Aktion am 31.10.2020. www.yairgil.com

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Kriegsdienstverweigerung: Eine unbequeme Wahrheit für Israel

von Yossi Mekelberg

(14.09.2021) Die Kriegsdienstverweigerung ist kein neues Phänomen. Sie wurde bereits im 3. Jahrhundert erstmals erwähnt, als Maximilian von Numidien sich aus religiösen Gründen weigerte, in die römische Armee einzutreten. Die Römer*innen, die gerade dabei waren, das heutige Ostalgerien zu besetzen und zu annektieren, zeigten wenig Verständnis für seinen Widerstand gegen die Anwendung von Gewalt und ließen ihn hinrichten.

Im Laufe der Jahre hat die Menschheit jedoch mehr Verständnis für Ansichten wie die von Maximilian entwickelt, und gegen Ende des letzten Jahrhunderts erkannten die Vereinten Nationen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung an, das sich aus dem Recht auf Gedanken-, Religions- und Gewissensfreiheit ableitet, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist. Menschen verweigern den Dienst mit Waffen, wenn der Militärdienst mit ihrem Wertesystem kollidiert, unabhängig davon, ob dieses aus religiösen oder säkularen Überzeugungen resultiert und in der rechten oder linken Politik verankert sein mag.

In Anbetracht der ständigen Verstrickung Israels in Kriege und Konflikte ist es nicht überraschend, dass das Phänomen der Kriegsdienstverweigerung dort Wurzeln geschlagen hat und dass die Zahl der Verwei­ger*innen in dem Maße gestiegen ist, wie das Land immer mehr in „selbstgewählte Kriege“ und unterdrückerische Besatzung statt in Selbstverteidigung verwickelt wurde.

Die steigende Zahl derjenigen, die sich weigern, zum Militär zu gehen, ist eine unterdrückte und verschwiegene Realität in Israel. Es ist eine unbequeme Wahrheit für das Land, das den Militärdienst heilig spricht und als wichtigen Gestalter nationaler Identität die Idee verbreitet, dass man zur Verteidigung des Landes bereit sein muss, das ultimative Opfer zu bringen. Wann immer es möglich ist, verschließen die Behörden die Augen vor den Verweiger*innen, um die negative Öffentlichkeit zu vermeiden, die mit diesem Thema verbunden ist.

Die Verweiger*innen haben unterschiedliche Gründe für ihr Handeln. Einige verweigern jede Form des Pflichtdienstes, andere sind Reservisten, und wieder andere sind wählerisch, welche Aufgaben und Einsätze sie übernehmen wollen. Zur letzten Gruppe gehören diejenigen, die illegale Siedler im Westjordanland unterstützen und sich weigern sich ihnen entgegenzustellen.

Anfang dieses Jahres unterzeichnete eine Gruppe von 60 Oberstufen­schüler*innen, die kurz vor der gesetzlichen Verpflichtung zum Dienst in den Streitkräften standen, einen Brief an den damaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den Generalstabschef der israelischen Streitkräfte (IDF), in dem sie ihre prinzipiellen Einwände gegen den Eintritt in die Streitkräfte darlegten. Eloquent beklagten sie, was aus der IDF geworden ist, und argumentierten, dass es heutzutage in Anbetracht der Aufgaben, die von Soldat*innen verlangt werden, ein ebenso politischer Akt sei, der Armee beizutreten, wie den Dienst zu verweigern.

Unabhängig davon, ob man mit der Haltung dieser jungen Männer und Frauen einverstanden ist oder nicht, verdienen sie großen Respekt für ihre Nachdenklichkeit und ihren klaren Verstand sowie dafür, dass sie die moralische Erosion ihres Landes infolge der Besetzung palästinensischen Landes beklagen. Sie tun dies in dem Bewusstsein, dass ihre Haltung mit mehreren Gefängnisstrafen unbekannter Länge enden wird, weil sie den völlig willkürlichen Entscheidungen der Militärgerichte ausgeliefert sind, die zusammen mit vielen Teilen der israelischen Gesellschaft darauf bedacht sind, schwere Strafen zu verhängen und an den Verweiger*innen ein Exempel zu statuieren.

Das Problem ist jedoch sehr komplex. Abgesehen von der Tatsache, dass es weit mehr junge Israelis gibt, die gerne den Dienst in der Armee antreten und oft an vorderster Front kämpfen, als die israelischen Kriegsdienstverweiger*innen, gibt es doch konkrete Bedrohungen für das Land durch den Iran, die Hisbollah und andere radikale islamistische Bewegungen, die zum Teil von den Palästinenser*innen ausgehen.

Dies stellt die verweigernden Oberstufenschüler*innen vor ein echtes Dilemma, seit 1970 der erste Brief der oben beschriebenen Art an den israelischen Premierminister geschickt wurde. Obwohl einige von ihnen jede Art von Militärdienst ablehnen - sie vertreten einen legitimen pazifistischen Ansatz - ist für die meisten das Kernproblem nicht der Krieg an sich, sondern das palästinensische Problem. Diese jungen Menschen sind fest entschlossen, sich nicht an den täglichen Demütigungen und Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser*innen zu beteiligen. Sie lehnen es ab, zum Schutz von Siedler*innen und Siedlungen eingesetzt und damit zum Werkzeug einer israelischen Regierung zu werden, die verhindern will, dass ein unabhängiger palästinensischer Staat das Licht der Welt erblickt.

Ihre Abwesenheit vom Militärdienst schafft jedoch ein weiteres moralisches Dilemma: Sie überlässt die Palästinenser*innen an Kontrollpunkten, bei Verhaftungen oder anderen Begegnungen mit israelischen Sicherheitskräften der Gnade von Soldat*innen, die sich vielleicht weniger um die Achtung der Menschenrechte anderer kümmern als sie selbst. Wenn man jedoch der Meinung ist, dass die Quelle des Übels die Besatzung selbst ist, dann ist jede Art der Beteiligung an ihr falsch und ihre Milderung wird zu einem Rezept für ihre Verlängerung.

Die Bewegung der Kriegsdienstverweiger*innen in Israel ist seit ihrem Entstehen vor 50 Jahren erheblich gewachsen, und ihre Botschaften sind mutiger geworden. Von der grundsätzlichen Verweigerung des Dienstes hat sich eine neue Generation herausgebildet, die selbstbe­wusster als die vorige ist und weniger Angst vor den Militärbehörden oder vor sozialen Sanktionen hat.

Seit den 1980er Jahren hat die Entwicklung dieser Bewegung an Dynamik gewonnen und ist stärker institutionalisiert. Meiner Meinung nach hängt dies eng mit drei Entwicklungen zusammen:

Erstens hat das Friedensabkommen mit Ägypten deutlich gemacht, dass eine flexiblere israelische Politik bessere Aussichten auf Frieden und Sicherheit hat als eine Konzentration auf militärische Macht.

An zweiter Stelle steht der Libanonkrieg von 1982, der das erste eindeutige Beispiel für einen „selbstgewählten Krieg“ war, der sich in die inneren Angelegenheiten eines Nachbarlandes einmischte und diesem unermessliche Zerstörungen zufügte, ganz zu schweigen von den hohen Kosten, die Israel selbst durch den Verlust von Menschenleben und die angespannten Beziehungen zu Freund*innen und Feind*innen verursachte, ohne dass es daraus einen strategischen Nutzen zog. Dies führte im selben Jahr zur Gründung der Bewegung Yesh Gvul (Es gibt eine Grenze), die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Verweiger*innen und grundsätzliche Kriegsdienstverweiger*innen zu unterstützen.

Das dritte Ereignis war die erste Intifada, als Tausende von israelischen Soldat*innen, Wehrpflichtige und Reservist*innen, ausgebildet für den Einsatz in den regulären Streitkräften, vor allem mit Zivilist*innen zusammenstießen und diese unterdrückten, obwohl deren Forderung nach einem Ende der israelischen Besatzung bei vielen dieser Soldat*innen auf Resonanz stieß.

Yossi Mekelberg: Conscientious objectors - An unconvenient truth for Israel. In: Arab News, 14. September 2021. Übersetzung: Rudi Friedrich. https://arab.news/nm3dt. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2021

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