Shahar Peretz und Daniel Peldi. Foto: Oren Ziv

Shahar Peretz und Daniel Peldi. Foto: Oren Ziv

Israel: Sechzig Teenager erklären ihre Kriegsdienstverweigerung

„Wir übernehmen Verantwortung“

von Oren Ziv

(06.01.2021) 60 israelische Teenager veröffentlichten am Dienstag morgen einen offenen Brief an hochrangige israelische Regierungsmitglieder, mit dem sie aus Protest gegen die Politik der Besatzung und Apartheid erklären, dass sie den Dienst in der Armee verweigern.

Der Brief der Shministim (Abiturient*innen) verurteilt die israelische militärische Kontrolle der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten und bezeichnet das Regime in der West Bank, im Gazastreifen und dem Ostem Jerusalems als ein System der Apartheid, das „zwei verschiedene Rechtssysteme mit sich bringt, eines für die Palästinenser*innen und ein anderes für Jüd*innen“.

„Es ist unsere Pflicht, dieser zerstörerischen Realität entgegenzutreten, indem wir unsere Kämpfe vereinen und uns weigern, diesem gewalttätigen System zu dienen, an dessen Spitze das Militär steht“, heißt es in dem Brief, der an den Verteidigungsminister Benny Gantz, dem Bildungsminister Yoav Galant und dem Generalstabschef Aviv Kochavi gerichtet ist.

„Unsere Weigerung, zum Militär zu gehen, ist kein Akt, mit dem wir der israelischen Gesellschaft den Rücken kehren“, fährt der Brief fort. „Im Gegenteil, unsere Weigerung ist ein Akt, um Verantwortung zu übernehmen über unsere Handlungen und ihre Auswirkungen. Zur Armee zu gehen ist wie die Verweigerung eine politische Handlung. Welchen Sinn hätte es, zunächst Teil eines Systems zur Unterdrückung zu werden, wenn wir doch gegen systemische Gewalt und Rassismus aktiv werden wollen?“

Der öffentliche Verweigerungsbrief ist der erste seiner Art, der nicht nur die Besatzung thematisiert, sondern sich auch mit der Vertreibung der Palästinenser*innen während des Krieges 1948, der Nakba, befasst: „Uns wird befohlen, die blutbefleckte Militäruniform anzuziehen und das Erbe der Nakba und der Besatzung zu bewahren. Die israelische Gesellschaft wurde auf diesen faulen Wurzeln aufgebaut und das zeigt sich in allen Facetten des Lebens: Im Rassismus, einem hasserfüllten politischen Diskurs, der Brutalität der Polizei und vieles mehr.“

In dem Brief wird weiter der Zusammenhang zwischen der neoliberalen Politik und Militärpolitik Israels betont: “Während die Bürger der besetzten palästinensischen Gebiete verarmt sind, werden wohlhabende Eliten auf ihre Kosten reicher. Palästinensische Arbeiter*innen werden systematisch ausgebeutet und die Waffenindustrie nutzt die besetzten palästinensischen Gebiete als Testgelände und als Schaufenster, um ihre Verkäufe zu steigern. Mit der Aufrechterhaltung der Besatzung handelt die Regierung gegen unsere Interessen als Bürger – große Teile der Steuereinnahmen fließt in die Sicherheitsindustrie und die Entwicklung der Siedlungen statt in die Wohlfahrt, Ausbildung und das Gesundheitssystem.“

Einige der Unterzeichnenden werden voraussichtlich vor dem Gewissenskomitee des Militärs stehen und ins Militärgefängnis gesteckt werden. Andere haben Wege gefunden, die Ableistung des Militärdienstes zu vermeiden. Unter den Unterzeichnenden ist auch Hallel Rabin, die nach 56 Tagen Haft im November 2020 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Eine Reihe der Unterzeichnenden hatte im Juni letzten Jahres auch einen Brief unterschrieben, mit dem sie forderten, dass Israel die Annexion der Westbank stoppen solle.

“Wen schützen wir eigentlich?”

In Israel wurden eine Reihe von solchen Verweigerungsbriefen veröffentlicht, seit Israel 1967 die Kontrolle in den besetzten Gebieten übernahm. Während sie sich über Jahrzehnte vorwiegend auf die Verweigerung des Dienstes in den bewaffneten Gebieten bezogen, gab es bei den letzten beiden Shministim-Briefe aus den Jahren 2001 und 2005 Unterzeichnende, die jeden Dienst in der Armee ablehnten.

„Realität ist, dass die Armee täglich Kriegsverbrechen begeht – das ist eine Realität, die ich nicht mittragen kann. Ich muss so laut ich kann hinausschreien, dass die Besatzung niemals zu rechtfertigen ist“, sagt der 16-jährige Neve Shabtai Levin aus Hod Hasharon. Levin, der derzeit in der 11. Klasse ist, plant nach dem Schulabschluss zu verweigern, auch wenn dies bedeutet ins Gefängnis zu gehen.

„Über meinen Wunsch, nicht in die Armee zu gehen, habe ich seit meinem achten Lebensjahr nachgedacht“, fährt Levin fort. „Ich wusste bis letztes Jahr nicht, dass es die Möglichkeit der Verweigerung gibt. Erst da sprach ich mit Leuten darüber, die nicht hingehen wollten. Sie fragten mich, ob ich vorhabe zu verweigern. Dann fing ich an zu recherchieren und so bin ich zu dem Brief gekommen.“

Levin ergänzt, dass er den Brief unterschrieben hat, „weil ich glaube, dass er gut tun kann und hoffentlich Teenager wie mich erreicht, die nicht zur Armee gehen wollen und nicht über die Möglichkeiten Bescheid wissen oder keine Fragen dazu stellen.“

Die 18-jährige Shahar Peretz aus Kfar Yona plant, diesen Sommer zu verweigern. „Für mich richtet sich der Brief an Teenager“, sagt sie, „die dieses oder in einem anderen Jahr zur Armee gehen oder die bereits in der Armee sind. Es geht darum, diejenigen zu erreichen, die jetzt Uniform tragen und tatsächlich vor Ort sind, um die Besatzung gegenüber der zivilen Bevölkerung durchzusetzen. So kann ihnen ein Spiegel vorgehalten werden, der sie dazu bringt, Fragen zu stellen wie ‚Wem diene ich hier? Was ist das Ergebnis meiner Entscheidung zur Armee zu gehen? Welchen Interessen diene ich hier? Wen schützen wir eigentlich, wenn wir Uniformen und Waffen tragen und Palästinenser*innen an Checkpoints festhalten, in Häuser eindringen oder Kinder verhaften?‘“

Peretz erinnert sich an ihre eigenen Erfahrungen, die ihr Denken zur Einberufung verändert haben. „(Meine) Begegnung mit Palästinenser*innen in Sommerlagern war das erste Mal, dass ich persönlich und menschlich der Besatzung ausgesetzt war. Nachdem ich sie getroffen hatte, wurde mir klar, dass die Armee einen großen Teil dieser Gleichung ausmacht, da sie Einfluss auf das Leben der Palästinenser*innen unter israelischer Herrschaft hat. Dies hat mich dazu gebracht, dass ich nicht mehr bereit bin, direkt oder indirekt an der Besatzung von Millionen von Menschen teilzunehmen.“

Die 19-jährige Yael Amber aus Hod Hasharon ist sich der Schwierigkeiten bewusst, denen ihre Mitunterzeichnenden ausgesetzt sein könnten. „Der Brief ist keine persönliche Kritik von 18-jährigen Jungen und Mädchen zur Einberufung. Sich dem Dienst zu verweigern ist sehr kompliziert. Und in vielerlei Hinsicht ist es ein Privileg. Der Brief ist ein Aufruf an junge Menschen vor der Einberufung zu handeln, aber er ist vor allem eine Aufforderung an (junge Menschen) einen kritischen Blick auf das System zu werfen, das verlangt, dass wir uns an unmoralischen Handlungen gegenüber anderen Menschen beteiligen.“

Amber, die ausgemustert wurde, lebt heute in Jerusalem und arbeitet als Freiwillige in einem Zivildienst. „Ich habe einige Freund*innen, die sich der Besatzung widersetzen, die sich als Linke definieren und nach wie vor Dienst in der Armee leisten. Dies ist keine Kritik an Menschen, sondern an einem System, das 18-jährige in solch eine Position bringt, in der ihnen nicht viele Möglichkeiten bleiben.“

Während Kriegsdienstverweigerung in der Vergangenheit als Entscheidung verstanden wurde, ins Gefängnis zu gehen, betonen die Unterzeichnenden, dass es verschiedene Methoden gibt, zu verweigern und dass auch die Vermeidung der Ableistung als eine Form der Verweigerung angesehen werden kann. „Wir verstehen, dass das Gefängnis ein Preis ist, den nicht jeder und jede zahlen darf, sowohl auf materieller Ebene als auch in Bezug auf die Zeit und die Kritik durch das Umfeld“, sagt Amber.

„Teil des Erbes der Nakba“

Die Unterzeichnenden hoffen, dass die politische Atmosphäre, die in den letzten Monaten durch die landesweiten Anti-Netanyahu-Proteste entstanden ist, es möglich macht, auch über die Besatzung zu reden. Die Proteste sind als „Balfour-Protest“ bekannt geworden, da sie in der gleichnamigen Straße der Residenz des Premierministers in Jerusalem stattfinden.

„Es ist ein guter Zeitpunkt“, sagt Amber. „Wir haben die Zusammenhänge von Balfour, der Beginn von Veränderungen, und diese Generation beweist ihr politisches Potential. Wir haben im Zusammenhang mit dem Brief viel darüber nachgedacht, dass es eine Gruppe gibt, die sich sehr für Politik interessiert. Aber können wir sie dazu bringen, auch über die Besatzung nachzudenken?“

Auch Levin glaubt, dass es möglich ist, junge Israelis anzusprechen, insbesondere diejenigen, die an den Anti-Bibi-Protesten teilnehmen. „Bei all dem Gerede über Korruption und die soziale Struktur des Landes dürfen wir nicht vergessen, dass die Grundlagen hier verrottet sind. Viele sagen, dass der Militärdienst ein wichtiger Prozess ist, den Israelis durchlaufen, damit sie sich als Teil des Landes fühlen und ihren Beitrag leisten. Aber in Wirklichkeit ist es nichts von dem. Die Armee zwingt 18-jährige dazu Kriegsverbrechen zu begehen. Die Armee bringt die Leute dazu, die Palästinenser*innen als Feinde anzusehen, als ein Ziel, das geschädigt werden sollte.“

Wie die Schüler*innen in dem Brief betonen, wollen sie mit der Verweigerung ihre Verantwortung gegenüber den israelischen Mitmenschen im Land wahrnehmen, statt sich von ihnen zu distanzieren. „Es ist viel bequemer, nicht an die Besatzung und die Palästinenser*innen zu denken“, sagt Amber. „(Aber) einen Brief zu schreiben und diese Art von Diskurs anzustoßen ist ein Dienst für die Gesellschaft. Wenn ich anders sein wollte oder es mir egal wäre, würde ich mich nicht dafür entscheiden, an die Öffentlichkeit zu gehen und mich einer Menge Kritik auszusetzen. Wir alle zahlen einen bestimmten Preis, weil es uns wichtig ist.“

„Es ist ein Aktivismus, der von einem Ort der Solidarität ausgeht“, wiederholt der 18-jährige Daniel Paldi, der vor das Gewissenskomitee der Armee gehen will. „Auch wenn der Brief in erster Linie ein Protest gegen die Besatzung, gegen Rassismus und Militarismus ist, ist er allgemein verständlich. Wir möchten die Verweigerung aus der Tabuzone herausholen.“ Paldi merkt an, dass er bereit ist, ins Gefängnis zu gehen, wenn das Komitee seinen Antrag ablehnt.

“Wir haben versucht, keine Seite zu dämonisieren, auch nicht die Soldat*innen, die trotz der ganzen Absurdität unsere Freunde oder Menschen in unserem Alter sind“, merkt er an. „Wir glauben, dass der erste Schritt in einem Prozess die Anerkennung der Themen ist, die in der israelischen Gesellschaft nicht diskutiert werden.“

Die Unterzeichnenden des letztes Shministim-Briefes unterschieden sich von früheren Briefen darin, dass sie eines der heikelsten Themen der israelischen Geschichte aufgreifen: Die Vertreibung und Flucht der Palästinenser*innen während der Nakba 1948: „Die Botschaft des Briefes ist, die Verantwortung für die Ungerechtigkeiten zu übernehmen, die wir begangen haben und über die Nakba und ein Ende der Besatzung zu sprechen“, sagt Shabtai Levy. „Es ist eine Diskussion, die aus der Öffentlichkeit verschwunden ist und wiederkommen muss.“

„Es ist unmöglich, über ein Friedensabkommen zu sprechen, ohne zu verstehen, dass dies alles ein direktes Ergebnis von 1948 ist“, fährt Levy fort. „Die Besatzung von 1967 ist Teil des Erbes der Nakba. Es ist alles Teil des gleichen Zustandes der Besatzung, es sind keine unterschiedlichen Dinge.“

In Ergänzung dazu fügt Paldi hinzu: “Solange wir die Seite der Besatzung sind, dürfen wir nicht bestimmen, was Besatzung ausmacht oder nicht oder ob sie 1967 begann. In Israel ist Sprache politisch. Das Verbot „Nakba“ auszusprechen, bezieht sich nicht auf das Wort selbst, sondern vielmehr auf die Auslöschung der Geschichte, der Trauer und des Schmerzes.“

Oren Ziv: ‘We’re taking responsibility’: Sixty teens announce refusal to serve in Israeli army. 6. Januar 2021. https://www.972mag.com/sixty-teens-israeli-army-objectors/

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