Geschichte der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

von Ercan Aktaş

(15.05.2021) Der Kampf für die Kriegsdienstverweigerung begann mit den Erklärungen von Tayfun Gönül am 6. Dezember 1989 und von Vedat Zencir am 6. Februar 1990, die beide in der Zeitschrift Sokak (Straße) veröffentlicht wurden.1 Angesichts der in den Jahren 1989 und 1990 bestehenden Gewalt, dem Konflikt und Krieg, verbunden mit Massakern, nicht identifzierten Tätern, einer staatlichen Politik alltäglicher Folter und einer Rhetorik, die vom „Heimatland Nation“ sprach, war es sehr bedeutsam, dass zwei türkische Personen an die Öffentlichkeit gingen und sagten: „Ich gehe nicht zum Militär“. Damit stellten sie sich gegen all diese Politik der Gewalt und des Krieges.

Es gab einen Unterschied im Vergleich zu den Kriegsdienstverweigerern in den westlichen Staaten Europas. Dort wurde mit der Kriegsdienstverweigerung der Zivildienst als Alternative im Rahmen der Wehrpflicht verbunden. In der Türkei hingegen gab es keinen Grund für diese Position, die Verweigerung war somit eine Totalverweigerung. Ein Kriegsdienstverweigerer in einer „Nation von Soldaten“ wie die Türkei zu sein bedeutete, alle normalen männlichen Rollen des Systems und der Gesellschaft zu verwerfen: Gründer der Familie, Mann des Hauses, Zentrum der Gesellschaft, zuverlässiger Bürger. Tatsächlich wurde der Militärdienst in der Türkei angesehen als „Vervollständigung des männlichen Kreises“ und als ein Schritt um die Verantwortung in der Gesellschaft wahrzunehmen. Wer keinen Militärdienst ableistete, wurde als „unvollständiger Mann“ angesehen, als Versager, als Krüppel.

Kriegsdienstverweigerer zu werden und damit all diese sozialen Normen zu übergehen, bedeutete, die Heteronormativität aufzugeben, die vom System auferlegt wurde, und sich selbst mit eigenen Werten zu identifizieren. Auf der anderen Seite wurde in den Erklärungen zur Kriegsdienstverweigerung auch immer ein Schwerpunkt auf eine Position gegen den Krieg gelegt. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass in ihren ersten gemeinsamen Veröffentlichungen der Name Kriegsgegner bzw. Kriegsgegnerin stand. So begannen sie als Gruppen der Kriegsgegner*innen gegen Gewalt und Militarismus in der Türkei und im Norden Kurdistans zu kämpfen.2

 In einer Gesellschaft, in der jeder von Geburt an als Türke und Soldat angesehen wird, wurde mit diesen Verweigerungen eine andere Geschichte geschrieben. Drei Jahre später, am 16. Januar 1993, machten Erkan Çalpur, Atilla Akar und Yusuf Doğan das erste Mal gemeinsam ihre Erklärungen zur Kriegsdienstverweigerung öffentlich. Auch wenn diese Bewegung sich nur aus kleinen anarchistischen Gemeinschaften heraus entwickelte, begann damit zum ersten Mal ein antiautoritärer, antimilitaristischer und antihierarchischer Diskurs abseits eines männlichen, militärischen Systems und abseits einer demokratischen bzw. oppositionellen Linken. Mit den gemeinsam vorgestellten Erklärungen von Uğur Yorulmaz, Timuçin Kızılay und Hasan Çimen am 15. Mai 2000 trat nun auch der Internationale Tag der Kriegsdienstverweigerung in Erscheinung. Und nun wurde es auch relevant, dass mit den Erklärungen der Straftatbestand der „Distanzierung des Volkes vom Militär“ als erfüllt angesehen wurde. Tayfun Gönül und Vedat Zencir waren die ersten, die vor Gericht gestellt und bestraft wurden. Aber das warf die Kriegsdienstverweigerer in der Türkei nicht zurück. Es kann sogar gesagt werden, dass die Verfahren dafür sorgten, dass oppositionelle Gruppen und Organisationen außerhalb der links-anarchistischen Kreise über diese Verfahren über die Kriegsdienstverweigerung erfuhren.3

 Kriegsdienstverweigerer setzten ihre Kampagne über Aktionen, Organisationen und Straßenproteste um und zeigten damit eine andere Form des Kampfes auf. Sie organisierten ihre Kampagne und ihre Arbeit im Konsensprinzip und mit einer horizontalen Organisation, ohne hierarchische Strukturen. Auf den Straßen hatten ihre Aktivitäten im Gegensatz zu anderen oppositionellen Gruppen oft einen Festivalcharakter.

Von Anfang an arbeiteten sie auch mit feministischen und LGBTI+-Gruppen zusammen. Das war ein wichtiger Faktor, der verhinderte, ein Männlichkeitsbild4 gegenüber dem Militärdienst zu etablieren, das der Mannhaftigkeit verhaftet blieb. Vielmehr wurde Männlichkeit und männlich sein über Jahre hinweg immer wieder in Frage gestellt und neu entwickelt in einer horizontalen Organisation und in Basisstrukturen, die vor Hierarchisierung und zentralisierten Strukturen und Organisationen geschützt wurden.

 Osman Murat Ülke, Mehmet Tarhan, Halil Savda, İnan Süver und Enver Aydemir nutzten ihre Verfahren, um die Kampagne zur Kriegsdienstverweigerung in der Türkei voranzutreiben und führten Untersuchungen durch, um herauszufinden, inwieweit diese Aktionsform in der Gesellschaft akzeptiert wird. Mit all diesen Aktivitäten wurde die Bewegung der Kriegsdienstverweigerung stärker. Am 15. Mai 2004 erklärten auf einer Pressekonferenz zehn Personen ihre Verweigerung. Unter ihnen waren sechs Frauen (Ferda Ülker, İnci Ağlagül, Ebru Topal, Yöntem Yurtsever, Nazan Askeran, Hürriyet Şener).

Nun wurde es üblich, zum 15. Mai Pressekonferenzen durchzuführen, um dort gemeinsam zu verweigern. 2010 erklärten 29 Personen bei solch einer Gelegenheit im Rahmen einer Kampagne der „Plattform Kriegsdienstverweigerung und Frieden“ ihre Verweigerung. Die Plattform war ein Zusammenschluss von verschiedenen linken und oppositionellen Gruppen und Organisationen. Die eigene Kriegsdienstverweigerung im Rahmen einer Kampagne oder auf einer Solidaritätsdemonstration für andere Verweigerer öffentlich zu erklären, das wurde nun zu einer üblichen Aktionsform.5

Jedes Jahr machten Dutzende von Menschen ihre Kriegsdienstverweigerung öffentlich, indem sie vor der Presse ihre Stellungnahmen mit ihren jeweils eigenen politischen Vorstellungen vortrugen. All diese persönlichen Erklärungen sind in einer Gesellschaft, die von einer männlich dominierten Militärpolitk in Geiselhaft genommen wird, ein „Manifest der Freiheit“. Diese Verweigerungen fanden in den Straßen statt, bei Festivals und Protestaktionen – vor Hunderten von Personen und Dutzenden von Pressevertreter*innen.

Und dann gab es einen Bruch, die Aktionsform fand nicht mehr statt. Grund dafür waren die Ereignisse ab dem 15. Juli 2016. An dem Tag gab es einen Putschversuch durch einige Militäroffiziere, was sich bis zum 20. Juli durch die Regierungspartei AKP und der mit ihr verbündeten MHP zu einer Art „neuem Putschmodell“ politisch wendete. Damit begann in der Türkei eine neue Zeitrechnung. Seit dem 20. Juli 2016 sind die Straßen so gut wie abgeriegelt. Viele oppositionelle Gruppen und demokratische Organisationen wie auch progressive Einzelpersonen wurden unterdrückt, schärfer noch als nach dem Militärputsch vom 12. September 1980. Sie wurden wie mit einem Panzer überrollt.6

 Viele Webseiten, Radiostationen, Fernsehsender und Zeitungen, die nicht der rassistisch-militaristischen Politik der AKP und MHP folgten, wurden durch Präsidentenerlasse geschlossen. Während viele aktive Kriegsdienstverweigerer das Land verließen, sehen sich die im Land verbliebenen auch diesem Druck und der Politik der Gewalt ausgesetzt.

Wenn wir über 2016 hinausblicken, sehen wir, dass 2017 etwa 20 Personen ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt haben. Zwölf von ihnen taten dies über eMail, drei über ihre eigenen Accounts bei den Sozialen Medien, einer in Italien, zwei in Deutschland und drei in Frankreich. Wenn wir auf die letzten beiden Jahre schauen, können wir beobachten, dass die Zahl der Kriegsdienstverweigerer, die ihre Verweigerung aus europäischen Ländern heraus erklärt haben, gestiegen ist. 2018 gab es 13 Personen aus der Türkei, die ihre Verweigerung in Europa erklärten: einer in Italien, einer in den Niederlanden, drei in Deutschland und acht in Frankreich. Es gibt uns einen Blick darauf, wie sich die Situation für Kriegsdienstverweigerer in der Türkei darstellt.

Da es in Frankreich keine Wehrpflicht mehr gibt, wurde ein eintägiges symbolisches Training für 16-jährige eingeführt. Das Thema Kriegsdienstverweigerung ist damit kaum noch relevant. Aber insbesondere in den letzten vier Jahren, wandelt sich hier in Frankreich die Lage im Zusammenhang mit der Kriegsdienstverweigerung. Nun erklärten türkische Kriegsdienstverweigerer hier in Frankreich, dass sie den Kriegsdienst verweigern. Da das in der Türkei bestehende antidemokratische und autoritäre System für all diejenigen zu einem großen Problem wird, die die Wehrpflicht ablehnen, erklären sie nun ihre Kriegsdienstverweigerung nach ihrer Ankunft in einem europäischen Land.7

 Zwölf Personen haben ihre Kriegsdienstverweigerung seit 2020 erklärt: Mehmet Şaban Değirmenci, Ömer Tüzün, Mahsum Duman, Osman Yılmaz, Mustafa Doğan, Resul Güler und Halil Göktaş, die alle in Frankreich leben; Murat Kızılay in den Niederlanden; Resul Dündar und Mertcan Güler in Deutschland. Nur zwei erklärten ihre Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Grund dafür ist, dass ihre Kriegsdienstverweigerung den „zivilen Tod“ zur Folge hat.8

 Deshalb sollten wir darüber nachdenken, ein neues Kapitel zur Situation der Kriegsdienstverweigerer (aus der Türkei) aufzumachen, insbesondere in Frankreich und in Deutschland.

Die Republik Türkei will innerhalb ihrer Grenzen über eine rassistisch-militaristische, nationalstaatliche Politik den Druck auf Kriegsdienstverweigerer innerhalb der eigenen Grenzen aufrechterhalten, wie das auch für alle Oppositionelle und die demokratischen Gruppen gilt. Diese Menschen aber, diese Opposition, diese Kriegsdienstverweigerer setzen ihren Kampf anderswo fort und nutzen dafür neue Mittel.

 Kriegsdienstverweigerer, die in Europa leben müssen, setzen ihren Kampf an der Seite von Gruppen von Kriegsgegner*innen fort, wie der War Resisters‘ International, dem Europäischen Büro für Kriegsdienstverweigerung, Connection e.V., Peace House und Maison de la Paix.9

Fußnoten

1 Tayfun Gönül: Haki Veya Beyaz, Üniforma Üniformadır – https://bianet.org/bianet/ifade-ozgurlugu/140036-tayfun-gonul-haki-veya-beyaz-uniforma-uniformadir

2 Dünyada ve Türkiye’de Savaş Karşıtı Hareket ve Antimilitarizm Üzerine: Kültür ve Siyasette FEMİNİST YAKLAŞIMLAR (http://www.feministyaklasimlar.org/sayi-02-subat-2007/dunyada-ve-turkiyede-savas-karsiti-hareket-ve-antimilitarizm-uzerine/)

3 AİHM’in Vicdani Retçi Osman Murat Ülke kararı | Açık Radyo 95.0 (https://acikradyo.com.tr/arsiv-icerigi/aihmin-vicdani-retci-osman-murat-ulke-karari)

4 Erkeklik bedeutet im Türkischen Potenz und Männlichkeit. erk bedeutet Potenz bzw. Macht, ohne einen Zusammenhang der beiden Wortbestandteile herzustellen. Der Autor nutzt in seinem Artikel die Möglichkeit, das herauszuheben und damit die Bedeutung dieser beiden Wortbestandteile hervorzuheben (Mann und Macht), indem er erk‘eklik schreibt.

5 29 Kişi Daha Katıldı, Vicdani Retçilerin Sayısı 118 Oldu - Tolga Korkut – https://m.bianet.org/bianet/insan-haklari/122019-29-kisi-daha-katildi-vicdani-retcilerin-sayisi-118-oldu

6 Ercan Aktaş: OHAL ve Bir Vicdani Retçinin Hikâyesi | Biz Varız! | We Exist! (https://kopuntu.org/2017/09/30/ercan-aktas-ohal-ve-bir-vicdani-retcinin-hikayesi/)

7 Mehmet Şaban Değir-menci (https://vicdaniret.org/mehmet-saban-degirmenci/)

8 Vicdani reddin bedeli: 26 bin TL ceza, üç yıl hapis, medeni haklardan men – https://www.diken.com.tr/vicdani-reddin-bedeli-26-bin-tl-ceza-uc-yil-hapis-medeni-haklardan-men/

9 Avrupa Vicdani Ret Bürosu’ndan Türkiye’ye eleştiri | ALMANYA | DW | 14.05.2019, https://www.dw.com/tr/avrupa-vicdani-ret-b%C3%BCrosundan-t%C3%BCrkiyeye-ele%C5%9Ftiri/a-48737484

Ercan Aktaş: Geschichte der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. 15. Mai 2021. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Kriegsdienstverweigerung in der Türkei", Mai 2021. Hrsg.: Connection e.V., War Resisters International und Union Pacifiste de France

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