EUGH-Generalanwältin Eleanor Sharpston zu Asylvoraussetzungen eines syrischen Kriegsdienstverweigerer

von Rudi Friedrich

(18.06.2020) Ende Mai 2020 veröffentlichte die Generalanwältin Eleanor Sharpston ihre Stellungnahme im Verfahren C-238/19 des Europäischen Gerichtshofes. Sie hatte sich hier mit einer Vorlage des VG Hannover zu befassen, mit der das Verwaltungsgericht eine Entscheidung des EUGH zu verschiedenen Fragen in einem Asylverfahren eines syrischen Kriegsdienstverweigerers erbittet. In dem Verfahren geht es zusammengefasst darum, ob die Verfolgung einer Kriegsdienstverweigerung des Krieges in Syrien als politische Verfolgung zu werten ist oder nicht. Wenn dies der Fall ist, so müsste der Betroffene einen Flüchtlingsschutz erhalten und nicht nur, wie bisher vorliegend, einen subsidiären Schutz aus humanitären Gründen.

Nach der EU-Anerkennungsrichtlinie 2011/95 setzt die Anerkennung als Flüchtling voraus, dass der Betroffene aufgrund von Umständen in seinem Herkunftsland eine begründete Furcht vor Verfolgung aus zumindest einem von fünf Gründen (Verfolgungsgründen) hat (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe).

Als Verfolgung(shandlung) gilt u.a. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Kriegsverbrechen (wie vorsätzliche Tötung oder Folterung von Zivilpersonen) oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit (wie Völkermord, Mord, Vergewaltigung oder Folter als Teil eines groß angelegten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung) umfassen würde (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e i.V.m. Art. 12 Abs. 2 Buchst. a).

Es geht um einen syrischen Staatsangehörigen, der kurz vor Ablauf seiner studienbedingten Zurückstellung vom Militärdienst Syrien verließ, um der Einberufung zu den Streitkräften zu entgehen, und in Deutschland Asyl beantragte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm zwar subsidiären Schutzstatus zu, lehnte seinen Asylantrag jedoch mit der Begründung ab, dass er in Syrien keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen sei, die ihn zur Flucht aus seinem Heimatland hätte veranlassen können. Nach Ansicht des Bundesamts bestand in seinem Fall zwischen der Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund kein Kausalzusammenhang. Seine Verweigerung knüpfe also nicht an einen der fünf Verfolgungsgründe (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) an. Gegen diese Entscheidung erhob der Betroffene Klage beim VG Hannover. Nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts will der Betroffene die zweijährige allgemeine Wehr- und Dienstpflicht in der syrischen Armee, die ihn wahrscheinlich in die Begehung von Kriegsverbrechen verwickeln würde, nicht erfüllen. In Syrien gebe es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Durch seine Flucht aus Syrien und die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz drohe ihm – aufgrund eben dieses Verhaltens – eine Strafverfolgung oder Bestrafung in seinem Herkunftsland.

Die Stellungnahme ist nicht rechtsverbindlich sondern nur eine Vorlage für die dann verbindliche Entscheidung des EUGH. Der volle Wortlaut der Stellungnahme kann nachgelesen werden unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=226875&doclang=DE

Der betroffene Kriegsdienstverweigerer hatte darauf verwiesen, dass er wegen seiner Kriegsdienstverweigerung der Gefahr einer Strafverfolgung ausgesetzt ist und, wenn er in den Streitkräften dienen würde, sein Dienst wahrscheinlich Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde. Eine in der Stellungnahme behandelte Frage ist, ob er außerdem nachweisen muss, dass er eine politische Überzeugung vertritt, die ihn zu dieser Kriegsdienstverweigerung motiviert.

Die Generalanwältin geht dann auf verschiedene Punkte ein. Nach ihrer Ansicht:

- muss ein Kausalzusammenhang zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen gegeben sein (Punkt 51);

- muss die betreffende Person die Überzeugung bzw. Kriegsdienstverweigerung nicht öffentlich gemacht haben und auch nicht den Behörden des Herkunftslandes mitgeteilt haben (Punkt 64);

- müssen die zuständigen Behörden überprüfen, ob die Person die politische Auffassung vertritt oder ob ihr diese Auffassung vom Verfolgerstaat zugeschrieben wird (Punkt 66);

- ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen im Völkerrecht verankert (Punkt 69);

- liegt bei einem Kriegsdienstverweigerer offensichtlich ein Wertekonflikt vor, den er auch darzulegen hat: „Darin, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu vertreten, die diesen Aktivitäten des syrischen Staates entgegensteht, könnte also das Vertreten einer politischen Überzeugung zu sehen sein“ (Punkte 73-75);

- seien die zuständigen Behörden dazu verpflichtet, zu prüfen, ob die Angaben zu den Verfolgungsgründen glaubwürdig sind (Punkt 87);

- sind weitere Gesichtspunkte zur Beurteilung relevant: Gibt es eine zwangsweise Einberufung? Wird der Krieg unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht geführt? Gibt es eine Möglichkeit, alternativen Dienst abzuleisten? Ist die Art und Schwere der Sanktion unverhältnismäßig? (Punkte 76-80)

Mit diesen Annahmen kommt sie in Punkt 86 zu folgendem Schluss: „Herr EZ war 25 Jahre alt, als er sein Universitätsstudium abschloss. Zu diesem Zeitpunkt war er vom Militärdienst noch zurückgestellt. Er war bei seiner Einreise nach Deutschland 26 und bis zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags 27 Jahre alt. Herr EZ fiel in die Gruppe derjenigen Personen, die nach syrischem Recht einberufen werden konnten; nach syrischem Recht besteht kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Militärbehörden die Rekrutierung von Personal eingestellt hätten. Für diejenigen, die den Dienst in der Armee verweigern, gibt es offenbar keine glaubhafte Alternative zum Militärdienst. Es ist hinreichend belegt, dass gegen Personen, die den Dienst verweigern, harte Sanktionen verhängt werden. Mit dem Hinweis in seinem Vorabentscheidungsersuchen, dass die Begehung von Kriegsverbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie im syrischen Bürgerkrieg weit verbreitet sei und dass es viele dokumentierte Fälle von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht gebe, gibt das vorlegende Gericht die Erkenntnisse zahlreicher internationaler Einrichtungen wieder. Hierin sind sämtlich objektive Gesichtspunkte zu sehen, die für die Plausibilität der Annahme sprechen, dass eine Person wie Herr EZ als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen eine politische Überzeugung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der Anerkennungsrichtlinie vertritt.“

Der positive Aspekt dieser wie schon gesagt nicht rechtsverbindlichen Stellungnahme ist, dass auch eine selektive Verweigerung, d.h. die Verweigerung eines bestimmten Krieges, als Kriegsdienstverweigerung verstanden wird. Es wird also vom Verweigerer nicht verlangt, dass er jeden Krieg und jeglichen Einsatz ablehnt. Wenn wir uns die Motivationen und Berichte von Kriegsdienstverweiger*innen aus den verschiedensten Kriegsgebieten ansehen, so wird solch eine selektive Verweigerung auch viel eher vorgebracht. Das in Deutschland weit verbreitete Konzept einer pazifistisch motivierten Verweigerung ist in vielen Ländern nicht wirklich präsent und angesichts der dort herrschenden Verhältnisse für viele nicht vorstellbar.

Eleanor Sharpston macht aber auch deutlich, dass die obersten Gerichte davon ausgehen, dass Kriegsdienstverweigerung nur ein Ausnahmerecht darstellt und begründet werden muss. Selbst im vorliegenden Fall, wo es offensichtlich ist, dass die Kriegführung völkerrechtswidrig ist, es also eigentlich eine Verpflichtung zur Kriegsdienstverweigerung geben müsste, bedeutet es, dass eine Prüfung der Motivation und Gründe erfolgen soll. Wir wissen nur zu gut, dass damit auch Gewissensprüfungen Vorschub geleistet wird, die nach Widersprüchen und Inkonsistenzen im Vorbringen des Verweigerers suchen, um Handhabe für eine negative Entscheidung zu haben.

Wenn der EUGH tatsächlich so entscheidet, erhöht das die Chancen des betroffenen Kriegsdienstverweigerers, tatsächlich Asyl zu erhalten. Auch andere Verweigerer aus Syrien, die ihre Motivation und Beweggründe deutlich und glaubhaft machen können, hätten damit bessere Chancen.

Rudi Friedrich: Stellungnahme der EUGH-Generalanwältin Eleanor Sharpston zu Asylvoraussetzungen eines syrischen Kriegsdienstverweigerers. 18. Juni 2020. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2020

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