Protestaktion in Sheikh Jarrah, Foto: Timo Vogt

Protestaktion in Sheikh Jarrah, Foto: Timo Vogt

"Wir stellen uns aktiv gegen die Besatzungs- und Unterdrückungspolitik in den besetzten Gebieten"

Israel: Verweigerungserklärung der AbiturientInnen 2009

von Shministim

(08.10.2009) Wir, die unterzeichnenden jungen Frauen und Männer, JüdInnen und AraberInnen aus allen Teilen des Landes, erklären hiermit, dass wir uns aktiv gegen die Besatzungs- und Unterdrückungspolitik der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten und im Kernland Israel stellen. Wir weigern uns deshalb, an Handlungen teilzunehmen, die im Zusammenhang mit dieser Politik stehen und die in unserem Namen von den israelischen Streitkräften begangen werden.

Wir alle setzen uns für die Gemeinschaft ein und wirken auf unterschiedliche Art und Weise in verschiedenen Bereichen der israelischen Gesellschaft mit. Wir glauben, dass Mitwirkung, Kooperation und freiwillige Arbeit eine Lebensweise sind und nicht nur auf zwei bis drei Jahre beschränkt sein sollten. Unsere Kriegsdienstverweigerung entspringt direkt unseren Erfahrungen als Freiwillige, den Werten, an die wir glauben, unserer Liebe zu der Gesellschaft, deren Teil wir sind und in der wir leben, unserem Respekt gegenüber jedem Menschen und dem Ziel, unser Land zu einem besseren Ort für alle seine EinwohnerInnen zu machen.

Die Besatzung schafft eine für die PalästinenserInnen unerträgliche Wirklichkeit. Die Politik der Checkpoints, Landenteignungen, der Bau der Apartheidmauer, die ausschließlich Israelis vorbehaltenen Straßen, die Siedlungsprojekte, die Morde – all dies hat über vier Jahrzehnte zur Zerstörung der West Bank beigetragen. Die Belagerung des Gazastreifens und die Blockade der Einfuhr von wichtigen Gütern, einschließlich Lebensmitteln und humanitärer Hilfe, lassen den BewohnerInnen Gazas nicht einmal das Nötigste zum Leben. Wir können das nicht tolerieren.

Die von den Sprechern der Regierung und der Armee vorgebrachte Behauptung, die Besatzung müsse aus Sicherheitsgründen bestehen bleiben, ist nicht stichhaltig. Kein Land, dass für seine Unabhängigkeit gekämpft hat, wurde jemals mit militärischen Mitteln besiegt. Das Leiden des palästinensischen Volkes und seine Unterwerfung sind die Ursachen des gewaltsamen Widerstands. Die israelische Öffentlichkeit wird niemals sicher sein, so lange sich die palästinensische Nation unter Besatzung befindet. Es gibt keine militärische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Nur Frieden kann Leben und Sicherheit der JüdInnen und AraberInnen in diesem Land garantieren.

Die israelische Regierung rühmt sich oft damit, dass Israel „das einzige demokratische Land im Nahen Osten“ sei. Die Besatzung steht dazu in vollkommenem Widerspruch. Kann eine Regierung, die das Leben von Millionen von Menschen kontrolliert, die nicht wählen können, „demokratisch“ genannt werden? Kann ein militärisches Regime über eine Zivilbevölkerung etwas anderes sein als eine Diktatur?

Die israelische Armee nimmt für sich in Anspruch, die “moralischste Armee der Welt” zu sein. Aber die Realität beweist, dass Besatzung und Moral nicht zusammenpassen. Wenn junge bewaffnete Männer inmitten von unter Besatzung lebenden, ihrer Bürgerrechte beraubten Menschen zu Polizeiaktionen geschickt werden, wenn die Regierung versucht, den Kampf dieser Menschen um Unabhängigkeit mit Gewalt zu unterdrücken – dann sind Kriegsverbrechen und Unrecht an der Zivilbevölkerung die natürliche Folge. Solche Aktionen sind keine „Ausnahme“, wer sie begeht, ist kein „schwarzes Schaf“. Die Besatzung selbst ist der Sumpf, in dem solche Aktionen gedeihen. Die Besatzung führt dazu, dass die israelische Armee immer wieder internationale Abkommen, Entscheidungen der Vereinten Nationen und Empfehlungen des Internationalen Gerichtshofes bricht – und sogar israelisches Recht.

Die Siedlungspolitik ist ihrem Wesen nach rassistisch. Im Namen einer messianischen Ideologie hat sie in der Westbank einen Zustand der Apartheid geschaffen. Ihrer Bürgerrechte beraubte PalästinenserInnen und privilegierte SiedlerInnen leben im völligen Kontrast Seite an Seite. Die SiedlerInnen nehmen an den Wahlen der Regierung teil, die ihre Angelegenheiten regelt, während die PalästinenserInnen unter einem Militärregime leben. Die SiedlerInnen genießen soziale Sicherheit und wirtschaftliche Vorteile, während die PalästinenserInnen ein Leben in Armut und Sklaverei führen. Die SiedlerInnen unterstehen israelischem Recht und zivilen Gerichtshöfen, während die PalästinenserInnen vor Militärgerichte gestellt werden, und zwar ohne das Grundrecht auf ein faires Verfahren. Jeder antirassistisch gesinnte Mensch empfindet diese Realität als widerwärtig und unhaltbar.

Einige nennen uns Verweigerer. Dabei ist es die israelische Regierung, die sich am konsequentesten verweigert: dem Frieden. Die israelische Armee ist keine „Verteidigungsarmee“, sondern eine aggressive Besatzungsarmee. Die israelische Regierung streckt nicht den Olivenzweig aus, sondern hält einen gewaltsamen Nationalismus aufrecht.

Die Besatzung ist ein ständiges Verbrechen gegen die israelische Gesellschaft. Die Beschäftigung von PalästinenserInnen auf dem israelischen Arbeitsmarkt unter Bedingungen der Sklaverei hebelt die Arbeitsbedingungen aller Arbeiter aus und verletzt deren Rechte. Statt im sozialen Bereich zu investieren, hat die israelische Regierung mehr als 40 Jahre lang Geld in den Bau von Villen und Umgehungsstraßen für die Siedlungen gesteckt, um die Realität zu ändern. Die verzerrten Normen und die Gewalt, denen junge Soldaten in den besetzten Gebieten frönen, sind durch die Grüne Linie gedrungen und finden ihren Ausdruck in zunehmender Gewalt und wachsendem Rassismus in der gesamten israelischen Gesellschaft.

Aus Verantwortung für und Sorge um die beiden Nationen, die in diesem Land leben, können wir nicht untätig bleiben. Wir sind in die Realität der Besatzung hineingeboren worden und viele aus unserer Generation sehen diesen Zustand als natürlich an. Es ist eine Tatsache der israelischen Gesellschaft, dass jeder junge Mann und jede junge Frau mit 18 Jahren Militärdienst ableisten muss. Aber wir können die Wahrheit nicht ignorieren – die Besatzung ist eine Extremsituation, voller Gewalt, Rassismus, Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit. Sie ist undemokratisch und unmoralisch und bedroht das Leben beider Nationen. Wir wurden mit den Werten der Freiheit, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und des Friedens erzogen und können die Besatzung nicht akzeptieren.

Unsere Weigerung, Besatzungssoldaten zu werden, entspringt unserer Loyalität zu unseren Werten und der uns umgebenden Gesellschaft. Sie ist Teil unseres beständigen Kampfes für Frieden und Gleichheit, ein Kampf, der von jüdischen und arabischen Menschen gemeinsam geführt wird, was allein schon beweist, dass Frieden und Koexistenz möglich sind. Dies ist unser Weg und wir sind bereit, den Preis dafür zu bezahlen.

Members of Senior’s Letter Group 2009 – 2010: Our Letter. www.shministim.com. Oktober 2009. Übersetzung: Rudi Friedrich und Heike Makowski. Die Erklärung wurde bis Ende Oktober 2009 von mehr als 400 Personen unterzeichnet (http://www.petition.fm/petitions/shministim/0/12/)

Stichworte:    ⇒ Israel   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Menschenrechte   ⇒ Militär