Die Türkei im Konflikt Armenien-Aserbaidschan
(11.10.2020) - Gestern wurde nach zwei Wochen Krieg ein Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan vereinbart, der aber nach ersten Berichten nicht eingehalten wird. Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken streiten seit Jahrzehnten um die in Aserbaidschan gelegene, mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Nagorny-Karabach. Im folgenden Beitrag vom 6. Oktober 2020 diskutiert der aus der Türkei kommende Kriegsdienstverweigerer Beran Mehmet İşci die Rolle der Türkei in diesem Konflikt. (d. Red.)
Wann auch immer die Erdoğan-Regierung in den letzten 20 Jahren in der Klemme saß, versuchte sie sich über Konflikte und Chaos Luft zu verschaffen. Die AKP-Regierung benutzt nationale und religiöse Gefühle, um sie in Kriegsverherrlichung umzumünzen. So überrascht es uns nicht, dass sie sich in die Spannungen zwischen Aserbaidschan und Armenien einmischt. Zuerst einmal müssen wir uns diesbezüglich allerdings mit den jahrelangen Spannungen zwischen Armeniern und Türken beschäftigen. Sie sind der eigentliche Kern des Themas.
Wie wir alle wissen, leben die Armenier als eines der alten Völker Anatoliens seit Tausenden von Jahren in dieser Region. Armenier, die der Glaubensgemeinschaft der orthodoxen Christen angehören, wurden mit der Gründung der Türkei und der absoluten Vorherrschaft der Türken im Osten der Türkei und im Kaukasus wegen ihres Glaubens diskriminiert. Die Region war für dieses Volk verbunden mit einem großen Trauma. In der Zeit des osmanisches Reiches, das 600 Jahre zuvor auf Blut, Krieg, Brutalität, Expansion und Eroberung gründete, gab es verschiedene kleine oder große, kurze oder lange Aufstände von Kurden, Aleviten, Armeniern oder Celalis. Was uns aber bezüglich der Armenier als erstes einfällt, sind die Ereignisse in den letzten Jahres des osmanischen Reiches, die in der Weltöffentlichkeit als Völkermord an den Armeniern bekannt sind.
Obwohl es in der Zeit der osmanischen Herrschaft viele kleine und große Aufstandsbewegungen gab, die niedergeschlagen wurden, war Enver Pascha verantwortlich für diesen Völkermord. Sein einziges Ziel war es, alle Ethnien im Nordosten der Türkei und im Kaukasus zu eliminieren oder zu turkifizieren, auch die größte dieser Gruppen, die Armenier. Die unter Kontrolle von Enver Pascha stehende Armee, die dies Ziel verfolgen sollte, stand nun dem armenischen Volk gegenüber, das sich widersetzte und bewaffnete. Diese Situation war für Enver Pascha kein Hindernis, sie machte es für ihn hingegen leichter, diesen offenen Völkermord als Einsatz zur Unterdrückung der Rebellion zu kennzeichnen.
In diesen Konflikten starben auch türkische Menschen, obwohl die Mehrheit der Opfer Armenier waren. Viele neutrale, türkisch-armenische Historiker und Forscher sprechen von 200.000 bis 1,8 Millionen Armeniern, die starben oder die Region verließen. Die Argumentation türkischer Historiker und Forscher, den Völkermord zu bestreiten, geht in etwa so: Laut der vor und nach dem Konflikt durchgeführten Volkszählung liege der Bevölkerungsrückgang in der Region zwischen 140.000 und 200.000. Es gebe Armenier, die gestorben sind, aber die Gesamtzahl setze sich nicht nur aus den Todesfällen zusammen, sondern umfasse auch armenische Menschen, die in verschiedene Orte der Welt, insbesondere nach Syrien und in den Libanon, ausgewandert seien. Unverschämterweise fügen sie ihrem Diskurs oft hinzu: Wenn wir Türken einen Völkermord gegen eine Ethnie hätten ausführen wollen, hätten wir niemanden am Leben gelassen! Sie sagen also, dass Menschen getötet worden sind, aber nur wenige. Das sei kein Völkermord.
Selbst ein einziger Mord ist nicht zu rechtfertigen und kann nicht akzeptiert werden. Aber für den türkischen Staat liegt das Problem nicht darin, dass Hunderttausende massakriert wurden und man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, sondern nur in der Anzahl der Toten. Der türkische Staat, wie auch seine Anhänger, die den Völkermord vor der Weltöffentlichkeit leugnen, verwenden das Wort „Armenier“ auch im alltäglichen Leben als Beleidigung. Oppositionelle Bewegungen gegen den Staat oder die Regierung werden oft beschuldigt, „geheime Armenier“ oder „armenische Agenten“ zu sein. Recep Tayyip Erdoğan ging bei einer Rede sogar soweit zu sagen: „Sorry, aber er ist doch nur ein Armenier“.
Auf der anderen Seite sind von armenischer Seite seit dem Völkermord bis heute oft nur Hassreden zu hören, so wie es auf der anderen Seite der türkische Staat und viele Menschen aus der Türkei tun. Anstatt Frieden auf- und Konflikte abzubauen, Vorurteile zu brechen und die Polarisierung zu beenden, wurde die Propaganda auf beiden Seiten fortgesetzt. Nach diesem schmerzhaften Völkermord, in dem die Armenier fast ihre gesamte Bevölkerung im Osten der Türkei verloren, wandten sie sich nach Armenien.
Aufgrund des unendlichen Chaos‘ und des Kalten Krieges schloss der armenische Staat seine Grenzen zur Türkei. Darüber hinaus gab es auch große Probleme mit Aserbaidschan, das sich auf der anderen Seite im Osten von Armenien befindet und sich selbst als Bruderland der Türkei bezeichnet. Am bekanntesten ist der Krieg von 1988 bis 1994 um die Region Nagorny-Karabach, die uns auch heute beschäftigt. Er führte dazu, dass Karabach eine autonome Region wurde, die von Armenien abhängig ist. Eines der bekanntesten Ereignisse in diesem Krieg war das Massaker von Khojaly, bei dem Hunderte aserbaidschanische Bürger ums Leben kamen. Daher kann man nicht sagen, dass eine der beiden Parteien völlig militaristisch, die andere hingegen völlig friedlich ist. Die Weigerung beider Staaten, die Probleme über Diplomatie zu lösen, ist ein Hinweis darauf. Während der armenische Staat versucht, den Völkermord zu rächen durch den Krieg gegen Aserbaidschan, setzt der aserbaidschanische Staat seine turkistische Aggression gegenüber Armenien fort.
In einem möglichen offenen Krieg wird Armenien die Unterstützung der Weltöffentlichkeit erhalten, insbesondere aus Russland. Aserbaidschan wird vom türkischen Staat unterstützt und der wiederum von der türkischen Bevölkerung. Auf der anderen Seite wird die Türkei auch davon profitieren als Aserbaidschans zweitgrößter Waffenlieferant. Letztendlich wird es Erdoğan helfen, auf die eine oder andere Art und Weise an der Macht zu bleiben. Genau wie er jahrelang vom Syrienkrieg profitierte, wird Erdoğan auch aus dem Krieg in dieser Region Nutzen ziehen können. Dies ist auch der Grund, warum er keine Gespräche zwischen den Kontrahenten möchte und sich klar hinter Aserbaidschan stellte. Wenn populistische Rhetorik Nationalismus und Militarismus stärken, wird sie vorbehaltlos unterstützt.
Ein wichtiges Thema, das die Medien seit Tagen beschäftigt und das vom französischen Präsidenten Macron, dem Iran und Russland auf die Tagesordnung gesetzt wurde, ist der Einsatz von syrischen Dschihadisten in Karabach, geschickt von der Türkei. Obwohl es dafür keine wirklichen Nachweise gibt, zeigen Berichte der Geheimdienste dies an. Auch ohne Beweise sind sich fast alle sicher, dass dies möglich ist, und es zuvor ja ebenso auch schon im Fall von Libyen geschah. Erdoğans neue Politik zeigt sich hier. Aufgrund der Spannungen mit Russland musste er in Syrien von seinem Ambitionen abrücken. Aus Angst vor Sanktionen der Europäischen Union machte er Zugeständnisse in der angespannten Situation mit Griechenland. Und in Libyen erhielt er nicht genügend Unterstützung und Aufmerksamkeit von der Bevölkerung. Erdoğan, der seinem Volk mit der üblichen populistischen Rhetorik verkündet, dass er dem Bruderstaat Aserbaidschan in der schwierigen Zeit helfe, versucht damit, die Stimmen zurückzugewinnen, die er aufgrund der Wirtschaftslage, von Korruption, Polarisierung, totaler Einschränkung der Meinungsfreiheit, völliger Kontrolle der Justiz und der Misserfolge in der Pandemie verloren hat. Leider, wenn es so läuft wie er es will, wird er erneut damit Erfolg haben, wie schon so oft.
Innenpolitisch wurde die Rückkehr der Todesstrafe auf die Tagesordnung in der Türkei gesetzt. In seiner letzten Rede erklärte Erdoğan ruhig und zuversichtlich, er würde Todesurteile bestätigen, wenn sie ihm nach einem Parlamentsbeschluss vorlägen. Zur selben Zeit wurden in der Woche zum Beginn des Karabach-Konflikts HDP-Mitglieder festgenommen aufgrund ihrer Proteste zu Kobani vor fünf Jahren.
Welche Schlussfolgerung können wir aus all diesen Entwicklungen ziehen? Erdoğan wird all seine Kraft darauf verwenden, Aggression und Gewalt zu fördern. Die Europäische Union und die europäischen Staaten sollten harte Sanktionen gegen dieses blutige und repressive Regime verhängen und ihre Beziehungen sofort abbrechen. Das Land ist von den Interessen eines einzelnen Mannes geprägt, Demokratie und Menschenrechte sind vollständig aufgehoben. Europa muss sich endlich entscheiden, statt das Doppelspiel mit den wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit der Türkei weiterzuführen. Darf Erdoğan jeden Tag aggressiver werden und alles zerstören, was seiner Macht entgegensteht? Darf er jeden Menschen ermorden, der ihn im Weg steht? Oder sollte nicht besser das Recht Vorrang erhalten, die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, der Frieden, auf denen Verfassungs- und Justizorgane beruhen?
Beran Mehmet İşçi ist ein Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei. Sein Asylbegehren wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt und ist weiter anhängig. Er lebt im Süden Deutschlands.
Beran Mehmet İşçi, 6. Oktober 2020. Übersetzung: Mertcan Güler. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2020
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