schaufel den Schädel eingeschlagen, ihm den Bauch und die Kehle aufgeschlitzt. Die fanden das lustig. Einen Grund dafür gab’s eigentlich nicht. Sie konnten den Hund nicht leiden, weil er sich immer bei unserem Beobachtungsposten rumtrieb. Der Beobachtungsposten, das war eigentlich eine improvisierte Sache, wie überhaupt das ganze Lager. Das Lager bestand aus ein paar Zelten und einer Mauer drum herum, und der Beobachtungsposten war ein Lastwagen mit einem Unteroffizier drin, der Radio hörte, und einem einfachen Soldaten, der in der Gefechtsluke hockte.
Den Hund haben wir schon Wachpostenhund genannt, weil er immer da war. Mal lag er unter dem Lastwagen, mal schlich er um den Lastwagen rum und bettelte um Futter. Aus irgendeinem Grund ging das den andern auf die Nerven, und sie töteten den Hund. Und auch das fanden wir wieder lustig, auch ich - lach drüber, heul drüber, oder sag gar nichts und werd verrückt. Also lachten wir drüber.
Ungefähr eine Woche später haben wir gemerkt, dass der Hund eine Hündin gewesen war - es war nämlich ein Wurf Welpen zurückgeblieben. Da haben sie die Welpen gefangen und getötet und sie neben dem Beobachtungsposten begraben. Sie haben sogar ein hübsches Holzkreuz aufgestellt, auf dem stand: „Die Wachpostenwelpen“. Ha ha ha. Manchmal denke ich, die Leute in meiner Einheit waren einfach kaputt und krank. Aber vielleicht sind alle Soldaten im Krieg so.
Unser Kompaniechef in Bi’aj stellte dann die Regel auf, dass nur noch er Hunde jagen und erschießen durfte, sonst keiner. Einmal hätte er einen Typen aus meinem Zug fast mit einem Querschläger erledigt: Er hatte auf einen Hund geschossen, ihn aber verfehlt, und die Kugel prallte von der nächsten Mauer ab und hätte meinem Kameraden fast den Kopf weggepustet. Der Kommandeur wurde deswegen übrigens nie belangt; der Vorfall wurde nie gemeldet.
Aber wie gesagt, meistens war nichts los in Bi’aj. Wir waren als Unterstützer der Cavalry Scouts1 eingesetzt. Wenn die Cavalry Scouts Artillerie brauchten, haben wir sie bereitgestellt. Wenn sie Gewehre brauchten, haben wir sie ihnen besorgt. Wenn sie in irgendeiner Form Unterstützung brauchten, haben wir sie geleistet. Und wir sind mit ihnen Patrouille gefahren. Das war unsere Aufgabe.
Aber nach ein paar Monaten wurden wir von dort nach Ramadi verlegt. Und Ramadi war die Hölle auf Erden. Wirklich die Hölle auf Erden. Unsere Mission war dort eine andere: Nicht mehr Patrouillen, sondern Razzien. Zum Beispiel bekamen wir die Information: „Dieser Typ ist als Terrorist bekannt und hat das und das in seinem Haus“, und dann mussten wir da hin und das Zeug aus seinem Haus holen. Das war unser Job in Ramadi. Vielmehr: Das wäre unser Job gewesen. Aber mein Bataillonschef beschloss, dass dieser Job zu gefährlich für uns sei, und hat uns eine relativ sichere Aufgabe gegeben - Straßen räumen. Er wollte uns nicht verlieren. Also hat er uns dabehalten und die Cavalry Scouts allein losgeschickt. Und die sind natürlich voll eingefahren. Die haben echt aufs Maul gekriegt in Ramadi. Ich weiß gar nicht mehr, auf wie vielen Trauergottesdiensten ich war. Und danach hab’ ich mit den Jungs geredet, und die erzählten mir, was da abging: Ihr Kommandeur schickte sie auf „schwarze Routen“, das sind Straßen, auf denen mit 100%iger Sicherheit irgendwas passiert, ein Sprengsatz oder ein Überfall mit Kleinwaffen. Diese Straßen sind in den Plänen extra als „schwarze Routen“ gekennzeichnet, damit da bloß keiner lang fährt. Aber der Kommandeur hat den Scouts trotzdem befohlen, solche Strecken zu nehmen, wenn sie der kürzeste Weg zum Ziel waren. Hat natürlich nichts genützt - auf halber Strecke mussten sie wieder umkehren, die Fahrzeuge voll mit Toten und Verletzten.
Als ich das gehört hab’, dachte ich, Mensch, eigentlich wäre es unsere Aufgabe, die Scouts zu unterstützen. Wir sollten bei ihnen sein, wir könnten vielleicht irgendwie helfen, wir könnten wenigstens Artillerie organisieren, wenn sie angegriffen werden. Und bloß weil wir unserem Kommandeur zu wertvoll waren, blieben wir da und ließen sie alleine losziehen.
Aber das Straßenräumen war auch nicht ohne. Überall lagen Sprengsätze, ständig hat’s Leute erwischt, sechs oder sieben Mal am Tag. Auch mein Konvoi wurde ein paar Mal getroffen - zum Glück nicht der Lkw, in dem ich saß. Ein Kamerad von mir hat ein Auge verloren. Und einmal gab es einen hässlichen Zwischenfall. Wir mussten ein paar Bürohengste von Camp Ramadi nach Camp TQ begleiten. Ich glaube, sie waren auf Urlaub und sollten nach Hause geflogen werden. Wir waren schon am Eingang zu Camp TQ, da gab’s eine Explosion, und einer der Lkws wurde getroffen. Einer von den Leuten, die nach Hause fliegen sollten, wurde schwer am Kopf verletzt. Wir haben alles Nötige getan, Sicherheitsmaßnahmen getroffen, die Lkws so hingestellt, dass nichts passieren konnte, und versucht, den Rettungsdienst zu rufen. Das hat aber nicht geklappt, weil die anderen Bürohengste Helden spielen wollten, jeder wollte der Erste sein, der den Rettungsdienst ruft, und so haben sie unsere Radiofrequenz blockiert und es dauerte eine Ewigkeit, bis wir durchkamen. Das hat mich fertiggemacht, das waren so richtige Schreibstubenhocker, die keine Ahnung hatten, und jetzt wollten sie unbedingt was tun und machten alles nur noch schlimmer.
Der Verletzte starb, noch bevor der Rettungsdienst kam. Er starb, während ich seinen Kopf hielt und gemeinsam mit dem Sanitäter versuchte, ihn am Leben zu halten. Wahrscheinlich wäre er sowieso gestorben, auch wenn der Rettungsdienst gleich gekommen wäre, denn er war total von Schrapnellsplittern zerfetzt, die steckten überall in seinem Körper. Ein großer Metallsplitter hatte seinen Kiefer durchschlagen und war unten wieder rausgekommen und hatte ihm den Hals aufgerissen. Er ist in meinen Armen gestorben, es war nichts zu machen.
Wie ich damit umgegangen bin? Nun, es war wieder das alte Lied: Lach drüber, heul drüber, oder sag gar nichts und werd’ verrückt. Diesmal entschloss ich mich, nichts zu sagen. Und ziemlich lange hab’ ich nicht mal mehr daran gedacht. Ich habe mich nicht mehr daran erinnert, habe nicht davon geträumt und erst recht nicht darüber geredet. Ich hab’ mir gesagt: Das ist passiert, es ist vorbei, mach’ deine Arbeit weiter wie bisher. Und genau das hab’ ich gemacht. Ich hab’ diese Dinge einfach in mir runtergedrückt und, wenn man so will, die Flasche zugestöpselt. Aber der Druck in der Flasche wächst und wächst, und irgendwann haut’s den Korken raus.
Zwei Wochen später kam der nächste Hammer. Wir wollten gerade zu einer weiteren Mission aufbrechen, wir sollten mal wieder eine Straße räumen. Als wir gerade los wollten, hörten wir plötzlich Explosionen und Schüsse ganz in der Nähe unseres Lagers. Zuerst dachten wir, was geht’s uns an, ist nicht unser Problem, wir machen einfach weiter. Aber wir durften das Tor nicht passieren und mussten warten, bis das da draußen vorbei war. Und als die Schüsse und Explosionen aufgehört hatten, kam eine lange Schlange irakischer Polizeilaster auf unser Lager zugefahren. Das sind so offene Kleinlaster, und auf jeder Ladefläche türmten sich die Leichen. Ich rede nicht von einer Handvoll Toten, nein: Lastwagen hinter Lastwagen fuhr durch unser Tor, und jeder war voll beladen mit Leichen, die übereinander gestapelt waren. Lauter tote irakische Polizisten. Einer hing so über die Ladewand, er war ein großer dicker Mann gewesen, und jedes Mal, wenn der Laster über ein Schlagloch fuhr, sah man sein Fett wabbeln, und er wäre beinahe von der Ladewand gefallen. Ein grotesker Anblick. Und auch darüber haben wir gelacht. „Hast du die fette Sau auf dem letzten Laster gesehen? Zu blöd zum Kämpfen, diese Irakis, ha ha.“ Wir machten uns nichts draus. Waren ja bloß Iraker.
Wir haben später nie wieder davon gesprochen. Und ehrlich gesagt hatte ich diese Geschichte mit den Lastwagen komplett vergessen. Erst vor ein paar Monaten, als ich mit einem Unteroffizier meiner Einheit über unsere Zeit im Irak sprach, kam die Erinnerung zurück. Er erwähnte den Vorfall und ich konnte mich zuerst überhaupt nicht erinnern. Ich dachte, der verarscht mich, der erzählt mir erfundenes Zeug. Aber er blieb dabei und sagte: „Klar Mann, du warst dabei, du erinnerst dich bestimmt!“ Und erst, als er den dicken Mann auf dem letzten Lastwagen erwähnte, fiel mir alles wieder ein. Es war, wie wenn ein Damm bricht. Alles stürzte auf mich ein. Ich fühlte mich, als wäre ich wieder dort und sähe all diese Laster durchs Tor rollen. Und zugleich erinnerte ich mich auch wieder an den Soldaten, der in meinen Armen gestorben war. Und an alles, was in den folgenden drei oder vier Wochen geschehen war, das war nämlich ein richtig übler Monat für uns. Es verging kein Tag, an dem wir nicht bei Trauergottesdiensten waren.
In gewissem Sinne habe ich ja noch Glück gehabt. Ich war nie direkt in Kämpfe verwickelt, und ich lebe noch. Aber ich hab’ so viele Tote gesehen, so viele tote Kameraden. Und jeden Tag verfolgen mich die Erinnerungen. Ich kann nicht aufhören, an all das zu denken: An den Hund; an den Typen, der sich in die Luft gesprengt hat; an die Lastwagen voller Leichen; an den Soldaten, der in meinen Armen starb. An die Dummheit in der Befehlskette. Und es gibt noch mehr Dinge, die ich erlebt habe, über die ich aber nicht mal sprechen kann. Immerzu muss ich an all das denken und versuchen, damit fertig zu werden. Vom Militär ist nicht viel Hilfe zu erwarten - die bieten mir nur Tabletten an. Die wollen mich zudröhnen, damit ich alles vergesse und vor allem nicht mehr davon rede.
Ganz am Anfang, als wir aus dem Irak zurückkamen, wurden wir für drei Wochen zu so einem Reintegrationsding geschickt. Da kam mal ein Arzt und fragte: „Gibt es was, worüber ihr reden wollt, Jungs?“ Und 98% der Leute sagten: „Ach was, nö.“ Wir waren 15 Monate im Irak gewesen und hatten keine Lust, jetzt beim Seelenklempner zu hocken und alles noch mal durchzukauen, wir wollten feiern und einen draufmachen. Und genau das haben wir getan. Erst zwei Monate später kamen die Alpträume und Angstzustände. Plötzlich war ich ständig nervös und angespannt. Und das ist heute noch so, nach über einem Jahr. Jemand schlägt eine Autotür zu - ich flippe aus. Beim Autofahren starre ich immer noch angestrengt nach links und rechts, ich suche die Straßenränder ab, nach Stolperdrähten, Druckplatten, verdächtigen Gegenständen. Ich misstraue den Leuten, die mir auf der Straße begegnen, besonders, wenn sie die Hände in den Taschen haben. Wenn ich meine Wohnung verlasse, klopfe ich mechanisch meine Jacke ab, um zu fühlen, ob ich auch meine Waffe dabei hab. Inzwischen wird mir dann sofort klar, dass ich jetzt in Deutschland bin und nicht im Irak und deshalb keine Waffe brauche, aber am Anfang bin ich jedes Mal wieder zurück in die Wohnung, um meine Waffe zu holen. Manchmal hab’ ich fünf oder zehn Minuten danach gesucht, bis endlich der Groschen fiel.
Erst wollte ich niemanden um Hilfe bitten, das wäre mir peinlich gewesen vor den andern in meiner Einheit. Wir waren doch Männer wie aus dem John-Wayne-Handbuch: Stark, hart, von nichts zu beirren. Lauter so Macho-Quatsch. Weinen oder über Probleme reden, das gab’s nicht.
Statt also mit jemandem zu reden, hab’ ich angefangen, mir Verbrennungen zuzufügen, um zu spüren, dass ich ein Mensch bin. Ich verbrannte mir die Handflächen mit Streichhölzern, Feuerzeugen, Zigaretten, mit allem Möglichen. Nur wenn ich Schmerzen spürte, fühlte ich mich als Mensch. Sie gaben mir die Sicherheit, dass ich wirklich existiere.
Aber ich bin erwischt worden. Obwohl ich vorsichtig war und mir nur die Handflächen verbrannte, weil ich dachte, da sieht man die Brandblasen nicht so. Aber ich bin erwischt worden. Und was haben sie gesagt? Vielleicht: „Hey, willst du über irgendwas reden? Willst du mit einem Pfarrer sprechen? Oder einem Psychologen?“ Von wegen. Sie sagten: „Hey, Mann, was du da machst, ist Beschädigung von Regierungseigentum. Dafür kannst du richtig Ärger kriegen.“
Ich war so wütend. Schließlich hatte ich schon genug Probleme. Identitätsprobleme, sozusagen. Ich fühlte mich wie eine Maschine, die töten kann, ohne nachzudenken, die lacht, wenn sie Leichen sieht. Und jetzt sagt man mir noch, ich sei Regierungseigentum. Und dass ich dieses Regierungseigentum beschädige. Da hatte ich die Nase voll und bin abgehauen. Nach 29 Tagen habe ich mich gestellt, und zwar in Gießen, wo ich zuvor stationiert gewesen war. Ich hab’ gedacht, die werfen mich gleich raus aus der Armee. So einfach war das aber nicht, das Entlassungsverfahren ist recht langwierig und bürokratisch. Während also pfundweise Papier für meine Entlassung ausgefüllt wurde, wurde ich zu einer Psychologin geschickt, und die stellte mir ein Attest für die Entlassung aus. Dann wurde ich nach Dexheim verlegt und sollte eine Therapie bei einer anderen Psychologin machen. Das brachte aber gar nichts. Egal was ich erzählte, ich redete gegen eine Wand. Und am Schluss jeder Sitzung sagte sie: „Ich kann Sie zu Herrn Dr. Soundso überweisen, der verschreibt Ihnen Tabletten.“ Egal, worum es ging - Schlaflosigkeit, Wut, Aggression, Ängste -, ihre Lösung für alles hieß: Tabletten. Ich hab’ ihr gesagt, das will ich nicht, aber sie fragte mich nicht mal warum. Irgendwann hab’ ich ihr dann ganz offen gesagt: Ich will keine Pillen, weil ich schon mehrmals versucht hab’, mich umzubringen. Hab’ eine Menge Pillen geschluckt und ‘ne Flasche Wodka dazu getrunken. Das will ich nicht noch mal riskieren. Aber sie sagte bloß: Keine Sorge, das mit der Suizidneigung kriegen wir auch in den Griff. Ich war so sauer, am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und rausgegangen.
Ich bin trotzdem noch ein paar Mal hingegangen, weil ich gehofft hab’, dass irgendwann mal was durch ihren dicken Schädel dringt, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir nie zuhört und eigentlich bloß die Zeit absitzt. Deshalb hab’ ich mich schließlich an den Seelsorger gewandt. Dabei bin ich noch nicht mal religiös. Ich wollte nur einfach mit jemandem reden. Aber der Seelsorger kam mir mit der gleichen Leier: „Weißt du was, geh zu Dr. Soundso, der verschreibt dir Tabletten.“ Und ließ sich nicht davon abbringen.
Als Nächstes hab’ ich erfahren, dass ich nun doch nicht aus dem Militär entlassen werde. Ich hab’ gefragt: „Warum nicht?“ Und sie haben mir gesagt, 29 Tage eigenmächtiger Abwesenheit wären kein so schweres Vergehen, dass eine Entlassung nach Kapitel 142 gerechtfertigt wäre, und deshalb würden sie mich bloß degradieren und mir eine Disziplinarstrafe aufbrummen und mich dann nach Fort Campbell schicken. Na klasse, sagte ich, Fort Campbell geht in ein paar Monaten wieder in den Irak. „Tja“, war die Antwort, „Sie haben schließlich einen Vertrag unterschrieben. Und den müssen Sie erfüllen.“
Das habe ich aber nicht gemacht. Statt dessen bin ich wieder abgehauen, und diesmal bin ich über 40 Tage weggeblieben - lang genug, um als Deserteur zu gelten. Dann hab’ ich mich in Wiesbaden gestellt. Ich dachte, die stecken mich direkt ins Gefängnis, aber ich musste nur eine Nacht in der Zelle verbringen und am nächsten Morgen sagte man mir, dass ich jetzt tatsächlich entlassen würde und zwar so schnell wie möglich.
Ich hoffe, es läuft alles gut für mich. Ich finde, nach alledem hab’ ich ein bisschen Glück verdient.
Fußnoten
1 vergleichbar: Panzeraufklärer
2 unehrenhafte Entlassung wegen schwerer Vergehen
Courage to Resist: Interview mit Dave Cortelyou. 5. April 2008. Abschrift: Courage to Resist. Übersetzung und Bearbeitung: Heike Makowski. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juli 2009
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