Israel/Palästina: "Die neue Friedensbewegung hat einen anderen Standpunkt"
Im August und September 2009 führte Keren Assaf auf Einladung von Connection e.V. und der Aktion „Ferien vom Krieg“ mehrere Veranstaltungen in Deutschland durch. Die 28-jährige israelische Kriegsdienstverweigerin ist Mitbegründerin der Initiative Breaking Barriers, die sich aus den Dialogseminaren der Aktion „Ferien vom Krieg“ entwickelt hat. Sie gab eine Einschätzung über die Entwicklungen in Israel und Palästina und schilderte ihre Arbeit, um auf Graswurzelebene Ansätze für eine gemeinsame Arbeit für einen Friedensprozess von unten zu entwickeln, zwischen PalästinenserInnen und Israelis. Am 9. September machte Keren Assaf Station in Frankfurt am Main. Wir dokumentieren ihren Redebeitrag. Die Überschriften sind eingefügt. (d. Red.)
Frieden: Ein israelischer Mythos
Nach dem Krieg 1967 und der Besetzung der palästinensischen Gebiete entstanden in Israel erstaunlich viele Friedenslieder. Auch die Herrschenden in Israel gaben eine ganze Reihe von Friedensdeklarationen heraus. Das verwundert umso mehr, als dies in keinster Weise die Realität widerspiegelte. Der Widerspruch ist verblüffend. Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft geht davon aus, dass Israel eine friedliche regionale Macht ist, die alles dazu tut, um in Frieden zu leben. Das findet sich seit 40 Jahren in den Zeitungen und in der Kultur Israels. Die Mehrheit glaubt daran und es ist schwierig, dies in Frage zu stellen.
Wie sieht die Realität gegenüber dem Anspruch aus? Den Gazakrieg im letzten Winter hatte die israelische Regierung mit einer Kampagne begleitet und ihn mit den Bombardierungen des Südens Israels aus dem Gazastreifen begründet. Sie bemühte sich sehr, ein positives Bild zu vermitteln. Nur wenige der wirklich brutalen Bilder sind an die Öffentlichkeit gelangt. Aber die Grausamkeiten wurden nicht, wie es die Regierung gerne darstellt, von einer kleinen Gruppe von Gesetzesbrechern verübt, sie wurden vielmehr von oben geplant und auch abgesichert.
Bis heute ist nicht abzusehen, wie groß der Schaden der Invasion in Gaza ist. Ja, es wurde Krieg genannt, aber es war in Wirklichkeit eine Invasion. 1.500 Menschen wurden getötet. Der materielle Schaden ist riesig. Die wenigen Bilder, die aus dem Gazastreifen kamen, haben die Welt geschockt. Aber war es wirklich überraschend, was dort geschah? War es wirklich überraschend, dass die israelische Armee dort einmarschierte? Für mich war es eine unvermeidliche Fortsetzung der israelischen Politik der letzten Jahre.
Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung glaubt nach wie vor, dass nach dem Abzug der israelischen Siedler aus dem Gazastreifen, den Ariel Sharon im Jahre 2005 angeordnet hatte, die israelische Kontrolle über das Gebiet beendet worden sei. Sie glaubten, dass dieser Krieg Israel aufgezwungen wurde, aufgrund der Bombardierungen des Südens von Israel aus dem Gazastreifen, die es allerdings schon acht Jahre lang gab, und weil die Hamas die Regierung im Gazastreifen übernommen hat. Tatsächlich erfolgte nach dem Rückzug eine hermetische Kontrolle der israelischen Regierung über den Gazastreifen, über die Bewegungsfreiheit, die Zufuhr an Lebensmitteln und lebenswichtigen Gütern. Es gab in den letzten Jahren eine vollständige Blockade, Belagerung und Abschottung der Bevölkerung im Gazastreifen.
Massiver Ausbau der Siedlungen
Während Ariel Sharon die Siedler vor vier Jahren aus dem Gazastreifen herausholen ließ, wurden 60% der neuen Siedlungen in der Westbank gebaut. Hundert sind erst in letzter Zeit gebaut worden. Es wurde immer mehr Land besetzt, sozusagen den Palästinensern weggenommen. Und die Mauer wird immer weiter gebaut. Sie hat nichts mehr mit der ursprünglichen Grünen Grenze zwischen Israel und der Westbank zu tun. Die Länge der Mauer ist doppelt so lang wie die Grenzlinie. Große Gebiete wurden herausgeschnitten und mit der Mauer abgesperrt.
Dabei wird versucht, eine ideologische Verbindung der Politik mit der Landfrage herzustellen, getragen von den Siedlerverbänden. Eine große öffentliche Kampagne von einer dieser Gruppen warb mit Plakaten und Anzeigen dafür. Auf einem Bild ist unter dem Titel Judäa und Samaria, biblische Namen für die Westbank, eine Reihe von Kindern zu sehen. Jedes Kind repräsentiert dabei einen bestimmen Platz innerhalb der Westbank und zugleich einem Teil der biblischen Geschichte. Die Organisation schreibt dazu: „Jede Nation hat ihre Geschichte und jede Geschichte hat einen Ort. Unsere Geschichte hat einen Ort, wir haben diesen Ort.“ Auf den ersten Blick scheint diese Aussage kein Problem darzustellen: Es gibt verschiedene Geschichten in unserem Land. Eine davon ist die israelische, und es gibt auch andere. Aber die Kampagne wird von einer Organisation getragen, deren Mitglieder die Gewehre und die Gewalt in den Händen haben. Damit wird die Aussage ad absurdum geführt, eine andere Realität, die palästinensisch-arabische, wird ausgegrenzt.
Bevölkerungspolitik
In Israel wird die Politik verfolgt, den Anteil der jüdischen Bevölkerung gegenüber der palästinensischen zu erhöhen. Dieses Prinzip wird als legitimes Mittel angesehen, um eigene Interessen durchzusetzen. Es wurde als Teil der zionistischen Besiedlungspolitik schon lange vor der Gründung des Staates Israel praktiziert. Legitimiert wird es mit der Argumentation, man müsse der Ausweitung der arabischen Gebiete zuvorkommen, weil sie eine Gefahr darstelle. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung glaubt, dass es für ihre eigene Sicherheit eine starke jüdische Mehrheit geben muss.
Umgesetzt wird dies in zwei Varianten. Zum einen werden neue Immigranten nach Israel geholt. Zum anderen werden innerhalb des Landes Ortschaften verschoben oder neu aufgebaut, um das entsprechende Ziel zu erreichen, vor allem im Süden und Norden Israels, wo es Gebiete mit gemischter jüdischer und palästinensischer Bevölkerung gibt.
Es gibt einen Plan für eine neue Straße, die Weinroute genannt wird. Sie soll durch die Wüste im Süden Israels verlaufen. Entlang der Straße liegen israelische Farmen, die in der Regel aus bis zu 20 Familien bestehen, die das Land bebauen. Das Land dazu wurde von der arabischen Beduinenbevölkerung konfisziert, was deswegen sehr einfach umzusetzen war, da 90% des Landes dem israelischen Staat gehört. So wird der Anteil der jüdischen Bevölkerung erhöht.
Inzwischen wird diese Politik auch auf gemischte Siedlungsgebiete angewandt, z.B. in der Stadt Acco. Man geht immer nach derselben Methode vor. Mitten in einem arabischen Stadtteil wird eine Jeschiwa aufgebaut, ein jüdisches religiöses Zentrum. Dann werden viele Hundert neue Siedler um dieses Zentrum herum angesiedelt, zumeist ehemalige Siedler aus dem Gazastreifen oder der Westbank. Viele der Siedler sind rechte, religiöse Fanatiker. Sie werden von der Regierung unterstützt und auch von den Verantwortlichen in den Städten.
Diese Politik ist verbunden mit der Diskriminierung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung in diesen Städten wie auch der Zerstörung ihrer Häuser.
Neue Friedensbewegung
Einer der Sätze, der am meisten im Gedächtnis der Oppositionellen haften geblieben ist, ist eine Aussage aus dem Jahre 2000 des damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak. Es hatte Gespräche mit Yassir Arafat in Camp David gegeben, die scheitertern. Danach erklärte Ehud Barak: „Wir haben keinen Partner. Es gibt niemanden auf der anderen Seite, mit dem wir reden können.“
Aufgrund dieser Einschätzung haben Tausende die israelische Friedensbewegung verlassen. Sie hatten das Gefühl, Israel habe alles versucht und den Palästinensern alles angeboten, aber die hätten abgelehnt. Sie waren tief enttäuscht und fragten, was denn die Palästinenser eigentlich noch wollten. Sie sagten: „Es ist doch offensichtlich, dass sie uns nicht hier haben wollen. Wir haben gar keine andere Möglichkeit, als selber anzugreifen.“ Diese Krise hat dafür gesorgt, dass von der israelischen Friedensbewegung nur noch wenige übrig geblieben sind, eine kleine Gruppe, die auch immer weniger Legitimation in der Öffentlichkeit hat.
Auf der anderen Seite hat sich durch die Krise der Charakter der linken Kräfte in Israel geändert. Vor der Krise war die Mehrheit liberal zionistisch orientiert. Eine der Grundlagen war für sie die Idee der Teilung der beiden Bevölkerungsgruppen. Deshalb unterstützten sie die Idee der Mauer. Ein aktuelles Zitat eine dieser Gruppen spiegelt das wider. Sie sagen auf ihrer Webseite: „Obama ist nicht derjenige, der irgendwann in einem gemischten Staat festsitzen wird.“ Hinter dieser Aussage steht die Angst, dass es in Israel tatsächlich einen gemeinsamen Staat geben könnte und die Forderung, man müsse die Trennung schnell vollziehen, weil wir sonst in einem gemeinsamen Staat mit den Palästinensern festsitzen werden.
Ich war selbst in einer dieser Gruppen aktiv, sieben, acht Jahre lang. In der gesamten Zeit habe ich nicht ein einziges Mal einen Palästinenser getroffen.
Die neue israelische Friedensbewegung hat einen anderen Standpunkt. Sie kritisiert die Machtverhältnisse im Staat und auch ihren eigenen Platz darin. Es geht ihr nicht darum, die Flagge der Sicherheit hochzuhalten, sondern die Bedeutung der Solidarität. Die Aktiven versuchen, Palästinenser kennenzulernen, die arabische Sprache zu lernen, Grenzen zu überschreiten, direkt in die palästinensischen Gebiete hineinzugehen, kurz: Barrieren zu überwinden. Dies kann in der Konsequenz bedeuten, den Militärdienst zu verweigern oder sich zu weigern, Dienst in den Besetzten Gebieten zu leisten. Es kann auch bedeuten, Informationen zu sammeln und sie über alternative Wege zu verbreiten.
Allerdings: Schon während des 2. Libanonkrieges 2006 war es schwierig, eine Opposition aufzubauen. Während des Gazakrieges war es schier unmöglich geworden. Sie müssen sehen, dass die Friedensbewegung Anfang diesen Jahres eine gemischte arabisch-jüdische Opposition war. In Israel wurde die israelischen Aktivisten als Verräter bezeichnet. Für die palästinensischen Aktivisten wurde sogar gefordert, dass man ihnen das Bürgerrecht entziehen solle, weil sie Feinde des Staates seien. Es wäre naiv zu glauben, dass diese öffentliche Meinung einfach aus dem Nichts heraus entstanden ist. Es ist ein zunehmender, staatlich getragener Rassismus.
Diskriminierung und Rassismus
In den letzten Jahren erleben wir eine wachsende antidemokratische Welle in Israel. Sie richtet sich sowohl gegen Palästinenser, wie gegen Kriegsdienstverweigerer, aber auch andere Gruppen in der Gesellschaft, wie die Gastarbeiter.
Während die Welt auf den Gazastreifen schaute, wurde die Gewalt der Soldaten und Siedler gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zu einer legitimierten Handlung. Über 90% der Anzeigen von palästinensischen Bürgern wegen Gewalttätigkeiten der israelischen Polizei werden erst gar nicht bearbeitet. Die Gewalttätigkeiten der Polizei nehmen zu, nicht nur gegenüber linken Demonstranten. Die Brutalität wird öffentlich akzeptiert.
Ich will zwei Beispiele geben. Das erste betrifft den Umgang mit den Palästinensern, die Bürger des israelischen Staates sind. Außenminister Avigdor Liberman brachte dazu kürzlich mit seiner Partei zwei Gesetzesentwürfe ein. Der erste Gesetzentwurf beschäftigt sich mit dem Nakba-Tag. Damit bezeichnen die Palästinenser den Tag der Gründung des israelischen Staates 1948, was sie bis heute als Katastrophe wahrnehmen. Der Gesetzentwurf besagt nun, dass jeder, der an diesen Tag als Katastrophe erinnert, mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden kann.
Der zweite Gesetzentwurf, das sogenannte Loyalitätsgesetz, sieht vor, dass jeder Bürger Israels gegenüber dem israelischen Staat als jüdischen Staat Loyalität schwören soll. Eine weitere Bedingung, um Bürger des Staates Israel zu sein, soll die Ableistung des Militärdienstes sein.
Auch wenn diese Gesetze nicht so oder noch nicht verabschiedet wurden - es zeigt, auf welcher Ebene sich die Diskussionen in Israel bewegen.
Das zweite Beispiel für die Argumentationsweise der Regierung betrifft die Frage der Kriegsdienstverweigerung. Seit dem Beginn der zweiten Intifada gibt es immer mehr Wehrpflichtige, die den Militärdienst in Frage stellen. Die Kriegsdienstverweigerungsbewegung ist keine Massenbewegung, aber sie wird ständig größer. Zugleich wächst aber auch der öffentliche Druck auf die Verweigerer. In den Medien werden sie angegriffen und diskriminiert. New Profile, eine antimilitaristische und feministische Organisation, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt, wurde dieses Jahr von der israelischen Regierung angeklagt. Es gab Verhaftungen, Beschlagnahmung von Material und auch Anklagen. Es gibt auch einen Aufruf, Intellektuelle und Schriftsteller zu boykottieren, die sich weigern, zur Armee zu gehen. All dies wird unterstützt von den Medien. Die Regierung nimmt offensichtlich wahr, dass es eine Verbindung gibt zwischen der wachsenden Zahl von Verweigerern und der politischen Situation.
Ziele der israelischen Regierung
Schon seit Jahren hören wir aus der israelischen Linken, aus der Opposition, dass die Regierung dumm sei und die Herrschenden nicht wüssten, was sie täten. Diese Einschätzung ist nicht nur falsch. Sie hindert uns vielmehr, uns darüber klar zu werden, gegen welche Kräfte wir kämpfen, mit welchen wir uns auseinandersetzen müssen.
Was ist das Ziel der Herrschenden in Israel? Premierminister Benjamin Netanjahu hat vor einigen Monaten erklärt, dass die Regierung Frieden mit der arabischen Welt haben möchte. Nach Aussagen von verschiedenen Personen aus der Regierung besteht die Grundlage für deren Vorschlag im Kern in drei Punkten:
1. Über das durch die Siedlungen beschlagnahmte Land soll nicht verhandelt werden. Es sei Zeitverschwendung darüber zu reden;
2. Die palästinensische Flüchtlingsfrage soll außerhalb der Grenzen von Israel gelöst werden;
3. Vorbedingung für jegliche Verhandlungen mit der palästinensischen Seite ist, dass diese Israel als jüdischen Staat anerkennt.
Die israelische Regierung will also nur noch über einen Frieden reden, bei dem die wichtigen Punkte nicht eingeschlossen sind. Dies würde keinerlei Verluste oder Einbußen für die israelische Seite beinhalten.
Perspektiven
Die entscheidende Frage stellt sich somit: Ist es möglich, zwei verschiedene Systeme gleichzeitig aufrechtzuerhalten, auf der einen Seite in einigen Teilen des Landes ein antidemokratisches Regime, das auch gar nicht den Anspruch erhebt, demokratisch zu sein, sondern sich stattdessen auf pure Militärgewalt stützt, auf der anderen Seite ein demokratisches Israel, das einzige demokratische Land im Nahen Osten, das von einigen der Herrschenden in Israel „Villa im Dschungel“ genannt wird? Meiner Auffassung nach ist das völlig unmöglich und es ist auch gefährlich anzunehmen, dass beide Systeme völlig unabhängig voneinander bestehen können. Was in einem Teil passiert, berührt auch den anderen.
Wir müssen jetzt handeln. Das bedeutet auch, dass die Gruppen der verschiedenen Seiten stärker zusammenarbeiten. Und diese Zusammenarbeit ist schon ein Akt des Widerstandes, weil die Regierung alles tut, um sie zu spalten, zu trennen und das Gefühl hervorzurufen, dass es keinen Zusammenhalt der verschiedenen Gruppen der Bewegung gibt.
Es gibt Beispiele dafür, wo dies umgesetzt werden konnte. So hatte sich in Jaffa eine Gruppe dagegen gewehrt, dass die Stadtregierung palästinensische Häuser zerstört. Dieser Kampf wurde geführt gemeinsam mit der Kommunistischen Partei und einer anderen Gruppe von jüdischen Menschen aus Tel Aviv, die einer ähnlichen Gefahr gegenüberstanden. Es waren Juden, die aus arabischen Ländern eingewandert waren, aus Marokko und dem Irak. Sie sind eigentlich rechte Wähler und haben bei der letzten Wahl sicher vor allem Benjamin Netanjahu gewählt. Sie sind arm und gelten in Israel als unterprivilegiert. Das Land, auf dem sie siedelten, war jedoch sehr wertvoll. Deshalb hatte die Stadtregierung versucht, sie zu vertreiben. So ergab sich diese Koalition mit den Palästinensern. Ich finde, es ist ein wunderbares Beispiel, das zeigt, wie Grenzen überwunden werden können.
Breaking Barriers
Ich will noch über das Projekt Breaking Barriers berichten. In den letzten Jahren haben wir Hunderte von Israelis und Palästinensern aus der Westbank und Israel zu zweiwöchigen Begegnungstreffen in Deutschland zusammengebracht. Bei diesen Seminaren beschäftigen wir uns direkt mit allen Problemen der Besatzung, weil wir der Meinung sind, das es schon Teil der Unterdrückung wäre, irgendein Thema auszulassen oder zu vermeiden.
Das System der Teilung funktioniert sehr effektiv, nicht nur auf der direkten körperlichen Ebene, sondern auch auf der psychologischen und geistigen Ebene. Es ist heutzutage sehr einfach, in Israel zu leben und niemals Palästinenser zu treffen, ihnen niemals zuzuhören oder gegenüberzustehen. Die Menschen bei diesen Seminaren zusammenzubringen, ist deshalb Teil des Widerstandes.
Wir sehen uns auf den Seminaren zwei verschiedenen Aufgaben gegenüber. Auf der einen Seite bauen wir etwas ab, wir dekonstruieren etwas. Auf der anderen Seite bauen wir etwas auf, um Empathie und gegenseitige Teilnahme aufzubauen. Wir leisten das, indem wir die Menschen ihre Geschichten erzählen lassen. Gleichzeitig versuchen wir, bestimmte Definitionen aufzubrechen: Was ist arabisch? Was ist israelisch? Was ist überhaupt Frieden - oder Terror? Darüber hinaus schauen wir uns auch die Machtverteilung innerhalb des Seminars an und versuchen, damit umzugehen. Wir glauben nicht, dass wir gleichberechtigt sind, nur weil wir in einem Raum sitzen und keiner von uns ein Gewehr hat oder eine Uniform trägt. Wir sind auch hier immer noch Unterdrücker und Unterdrückte.
Es ist eine schwierige Arbeit, weil es für Viele das erste Mal ist, dass sie tatsächlich mit jemandem von der anderen Seite der Mauer zusammensitzen. Schwierig ist es auch, weil jede und jeder auch eine bestimmte Rolle wahrnimmt und Teil der Rolle ist, die sie und er in Israel wahrnimmt.
Ich will ein Beispiel aus dem Seminar geben, das vor zweieinhalb Wochen zu Ende gegangen ist. Es passierte am zweiten Tag, als die TeilnehmerInnen noch nicht einmal die Namen der anderen kannten. Wir machten deshalb ein Aufwärmspiel, damit sie sich gegenseitig kennenlernen und Vertrauen aufbauen konnten, bevor sie sich mit den wirklich schwierigen Fragen beschäftigen würden. Wir bildeten gemischte Paare, ein Israeli, ein Palästinenser. Einem von beiden wurden die Augen verbunden. Der andere musste ihn nun lotsen ohne ihn zu berühren. Später wurden die Rollen getauscht. Das erfordert von beiden Seiten, sehr aufmerksam dem Partner gegenüber zu sein.
Als Leiterin einer dieser Gruppen sah ich ein Paar, das nur auf dem Rasen herumstand und gar nichts machte. Einer war ein Araber aus Ramallah. Der andere war ein Israeli, der Besatzungssoldat in Palästina und in den letzten Jahren auch als Reservist eingesetzt worden war. Ich fragte sie, was los ist. Der Israeli antwortete mir auf hebräisch, obwohl ihm klar war, dass der Palästinenser kein hebräisch versteht. Er sagte mir: „Ich kann das einfach nicht tun. Das ist genau das, was ich in den letzten Jahren gemacht habe. Es ist genau das, was ich in der Armee gemacht habe. Ich habe die Leute mitten in der Nacht aus ihren Häusern herausgeholt, ihre Augen verbunden, ihre Hände auf dem Rücken gefesselt und sie zu einem Lastwagen geleitet. Ich kann das nicht machen.“
Es hätte durchaus möglich sein können, dass dieser Israeli genau diesen Palästinenser früher mal verhaftet hatte. Denn wir versuchen, nicht Aktive aus der Friedensbewegung zu diesen Seminaren zu bekommen, sondern Soldaten, rechte Wähler, Menschen, die bisher nichts damit zu tun hatten. Der Kreis der Aktivisten ist in der Regel für viele aus der Bevölkerung verschlossen. Sie hätten gar keine Möglichkeit, daran teilzunehmen, gerade Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten. Wir versuchen, nicht nur Juden mitzubringen, die einen europäischen Hintergrund und damit einen hohen sozialen Status in Israel haben, sondern auch Juden, die einen geringeren Status haben und in der Regel wirtschaftlich schlechter dastehen, Juden mit arabischem oder äthiopischem Hintergrund.
Der Palästinenser konnte zwar kein hebräisch, aber er verstand doch, worum es ging. Ich sagte dem Israeli: „Sag es bitte noch einmal auf englisch. Dein Partner steht neben Dir, sag es ihm auf englisch.“ Das tat er. Es fiel ihm sehr schwer, weil er sich schämte. Aber er erzählte es. Und daraufhin sagte der Palästinenser: „Ich kenne das. Das ist mir in den letzten Jahren fünf Mal passiert.“
Genau diese Situation führte schließlich dazu, dass wir das offen in der Gruppe diskutieren konnten. Es schuf gegenseitiges Verständnis und Offenheit.
Weil die israelischen TeilnehmerInnen nicht aus der linken Friedensbewegung kommen und es für die meisten das erste Mal ist, dass sie so etwas erleben, spitzen sich Situationen dort oft zu einer persönlichen Krise zu. Zum einen ist es ihnen unheimlich und beängstigend, Privilegien und Machtpositionen aufzugeben. Zum anderen haben einige das Gefühl, wenn sie auch nur etwas Mitgefühl mit den Arabern empfinden, dann geben sie damit zugleich ihr Existenzrecht für Israel auf.
Wir glauben, dass auch Israelis das Recht haben, ihre Geschichten, ihre Ängste und Leiden zu erzählen. Auch Unterdrücker können leiden. Und die ganze Angelegenheit wird dadurch noch komplizierter, weil es Juden gibt, die auch in einer bestimmten Form unterdrückt wurden oder werden. Wir sehen unsere Aufgabe darin, diesen Menschen zu helfen, ihre Rolle als Unterdrücker zu reflektieren. Deshalb führen wir eigene Einheiten für Israelis auf den Seminaren durch, wie es sie auch für die Palästinenser gibt.
Wir als Organisatoren können nicht wirklich objektiv sein. Wir sind Teil des Prozesses. Ich bin Jüdin und damit auch Teil des Problems. Ich bin mir klar, dass ich Teil dieser schwierigen Situation und eben auch rassistisch bin. Wir können nicht sagen, es gibt gute und schlechte Israelis, die einen in der Friedensbewegung, die anderen als Soldaten an den Checkpoints. Wir können das nicht sagen, weil wir alle in der selben Gesellschaft aufgewachsen und mit den selben rassistischen Prinzipien groß geworden sind. Wir sind alle dazu gezwungen, in der Rolle des Besatzers oder Unterdrückers zu agieren.
Mit diesem Standpunkt ist es möglich, mit den anderen auf der Ebene der Empathie zusammenzuarbeiten, auch wenn wir nicht glauben, dass wir alle gleichberechtigt sind.
Die Seminare sind vielleicht noch nicht die Revolution. Aber sie geben den Teilnehmern beider Seiten die Möglichkeit, für die anderen das erste Mal Solidarität zu empfinden. Es ist eine Möglichkeit für sie, ihre Rolle zu erkennen und Hoffnung und einen Weg dafür zu finden, was sie selber tun können.
Keren Assaf: Redebeitrag auf einer Veranstaltung am 9. September 2009 in Frankfurt/Main. Übersetzung: Brigitte Klaß. Abschrift und Bearbeitung: Rudi Friedrich. Träger der Veranstaltungsreihe waren Connection e.V. und das Komitee für Grundrechte und Demokratie (Aktion „Ferien vom Krieg“). Wir danken für die finanzielle Förderung durch den Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) und das DFG-VK Bildungswerk Hessen. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2009
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