Merve Arkun

Merve Arkun

Türkei: „Unser Kampf ist viel umfassender“

Interview mit Merve Arkun, Co-Vorsitzende des Vereins für Kriegsdienstverweigerung

Die türkische Zeitung Demokrat Haber sprach mit Merve Arkun, Co-Vorsitzende des Vereins für Kriegsdienstverweigerung

Kriegsdienstverweigerung ist ein grundlegendes Menschenrecht. Die Weigerung, Gewalt anzuwenden und zu Töten bedeutet, für das Recht und die Garantie des Lebens einzutreten. Kriegsdienstverweigerer in der Türkei sind allerdings Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Schon viele Jahre kämpfen sie gegen Freiheits- und Geldstrafen.

Im Rahmen der Reihe „Im Gespräch“ haben wir mit verschiedenen Menschen und Institutionen gesprochen, die auf dem Gebiet der Menschenrechte und Freiheiten aktiv sind. Heute sprechen wir mit der Co-Vorsitzenden des Vereins für Kriegsdienstverweigerung, Merve Arkun.

Wie definieren sich Kriegsdienstverweiger*innen? Verstehen sie sich als Antimilitarist*innen oder Pazifist*innen?

Kriegsdienstverweigerung ist in erster Linie eine Ablehnung der Wehrpflicht. Menschen definieren ihre Kriegsdienstverweigerung aus vielen verschiedenen Gründen heraus. Mit anderen Worten, jeder Kriegsdienstverweigerer und jede Kriegsdienstverweigerin hat unterschiedliche Motivationen. Menschen können ihre Kriegsdienstverweigerung aufgrund ihrer ethischen, philosophischen und politischen Werte erklären. Das kann eine Antimilitaristin sein, die gegen Krieg aktiv ist, eine Muslimin, die aufgrund ihres religiösen Glaubens die Wehrpflicht ablehnt, ein Zeuge Jehovah, eine Frau, die ihre Kriegsdienstverweigerung im Kontext des Verhältnisses zwischen Militarismus und Geschlecht erklärt, eine gewaltfreie Person. Da Einzelpersonen die Wehrpflicht nicht nur aus einem Grund ablehnen, gibt es auch nicht eine einzige Begründung. Jeder Kriegsdienstverweigerer, jede Kriegsdienstverweigerin kann die Wehrpflicht, die Armee, den Krieg oder den Militarismus aus einer individuell definierten Motivation ablehnen und seine bzw. ihre Kriegsdienstverweigerung erklären.

Ich erklärte meine Kriegsdienstverweigerung als Frau aus antimilitaristischen Gründen, weil sich die Wehrpflicht hier bei uns und in vielen verschiedenen Teilen der Welt nicht nur auf Männer auswirkt. Es ist offensichtlich, wie sehr das Militär und der Krieg durch Gewalt, Militarismus und männliche Herrschaft bestimmt sind. Ich halte es daher für sehr wichtig, diese totale militaristische Herrschaft als Frau abzulehnen.

Die Gesellschaft ist seit Jahrhunderten von einer militaristischen Kultur unter männlicher Herrschaft, von Nationalismus, geprägt. Ihr Kampf scheint mehr zu umfassen. Verstehe ich das richtig?

Ja. Die Wehrpflicht ist ein Mittel, das Staaten benötigen, um Armeen aufrecht zu erhalten, die menschliche Ressource eines Krieges. Die Wehrpflicht nährt den Krieg und der Krieg nährt den Militarismus, eine Kultur der Gewalt und damit das Patriarchat. Es ist sehr wichtig, die gesamte Kultur der Gewalt im Blick zu haben und Widerstand zu organisieren. Die Wehrpflicht ist ein kleiner, aber hochwirksamer Teil dieser Kultur der Gewalt.

Der Nationalismus sieht die Wehrpflicht als „heilig“ an. Aus diesem Grund sehen viele Gesellschaftsschichten Wehrpflicht und Armee als ein Tabu an, das nicht hinterfragt werden darf. Zudem sorgen sexistische Codes in der Gesellschaft für eine Kultur der Gewalt und militaristischen Herrschaft.

Frauen sind von der Wehrpflicht nicht nur insofern betroffen, dass sie ihre Angehörigen und Kinder zur Armee schicken und dann in Sorge warten müssen. Armeen und Kriege, die durch Militärdienstleistende geführt werden, stellen eine ernsthafte Bedrohung für den Körper und das Leben von Frauen dar. Diese Bedrohungen erlebten wir sehr schmerzhaft in jedem Krieg der Weltgeschichte. Es gibt unzählige Beispiele dafür: Frauen als „Kriegsbeute“, Massenvergewaltigung, Gefangennahme, eine Kriegspolitik, die mit der Begründung vorangetrieben wird, sich für „schutzbedürftige“ Frauen einzusetzen. Abgesehen davon bestimmt die militaristische Herrschaft sehr effektiv unser Leben als Frauen. Die „normalisierten“ Geschlechtscodes, die sich in allen Lebensbereichen finden, und die Gewalt, die durch diese Codes erzeugt und aufrechterhalten wird, bedrohen direkt unser Leben.

Aus all diesen Gründen ist unser Kampf viel umfassender. Obwohl wir praktisch gegen unzählige Rechtsverletzungen in unserem Land kämpfen, da es hier kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, haben wir auch eine Perspektive von Widerstand gegen den Militarismus und die Mechanismen der Gewalt.

Wie sieht es weltweit zur Frage der Kriegsdienstverweigerung aus?

Auch wenn die Türkei der einzige Mitgliedsstaat des Europarates ist, in dem die Kriegsdienstverweigerung nicht als Recht anerkannt wird, gibt es auch in vielen anderen Ländern, die es anerkennen, Verstöße gegen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.

In dem kürzlich veröffentlichten Bericht des European Bureau of Conscientious Objection (EBCO), dem wir angehören, heißt es: „Für zahlreiche Kriegsdienstverweigerer war 2019 ein Jahr, das in erster Linie von Rückschritten und einem fehlenden politischen Interesse an der Verwirklichung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung entsprechend den europäischen Menschenrechtsstandards geprägt war“.

Um einige Beispiele zu nennen: Ende 2019 schlugen der Schweizerische Ständerat und der Nationalrat eine Änderung vor, die den Zugang zu alternativen Diensten in der Praxis erschwert, mit weitreichenden Einschränkungen für die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Die Dauer des alternativen Dienstes für Kriegsdienstverweigerer aus Griechenland ist weiterhin sechs Monate länger als der von den meisten Wehrpflichtigen abzuleistende Militärdienst. Mit anderen Worten, in Griechenland wird die „Praxis des alternativen Dienstes mit Strafcharakter“ für Kriegsdienstverweigerer fortgesetzt. In Nordzypern wurde im Herbst 2019 ein Entwurf für einen alternativen Dienst zurückgezogen, obwohl der Ministerrat diesen im Januar des Jahres dem Parlament vorgelegt hatte.

Solche Beispiele sind erschreckend. Wir sehen, dass verschiedene Sanktionen und Rechtsverletzungen für Kriegsdienstverweigerer auch in Regionen fortbestehen, in denen das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung anerkannt ist.

Einige Länder bieten Kriegsdienstverweiger*innen die Möglichkeit, einen alternativen Dienstabzuleisten. Was ist Ihre Meinung dazu? Wie stehen Sie zur Totalverweigerung?

Da Kriegsdienstverweigerung in verschiedenen Teilen der Welt als Menschenrecht anerkannt wird, können Kriegsdienstverweiger*innen Regelungen zu alternativen Diensten nutzen. Wie oben erwähnt, wird diese Praxis jedoch so gestaltet, dass sie einer Bestrafung entspricht. Der alternative Dienst, der weitaus länger als der Militärdienst abgeleistet werden muss, wird so selbst zu einer Strafe. Das stellt eine Bedrohung für Kriegsdienstverweiger*innen dar.

Natürlich ist eines unserer Hauptprobleme hier, wo wir leben, dass es keinerlei Regelung für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Vielmehr wird die Reisefreiheit eingeschränkt, das Recht auf Bildung und Arbeit. Es ist daher wichtig, dass es eine gesetzliche Regelung zur Kriegsdienstverweigerung gibt.

Es stellt sich natürlich die Frage, wie ein Gesetzesentwurf zur Kriegsdienstverweigerung aussehen könnte. Soll es einen alternativen Dienst geben und wenn ja, wie soll der aussehen? Soll dieser Dienst in der Armee abgeleistet werden oder wird es eine Option für den öffentlichen Dienst geben? Wird die Dauer des alternativen Dienstes der Dauer des Militärdienstes entsprechen oder werden neue Formen der Bestrafung eingeführt? Das sind alles entscheidende Punkte. Derzeit ist es nicht möglich die weitere Entwicklung in der Türkei vorherzusagen.

Natürlich gibt es unter den Mitgliedern und Freiwilligen unseres Vereins auch Totalverweigerer und welche, die diesen Standpunkt verteidigen. Derzeit arbeiten wir jedoch an einem „Recht auf Kriegsdienstverweigerung“. Wie wir bereits festgestellt haben, werden neue, durch Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung eingeführte Praktiken, mit denen wir konfrontiert werden, einen günstigeren Nährboden für Gespräche und Diskussionen über Totalverweigerung schaffen.

Wie stehen die Oppositionsparteien zur Wehrpflicht?

Hier werden Wehrpflicht und Armee als „heilig“ und nicht verhandelbar angesehen, da sie mit nationalistischen Vorstellungen verbunden sind. Das bedeutet, dass es in vielen Fällen noch nicht einmal möglich ist, über das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung zu sprechen und zu diskutieren. Befürworter*innen eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung werden als Verräter*innen oder Terrorist*innen bezeichnet. Doch in internationalen Verträgen, die die Türkei unterzeichnet hat, ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung bereits anerkannt. Diese Verträge regeln jedoch nicht die innerstaatliche Gesetzgebung, was zahlreiche Rechtsverletzungen zur Folge hat.

Dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei nicht anerkannt wird, hängt eng mit dem Nationalismus zusammen. Daher zögern auch die meisten Oppositionsparteien, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht anzusehen.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird heute als grundlegendes Menschenrecht anerkannt. Die Organe des Europarates haben dies in einer Reihe von Entscheidungen und Empfehlungen festgestellt. Internationale Übereinkommen, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention, die die Türkei ratifiziert hat, haben laut Artikel 90 der Verfassung einen höheren Rang als die eigenen Gesetze und die eigene Verfassung und erkennen die Kriegsdienstverweigerung an. Ist die Türkei nicht verpflichtet, dieses Recht anzuerkennen? Lehnt die Türkei die Kriegsdienstverweigerung absolut ab?

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Artikel 9 die „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ garantiert, wie es auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte in Artikel 18 vorsieht. Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind die Werte, die mit den Worten „Denken“, „Religion“ und „Gewissen“ ausgedrückt werden, ernsthafte und starke Überzeugungen mit einem gewissen Maß an Integrität, und damit genau wie religiöse, philosophische und ideologische Überzeugungen ein Bestandteil der ideellen und gedanklichen Innenwelt einer Person. Der Schutzumfang des Rechts, der in den Abkommen abstrakt definiert ist, wird durch die Auslegungen der Vertragsorgane bestimmt. Beispielsweise wurde der Umfang des in der Europäischen Menschenrechtskonvention geregelten Rechts mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Bayatyan im Jahr 2011 konkret. In der Entscheidung zu Armenien wurde akzeptiert, dass sich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus der in Artikel 9 des Vertrags festgelegten Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit ergibt. Nach dieser Entscheidung hat das Gericht infolge der Beschwerden von Mehmet Tarhan, Halil Savda, Yunus Erçep und Feti Demirtaş gegen die Türkei verfügt, die Ablehnung der Kriegsdienstverweigerung der Kläger stelle eine Verletzung von Artikel 9 dar. Das Gericht entschied auch, dass die Tatsache, dass Kriegsdienstverweigerer endlosen Gerichtsverfahren unterzogen wurden, einen Verstoß gegen das in Artikel 3 der Konvention festgelegte „Verbot unmenschlicher Bestrafung und Behandlung“ darstellt.

Gemäß Artikel 90 der Verfassung stehen die oben genannten Vertragsbestimmungen über den Gesetzen (der Türkei). Wenn die Gesetze gegen diese Rechte im Vertrag verstoßen, sollte die Bestimmung des Gesetzes nicht angewendet werden. Eine Auslegung sollte im Sinne des Vertrages erfolgen. Das heißt, die im internationalen Recht anerkannte Kriegsdienstverweigerung muss auch türkischen Staatsbürgern gewährt werden. Aber da die Republik Türkei es versäumt eine gesetzliche Regelung zur Ausübung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung zu erlassen, wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung kontinuierlich verletzt.

Der Verein für Kriegsdienstverweigerung hat angekündigt, ab 2020 eine Dokumentation zu erstellen, anhand welcher festgehalten werden soll, in welcher Weise Kriegsdienstverweigerer und Wehrflüchtige in der Türkei Menschenrechtsverletzungen unterliegen. Können Sie mehr Informationen zu diesem Vorhaben geben?

Im Rahmen dieser Studie haben wir begonnen, Verstöße gegen Kriegsdienstverweigerer, Wehrflüchtige, Deserteure und Berufssoldaten, die von ihrem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch machen wollen, zu erfassen und zu dokumentieren. Wir werden am Ende einen Bericht darüber erstellen, um die erhaltenen Daten sowohl an Kriegsdienstverweigerer, an diejenigen, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklären möchten, als auch an die Zivilgesellschaft und den Gesetzgeber weiterzugeben.

Idem wir die im Zusammenhang mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung begangenen und unsichtbaren Rechtsverletzungen und den sogenannten Zivilen Tod, dem die Kriegsdienstverweigerer unterworfen sind, sichtbar machen, wollen wir die Akzeptanz für die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht schaffen. In diesem Zusammenhang wünschen wir uns, dass Kriegsdienstverweigerer, Wehrflüchtige, Deserteure und Berufssoldaten das auf unserer Webseite (www.vicdaniret.org) befindliche „Formular zu Verstößen gegen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung“ ausfüllen.

Interview mit Merve Arkun: „Her vicdani retçinin birbirinden farklı motivasyonları var“, Demokrat Haber, 11. März 2020. Übersetzung: omü. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2020

Stichworte:    ⇒ Kriegsdienstverweigerer berichten   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Menschenrechte   ⇒ Türkei