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Die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerinnen in der Türkei

von Merve Arkun, Türkei

(12.09.2020) Die Türkei ist eine Region des Krieges. Derzeit steht die Kriegspolitik dieser Region mit den „Spannungen im östlichen Mittelmeerraum“ im Fokus. Aber wir leben schon seit Jahrzehnten in einer Realität des Krieges. Gerade wird die Frage eines Krieges für Politiker*innen aufgrund der Spannungen in der Ägäis zum wichtigsten Tagesordnungspunkt. Aber letztlich ist das in dieser Region ständig virulent. Die Politik und Praxis des Krieges gegen die kurdische Bevölkerung ist der deutlichste Ausdruck davon.

Das erste, was jedem Kind beigebracht wird, wenn es im Alter von sechs Jahren mit der Schulpflicht in die Schule kommt, ist die Behauptung, dass „wir in einem Land leben, das von drei Seiten vom Meer umgeben, aber von vier Seiten von Feinden umgeben ist“. Eine Kultur der Feindseligkeit, Gewalt und des Militarismus soll bereits in jungen Jahren als Normalität begriffen werden. Nicht nur die Schule ist Teil davon, auch viele andere Bereiche der Gesellschaft tragen effektiv zur Normalisierung des Militarismus bei: Religion, öffentliche Moral. Auch patriarchale Normen, die das öffentliche Leben dominieren, sind Teil davon. Vielleicht sind es sogar die effektivsten.

Vielschichtigere Perspektive

Obwohl Frauen in der Türkei nicht der Wehrpflicht unterliegen, sind sie seit vielen Jahren Teil der Antikriegsbewegung. Der Zusammenhang der von Frauen erlebten patriarchalen Gewalt mit Militarismus ist einer der wichtigsten Motive für die Kriegsdienstverweigerung von Frauen. 2004 hatte zum ersten Mal in der Türkei eine Frau ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Zu dieser Zeit wurden gerade die antimilitaristischen Dimensionen der Kriegsdienstverweigerung diskutiert.

Von 1989, dem Jahr der ersten in der Türkei öffentlich gemachten Kriegsdienstverweigerung, bis 2004 bezogen sich die Männer in ihren Verweigerungserklärungen vor allem auf die Verweigerung des als Teil der Wehrpflicht abzuleistenden Militärdienstes. Aber die Kritik von Frauen zu den „Quellen“ des Krieges zeigte vielschichtigere Beweggründe auf. Die Kriegsdienstverweigerung als politische Aktion von Frauen bot eine umfassendere Perspektive sowohl auf die Antikriegsbewegung als auch auf die Frauenbewegung in der Türkei.

In der Türkei hatte die Diskussion über Antimilitarismus und Geschlechterrollen erst Anfang der 2000er Jahre begonnen, als Frauen und LGBTQ-Aktivist*innen beschlossen, ihre Kriegsdienstverweigerung öffentlich zu erklären. Damit wurde das Verständnis der Kriegsdienstverweigerung als ausschließliche Ablehnung der Einberufung aufgebrochen und erweitert. Frauen und LGBTQ-Aktivist*innen waren nun als politische Subjekte an Antikriegsaktionen beteiligt und begannen, die alltäglichen und institutionellen Dimensionen des Militarismus‘ zu diskutieren. Sie machten deutlich, dass Militarismus nicht nur in der Kaserne existiert. Kriegsdienstverweigerinnen diskutierten, wie häusliche Gewalt, sexuelle Gewalt, wirtschaftliche und politische Gewalt mit Militarismus verflochten ist. Sie waren sich einig, dass alle Formen von Gewalt, die durch patriarchale Normen gesetzt werden, das gesamte Leben militarisieren. Sie sagten, dass dies Gewalt legitimiert. Auf diese Weise stärkten die Kriegsdienstverweigerinnen den Akt der Verweigerung und seinen antimilitaristischen Hintergrund. Die nun etwa 170 Verweigerinnen bringen seit 2004 neue Perspektiven in die Antikriegsbewegung und die Frauenbewegung ein.

Kriegsdienstverweigerung gegen die Militarisierung des Lebens

Es ist nicht falsch, Militarismus als einen Prozess zu sehen. Es lässt sich auch sagen, dass dieser Prozess durch das Verhältnis von politischer Gewalt und Macht angetrieben wird. Für eine Macht, die ihren Bestand durch Gewalt aufrechterhalten will, ist Krieg ein latent einsetzbares Mittel. Am deutlichsten wird die Beziehung zwischen politischer Macht und Gewalt in der Realität Krieg. Die Macht verkörpert ihre Gewalt mit patriarchalen Normen. Alle Formen der Gewalt, denen Frauen in öffentlichen und privaten Bereichen ausgesetzt sind, sind ebenfalls von dieser Spirale von Macht und Gewalt geprägt. Die militaristische Kultur erstreckt sich somit auf das gesamte Leben.

Kriegsdienstverweigerinnen stellen sich mit ihrem antimilitaristischen Aufstand gegen alle Formen von Gewalt, die das Leben durchziehen, nicht nur die Gewalt, die durch die militärischen Mechanismen verursacht werden. Cynthia Enloe sagt, dass der Militarismus seinen Erfolg daraus bezieht, dass er sich selbst versteckt. Kriegsdienstverweigerinnen decken nun diese verborgene Gewalt auf und lehnen sie ab. Sie erkennen die „normalisierte Gewalt“. Sie lehnen sie ab und widersetzen sich ihr.

Vom Krieg für politische Interessen zum Geschlechterkrieg

In der Türkei befinden sich Frauen mitten in einem Geschlechterkrieg. Im Jahr 2019 wurden 474 Frauen von Männern ermordet. Die Verwüstung durch diese Gewalt hat nicht abgenommen. Allein im August 2020 wurden 31 Frauen ermordet, Gewalt wurde gegenüber 122 ausgeübt, 13 Frauen vergewaltigt, 21 Frauen belästigt, 20 Kinder missbraucht und vier Kinder ermordet. Die Gewalterfahrungen von Frauen, die nur eine Zahl in den Nachrichten sind, haben während der Covid-19-Pandemie zugenommen.

Zeitgleich mit der Fortsetzung des Geschlechterkrieges verstärkte der Staat seine Kriegsrhetorik. In Syrien, Kurdistan und der Ägäis wurde die Praxis des Krieges sichtbar. Die militaristische Unterdrückung, angeheizt durch Nationalismus, Rassismus und Sexismus, gewann an Einfluss. Militarismus und Patriarchat nährten sich gegenseitig. Dies führt zu mehr Unterdrückung, Angst und Gewalt gegenüber Frauen.

Die Kriegsdienstverweigerung von Frauen stellt sich gegen all dies. Es ist eine politische Haltung gegen die interessengeleiteten Kriege der Staaten, gegen Geschlechterkrieg, gegen körperliche, psychologische und sexuelle Gewalt, die verursacht wird durch Staat und Patriarchat. Es ist ein Weg, um zu sagen: „Ich stehe hier und widersetze mich“ dem Patriarchat, der Gewalt und der politischen Herrschaft.

Merve Arkun lebt in der Türkei und ist Co-Vorsitzende des Vereins für Kriegsdienstverweigerung (Vicdani Ret Derneği)

Merve Arkun, 12. September 2020. Übersetzung aus dem Englischen: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Oktober 2020

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