Demonstration in Frankfurt am Main

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Äthiopien/Eritrea: Bericht über Menschenrechtsverletzungen im Krieg in Tigray

von EHRC und OHCHR

(03.11.2021) Bericht über die gemeinsame Untersuchung zu Verletzungen der Internationalen Menschenrechte, humanitärer und Flüchtlingsrechte durch alle am Konflikt in der Region Tigray der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien beteiligten Parteien.

Zusammenfassung

Einführung

Vom 16. Mai bis zum 30. August 2021 führten die Äthiopische Menschenrechtskommission (EHRC) und das Amt des UN-Hochkommisars für Menschenrechte (OHCHR) eine gemeinsame Untersuchung der mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen und -missbräuche sowie der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und das Flüchtlingsrecht durch, die im Zusammenhang mit dem Konflikt in Tigray, Demokratische Bundesrepublik Äthiopien, begangen wurden. Ziel der gemeinsamen Untersuchung war es, eine wahrheitsgetreue Darstellung der Menschenrechtssituation in Tigray, einschließlich der geschlechtsspezifischen Dimension, zu liefern; weiter Verfahren zur Verantwortlichkeit einzuleiten und für wirksame Rechtsmittel einzutreten, klare und umsetzbare Empfehlungen zu geben und schwerwiegende Verstöße zu ermitteln, um Wiedergutmachung für die Opfer zu gewährleisten und Wiederholungen zu verhindern.

Die Untersuchung wurde im Rahmen der einschlägigen internationalen Rechtsnormen, einschließlich der internationalen Menschenrechtsnormen, des humanitären Rechts, des Flüchtlingsrechts und des Strafrechts, sowie des äthiopischen innerstaatlichen Rechts durchgeführt. Vor Beginn der Ermittlungen einigte sich die Gemeinsame Ermittlungsgruppe (JIT) auf ihre Arbeitsmethoden, um die Ermittlungen zu leiten, und wandte bewährte Praktiken in Bezug auf den Opfer- und Zeugenschutz, die Verfahrensregeln, internationale Ermittlungsstandards, die Erstellung von Berichten und die Archivierung an. Im Einklang mit der Praxis internationaler Untersuchungsgremien legte die JIT bei der Feststellung von Tatsachen in Einzelfällen, Vorfällen und Verletzungsmustern einen Beweisstandard fest, der "hinreichende Gründe für die Annahme" liefert. Die JIT untersuchte mutmaßliche Verstöße aller Konfliktparteien vom 3. November 2020 bis zu dem von der äthiopischen Bundesregierung am 28. Juni 2021 erklärten einseitigen Waffenstillstand. Die Untersuchungen vor Ort wurden vom 16. Mai bis zum 31. August 2021 an verschiedenen Orten in Tigray durchgeführt, darunter Mekelle, Wukro, Samre und umliegende Gebiete, Alamata, Bora, Maichew, Dansha, Maikadra und Humera.

Die JIT besuchte Lager für Binnenflüchtlinge in Mekelle, Gondar, Dabat und Dansha und befragte Binnenflüchtlinge aus verschiedenen Teilen von Tigray wie Adi Aro, Adi Hageray, Adigrat, Adwa, Badme, Dengolat, Humera, Korem, Maikadra, Mekelle, Quiha, Shimelba, Shire, Sheraro, Tembien und Zalambesa. Die JIT führte auch Ermittlungen in Addis Abeba und anderen betroffenen Orten wie Gondar und Bahir Dar durch. Die JIT führte 269 vertrauliche Gespräche mit Opfern und Zeugen mutmaßlicher Verstöße und Misshandlungen und hielt 64 Treffen mit Bundes- und Regionalbehörden, Vertretern von UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, Gemeindegruppen, medizinischem Personal und anderen Quellen ab.

Der Bericht erhebt nicht den Anspruch, eine erschöpfende Aufzeichnung aller relevanten Vorfälle in diesem Zeitraum zu sein, aber er veranschaulicht in angemessener Weise die wichtigsten Arten und allgemeinen Muster von Verstößen und Missbräuchen im betreffenden Zeitraum. Die Darstellung in einigen der thematischen Zusammenfassungen folgt einem chronologischen Muster in Bezug auf das Auftreten von Vorfällen und impliziert keine Rangfolge der mutmaßlichen Täter.

Erkenntnisse

Am 3. November 2020 griffen die Tigray Special Forces (TSF) und verbündete Milizen das Nordkommando der Ethiopian National Defence Forces (ENDF) an und übernahmen die Kontrolle über die Stützpunkte und die Waffenbestände. Am 4. November 2020 kündigte die [äthiopische] Bundesregierung eine Militäroperation gegen die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und ihre Kräfte an. Die ENDF, die Amhara Special Forces (ASF) und verbündete Milizen sowie die Eritreischen Verteidigungskräfte (EDF) begannen daraufhin eine Militäroffensive gegen die TSF und verbündete Milizen in Tigray. Der gewaltsame Konflikt führte zu schwerwiegenden Verstößen gegen die internationalen Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Flüchtlingsrecht. Auf der Grundlage der von der JIT gesammelten und analysierten Informationen gibt es hinreichende Gründe für die Annahme, dass es im Rahmen des Konflikts zu den folgenden schwerwiegenden Verstößen und Missbräuchen kam:

Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Objekte: Die ENDF, EDF und TSF führten Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch, bei denen Männer, Frauen, Jungen und Mädchen getötet und verletzt wurden. Zivile Objekte, die nach dem humanitären Völkerrecht besonderen Schutz genießen, wurden wahllos angegriffen, wie Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Gebetsstätten und Häuser. Die Konfliktparteien haben es versäumt, ausreichende Vorkehrungen zum Schutz von Zivilpersonen und zivilen Objekten zu treffen. ENDF und TSF besetzten und nutzten zivile Infrastrukturen wie Schulen und Gesundheitseinrichtungen, ohne dass eine angemessene Rechtfertigung für die militärische Nutzung vorlag. 29 Zivilpersonen wurden am 28. November 2020 in Mekelle durch den Beschuss der ENDF getötet; 15 Zivilpersonen wurden zwischen dem 9. und 11. November 2020 in Humera durch Artilleriegranaten der EDF und der TSF getötet; zwischen dem 25. und 27. November 2020 starb in Wukro eine unbekannte Zahl von Zivilpersonen durch den Artilleriebeschuss der ENDF und TSF, mehrere private und öffentliche Gebäude wurden beschädigt; eine von der TSF abgefeuerte Rakete zerstörte das 140 km vom Flughafen Gondar entfernt liegende Haus eines Bauern in der Amhara-Region und verletzte eine neunköpfige Familie; beim Beschuss durch die ENDF in Amedwha, Waereb und Dejen wurden zwei Zivilpersonen getötet und eine nicht näher bekannte Zahl von Personen verletzt; 17 Zivilpersonen wurden getötet und drei verletzt, nachdem die TSF zwei Bauernhöfe am Stadtrand von Maikadra aus ethnischen Gründen angegriffen hatte; das Gesundheitszentrum in Dansha wurde am 3. November 2020 von der TSF für einen Angriff auf die 5. Motorisierte Schützendivision der ENDF genutzt, was zur Folge hatte, dass es sichtbare Schäden am Gesundheitszentrum gab; die ENDF benutzte zwischen dem 1. und 31. Dezember 2020 eine Schule in Samre als Militärlager, was zu Schäden an der Schule führte, und zwischen dem 3. Dezember 2020 und dem 13. April 2021 die Atsey-Yohannes-Schule in Mekelle, was Plünderungen und Zerstörung des Eigentums der Schule zur Folge hatte.

Rechtswidrige Tötungen und außergerichtliche Hinrichtungen: ENDF, EDF, Fano (eine mit der Amhara-Miliz verbundene Gruppe), TSF und eine mit ihnen verbundene Miliz, die Samri (lokale tigrayische Jugendgruppe), haben rechtswidrige Tötungen und außergerichtliche Hinrichtungen begangen, die Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sowie Verstöße gegen die Verfassung und die Gesetze Äthiopiens darstellen. Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten beteiligt waren, wurden von den Konfliktparteien vorsätzlich getötet. Darunter fällt die ethnisch motivierte Tötung von mehr als zweihundert Amharas am 9. November 2020 in Maikadra, zumeist von Männern, durch die Samri in Begleitung tigrayischer Polizei und Milizen sowie die als Vergeltung erfolgte Tötung von mindestens fünf Tigrayern durch die Fano; die Tötung von mehr als 100 Menschen in Axum am 28. November 2020 durch die EDF; die Tötung von mindestens 70 Männern in Bora, Amedwha, Bora Chemala und Mai Liham am 8. und 9. Januar 2021durch die ENDF; die Tötung von Zivilpersonen durch die ENDF bei der Durchsetzung der Ausgangssperre, darunter zwei Zivilpersonen am 19. Januar 2021 in Mekelle; und die durch die TSF erfolgte Tötung von Zivilpersonen, die am 4. November 2020 in der St. Giorgis-Kirche in Adi Hageray Zuflucht gesucht hatten. In den meisten Fällen, insbesondere in Maikadra und Bora, waren junge Männer das Ziel.

Folter und andere Formen der Misshandlung: ENDF, EDF, TSF und verbündete Milizen sowie die tigrayische Polizei haben an verschiedenen Orten in Tigray Folterungen und Misshandlungen an Zivilpersonen und gefangenen Kämpfern begangen, unter anderem in Militärlagern, Haftanstalten, in den Häusern der Opfer sowie an geheimen und unbekannten Orten. Vom 9. bis 10. November 2020 verhafteten und inhaftierten tigrayische Milizen und bewaffnete Zivilisten in Humera hauptsächlich ethnische Amharas, die sie als "Amhara-Esel" beschimpften, sie in unbequemer Haltung sitzen ließen, mit Plastikrohren schlugen, traten und ihnen mehrere Tage lang Nahrung und Wasser verweigerten. Im März 2021 wurden die Opfer in Samre und Berezba von der EDF gefoltert und anderweitig misshandelt, und im Dezember 2020 kam es in Bora zu Folterungen und Misshandlungen durch die ENDF. Am 2. April 2021 wurden in Samre mindestens 600 Männer erniedrigend behandelt, als sie von der EDF gezwungen wurden, sich für eine öffentliche Leibesvisitation zu entkleiden; gefangene ENDF-Soldaten in Sheraro, Adi Hageray und Shire wurden zwischen dem 3. und 4. November 2020 von Tigray-Kräften gefoltert und misshandelt, ebenso wie die Leichen verstorbener ENDF-Soldaten; mehrere ENDF-Lager in Tigray wurden genutzt, um gefangene Tigray-Kräfte oder Zivilisten zu foltern, die verdächtigt wurden, die Tigray-Kräfte zu unterstützen, darunter in Adi Gudem, in Awash-Militärlager, Adigrat und in der Polizeistation Kedamay Weyane in Mekelle.

Willkürliche Verhaftungen, Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen: ENDF, TSF und verbündete Gruppen, Amhara-Milizen, Fano und ,EDF waren an willkürlichen Verhaftungen, Entführungen und gewaltsamem Verschwindenlassen beteiligt. Die ENDF hielt Personen an geheimen Orten und in Militärlagern fest, darunter im Northern Command in Mekelle, im Awash Camp und im Martyrs Memorial Monument Centre. In Tigray und anderen Teilen Äthiopiens wurden Personen von der ENDF und der Bundespolizei wegen angeblicher Zugehörigkeit zur TPLF verhaftet und über lange Zeiträume ohne formelle Anklage oder Gerichtsverfahren in Isolationshaft gehalten. In West-Tigray nahmen die Tigray-Kräfte zu Beginn des Konflikts ab dem 9. November 2020 Zivilpersonen vor allem amharischer Herkunft wegen angeblicher Unterstützung der Bundesregierung fest und brachten sie nach Shire, Axum und Mekelle. Viele wurden freigelassen oder konnten entkommen, einige wurden getötet, andere verschwanden. In Maikadra hielten Amhara-Milizen und Fano mehr als einen Monat lang tigrayische Zivilpersonen, darunter auch Frauen und Kinder, in großer Zahl in Haft. In Adashi, Berezba, entführten EDF-Soldaten sechs Personen, töteten zwei und ließen die anderen später wieder frei.

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt: Alle Konfliktparteien haben verschiedene Akte sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt (SGBV) begangen, darunter körperliche Gewalt und Übergriffe, versuchte Vergewaltigung, Vergewaltigung einschließlich Gruppenvergewaltigung, orale und anale Vergewaltigung, Einführen von Fremdkörpern in die Vagina und absichtliche Übertragung von HIV. Frauen, Mädchen, Männer und Jungen wurden Opfer von SGBV, auch von Gruppenvergewaltigungen. Frauen und Mädchen wurden ungewollt schwanger, und einige wurden mit sexuell übertragbaren Krankheiten, einschließlich HIV, infiziert. Die ENDF, EDF und TSF haben sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, darunter Gruppenvergewaltigungen, begangen. In vielen Fällen wurden Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt dazu benutzt, die Opfer zu erniedrigen und zu entmenschlichen. Frauen und Mädchen, deren männliche Familienmitglieder tigrayische Kämpfer waren, wurden von der EDF ins Visier genommen. Ehefrauen von ENDF-Soldaten wurden von den tigrayischen Streitkräften in ähnlicher Weise Opfer von SGBV. Frauen und Mädchen waren auch SGBV ausgesetzt, wenn sie vor dem Konflikt flohen, und in einigen Fällen, wenn sie Wasser aus dem Fluss holten, weil es kein fließendes Wasser mehr gab. Frauen und Mädchen wurden entführt, festgehalten und vergewaltigt. In einem Fall wurde eine 19-jährige Überlebende entführt, festgehalten und drei Monate lang wiederholt vergewaltigt. Auch die Vergewaltigung einer Frau mit einer Behinderung wurde dokumentiert. Die sexuelle Gewalt hat die körperliche und psychische Unversehrtheit der Überlebenden zutiefst verletzt und schwere gesundheitliche Komplikationen verursacht, insbesondere die Gruppenvergewaltigungen, die sich durch ihre Brutalität auszeichneten. Die JIT erhielt auch Berichte, wonach die ASF in sexuelle Gewaltakte verwickelt war.

Flüchtlinge: Zwischen November 2020 und Januar 2021 verletzten die TSF und EDF den zivilen Charakter der Flüchtlingslager in Tigray durch ihre Präsenz im Flüchtlingslager Shimelba, in dem eritreische Flüchtlinge untergebracht sind. TSF und EDF kämpften um das Lager und gefährdeten die Sicherheit und das Leben der Flüchtlinge, was zur Zerstörung des Lagers, zur Vertreibung Tausender Flüchtlinge und zum Verschwinden Hunderter führte. Die EDF verstieß gegen das Grundprinzip der Nichtzurückweisung (Non-Refoulment), indem sie einige eritreische Flüchtlinge gewaltsam nach Eritrea zurückbrachte. Streitkräfte der Tigray und Zivilpersonen plünderten das Privateigentum von Flüchtlingen und das Eigentum humanitärer Organisationen. Zahlreiche Flüchtlinge haben ihre Existenzgrundlage verloren und leben in Angst vor der EDF und vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen der Gesellschaft, von der sie aufgenommen wurden.

Zwangsweise Vertreibung der Zivilbevölkerung: Hunderttausende Zivilpersonen flohen in unterschiedlichen Abständen aus ihren Häusern in Tigray. In West-Tigray war vor allem die tigrayische Bevölkerung stark von Zwangsvertreibung betroffen. Auf die gewaltsame Vertreibung ethnischer Amharas aus ihren Häusern durch die Jugendgruppe Samri mit Unterstützung der lokalen Verwaltung in Maikadra im November 2020 folgten weit verbreitete gewaltsame Vergeltungsmaßnahmen gegen ethnische Tigrayer vor allem in West-Tigray durch ASF, Amhara-Milizen und Fano. Die gewaltsamen Vertreibungen wurden in großem Umfang und ohne rechtliche Grundlage durchgeführt. Die von verschiedenen Gruppen verursachten Vertreibungen haben auch die bestehenden Spannungen zwischen Tigrayern und Amharas in Gebieten verschärft, in denen sie einst zusammen lebten. Das könnte sich als Herausforderung bei Bemühungen um eine sichere Rückkehr der Binnenflüchtlinge an ihre früheren Wohnorte erweisen.

Binnenflüchtlinge (IDPs): Binnenflüchtlinge wurden nicht ausreichend mit Lebensmitteln, Nahrung, Wasser, medizinischer Fürsorge, sanitären Einrichtungen und Hygiene versorgt. In Mekelle stellte die örtliche Gemeinschaft 70% der Nahrungsmittel für die Binnenflüchtlinge bereit, da der Staat und andere Akteure keine ausreichenden Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. Insbesondere in Gondar, Dabat und Dansha herrschte ein gravierender Mangel an Nahrungsmitteln, der in einem Lager in Gondar zum Tod einer stillenden Mutter und dreier Kinder aufgrund von Unterernährung und mangelnder medizinischer Versorgung führte. Binnenflüchtlinge in Mekelle haben weiter Angst, aufgrund plötzlicher, im Mai 2021 in Shire durchgeführter Razzien und Verhaftungen durch die ENDF. Die Binnenflüchtlinge in Mekelle, Gondar und Dabat verfügten auch nicht über ordnungsgemäße persönliche Ausweispapiere, die es ihnen erlauben würden, sich frei zu bewegen oder Arbeit zu finden.

Beschränkungen der Freizügigkeit: Die zahlreichen Straßensperren und Kontrollpunkte sowie die exzessiven Maßnahmen von ENDF und EDF zur Durchsetzung der Ausgangssperre, die in einigen Fällen den Tod von Zivilpersonen zur Folge hatten und den Verkehr von Menschen und lebenswichtigen Gütern behinderten, werfen ernste Fragen hinsichtlich ihrer Rechtfertigung und Verhältnismäßigkeit auf. Die Weigerung der Regierungsbehörden, den Binnenflüchtlingen Ausweise auszustellen, und die Weigerung der Sicherheits- und Einwanderungsbeamten am internationalen Flughafen von Addis Abeba, einigen Tigrayern die Ausreise zu gestatten, sowie in einigen Fällen die Beschlagnahmung ihrer Reisedokumente ohne jegliche Erklärung, Rechtfertigung sowie ein ordnungsgemäßes Verfahren scheinen ebenfalls durch Diskriminierung motiviert und sind unverhältnismäßig und ungerechtfertigt.

Meinungsfreiheit und Zugang zu Informationen: Die Zivilbevölkerung war nicht in der Lage, Informationen zu suchen, zu empfangen und weiterzugeben, da die Telefon- und Internetverbindungen in Tigray nach Ausbruch des Konflikts unterbrochen waren. Die Einstellung der Kommunikationsmöglichkeiten mag bis zum Auslaufen des Ausnahmezustands gerechtfertigt gewesen sein, aber die weiter fortgeführte Einstellung der Kommunikation stellt eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und auf Zugang zu Informationen dar. Die Ermordung des Journalisten Dawit Kebede durch die ENDF am 19. Januar 2021 in Mekelle stellt eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung dar und kommt einer rechtswidrigen Tötung gleich.

Plünderung, Brandschatzung und Zerstörung von Eigentum: Es kam zu umfangreichen Zerstörungen und Beschlagnahmung von Eigentum durch verschiedene Akteure, darunter Streitkräfte, Milizen und Zivilpersonen. ENDF plünderte und zerstörte zweimal Eigentum in der Atsey Yohannes-Schule in Mekelle, während sie die Schule als Militärlager nutzte, und nahm drei Autos vom Gelände des Obersten Gerichtshofs in Mekelle mit. Die EDF plünderte öffentliches und privates Eigentum, darunter auch Gegenstände, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unerlässlich sind, so in Süd-Tigray in Keih Emba, Samre, Adi Gibai, Adi Awsa, Bora und Wukro in Ost-Tigray. Tigray-Kräfte plünderten und zerstörten privates und öffentliches Eigentum und Infrastruktur in West-Tigray und Teilen von Nord-West-Tigray. Amhara-Milizen und Fano waren in die Plünderung und Aneignung von Häusern und Geschäften in Teilen von West-Tigray wie Humera und Maikadra verwickelt.

Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe: Hindernisse oder Verzögerungen bei der humanitären Hilfe wurden dem aktiven Konflikt, dem Fehlen funktionsfähiger lokaler Verwaltungsstellen für die Koordinierung und mangelndre Zusammenarbeit von ENDF und EDF an den Kontrollpunkten einschließlich der Beschlagnahmung von Medikamenten zugeschrieben. Die Streitkräfte von Tigray wurden auch für die Errichtung von Straßenblockaden verantwortlich gemacht, die die Auslieferung humanitärer Hilfe verzögerten. Der Konflikt wirkte sich auch unmittelbar auf die Arbeit der humanitären Organisationen aus, da mehr als 20 Mitarbeiter*innen humanitärer Organisationen ermordet wurden. Die JIT konnte zwar nicht bestätigen, dass der Zivilbevölkerung in Tigray absichtlich oder vorsätzlich humanitäre Hilfe verweigert wurde oder dass der Hunger als Kriegswaffe eingesetzt wurde, doch sieht die JIT, dass weitere Untersuchungen zu den mutmaßlichen Verstößen im Zusammenhang mit der Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe und der Ermordung von Mitarbeiter*innen humanitärer Organisationen erforderlich sind.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: Die Wahrnehmung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, einschließlich des Rechts auf Gesundheit, angemessene Ernährung, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie des Zugangs zu grundlegenden Dienstleistungen wie Strom und Bankdienstleistungen, wurde als direkte Folge der Handlungen der Konfliktparteien oder indirekt aufgrund des Versäumnisses, Maßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen des Konflikts auf zivile Dienstleistungen und Objekte zu ergreifen, ernsthaft beeinträchtigt. Die Plünderung und Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen in allen Teilen von Tigray durch die Konfliktparteien hatte direkte Auswirkungen auf das Recht der Zivilbevölkerung auf Gesundheit. Der Krieg führte zu Schäden an der Wasser-, Telekommunikations-, Strom- und Bankinfrastruktur.

Kinder: Kinder waren als Folge des Konflikts Opfer von SGBV, körperlichen Verletzungen und in einigen Fällen auch Tötungen. Kinder waren traumatischen Erfahrungen ausgesetzt, wie z.B. der Tötung oder Vergewaltigung von engen Familienmitgliedern durch Soldaten der Konfliktparteien, einschließlich der ENDF, EDF und TSF. Die Vertreibung und Tötung ihrer Bezugspersonen machte die Kinder zu Waisen und anfällig für weitere Misshandlungen und Verletzungen. Tausende von Kindern wurden infolge des Konflikts von ihren Familien getrennt. Kinder in Tigray und Kinder, die aus Tigray in die Amhara-Region vertrieben wurden, haben keine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, Unterkünften, Schutz und anderer lebensrettender Hilfe. Der fehlende Zugang zu Bildungs- und Gesundheitsdiensten hat die Kinder ihrer Grundrechte beraubt.

Ältere Menschen und Personen mit Behinderungen: Die Konfliktparteien haben es versäumt, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen im Einklang mit ihren Menschenrechtsverpflichtungen besonderen Schutz zu gewähren. Es kam zu direkten Angriffen auf ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen, darunter körperliche Angriffe, Hinrichtungen im Schnellverfahren und die Vergewaltigung einer Frau mit einer Behinderung. Ältere Menschen äußerten das Gefühl, aufgrund des Konflikts im Stich gelassen zu werden.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Die JIT hat schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Flüchtlingsrecht festgestellt, die von ENDF, EDF, TSF und verbündeten Milizen, ASF und verbündeten Milizen sowie anderen mit verschiedenen Konfliktparteien verbundenen Kräften begangen wurden. Die JIT hat begründeten Anlass zu der Annahme, dass eine Reihe dieser Verstöße Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen darstellen, die weitere Untersuchungen erfordern, um sicherzustellen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Hauptverantwortung für die Aufarbeitung der Verstöße liegt beim Staat im Rahmen seiner Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenrechte. Die JIT betont, dass die Verantwortlichkeit nicht unter verengter Sicht verstanden werden darf und dass die strafrechtliche Verantwortung nur eine von mehreren erforderlichen Maßnahmen ist. Die JIT wiederholt die Forderungen der Opfer und Überlebenden von Menschenrechtsverletzungen, die die Wiederherstellung ihrer Lebensgrundlage, Wiedergutmachung, die Wahrheit über das, was ihren Angehörigen widerfahren ist, sowie die Anerkennung der Verantwortung auf allen Seiten und die Strafverfolgung der Täter fordern. Der Staat sollte ein opferzentriertes und geschlechtersensibles Wiedergutmachungsprogramm einführen, das Restitution, Entschädigung, Rehabilitation, Genugtuung - einschließlich des Rechts auf Wahrheit - und Garantien der Nichtwiederholung umfasst. Die internationale Gemeinschaft sollte Initiativen zur Stärkung der Justiz und der Verantwortlichkeit bei schweren Verstößen und Verbrechen unterstützen, einschließlich der Bemühungen der äthiopischen Behörden, Verstöße gegen die Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und das Flüchtlingsrecht, die im Zusammenhang mit dem Konflikt in Tigray begangen wurden, zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Der Bericht der JIT enthält detaillierte Empfehlungen an alle Konfliktparteien und an die internationale Gemeinschaft, einschließlich der Vereinten Nationen und der bilateralen und multilateralen Partner Äthiopiens.

Abkürzungen

JIT (JIT)

Joint Investigation Team

Gemeinsames Untersuchtungsteam

ENDF

Ethiopian National Defence Force

Äthiopische Nationalverteidigungsstreitkräfte

EDF

Eritrean Defence Forces

Eritreische Verteidigungsstreitkräfte

TSF

Tigray Special Forces

Spezialeinheiten Tigray

OHCHR

Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights

Amt des UN-Hochkommisars für Menschenrechte

EHRC

Ethiopian Human Rights Commission

Äthiopische Menschenrechtskommission

TPLF

Tigray People’s Liberation Front

Tigrayische Volksbefreiungsfront

ASF

Amhara Special Forces

Spezialeinheiten Amhara

SGBV

Sexual and Gender Based Violence

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt

Ethiopian Human Rights Commission (EHRC) and Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR): Report of the Joint Investigation into Alleged Violations of International Human Rights, Humanitarian and Refugee Law Committed by all Parties to the Conflict in the Tigray Region of the Federal Democratic Republic of Ethiopia. Veröffentlicht am 3. November 2021. Auszüge. Übersetzung: Rudi Friedrich. Download des vollständigen Berichtes: https://www.ohchr.org/Documents/Countries/ET/OHCHR-EHRC-Tigray-Report.pdf

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