„Militärdienst steht in völligem Widerspruch zu meinen Überzeugungen“
Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung
(25.08.2019) Mit der folgenden Stellungnahme will ich die Gründe für meine Kriegsdienstverweigerung erläutern:
Ich heiße Beran Mehmet İşci und bin im Oktober 1996 in der Stadt Bursa in der Türkei geboren.
Meine Mutter ist die Tochter von Ali İşci, einem der Gründer der TKP/ML1. Ein weiterer Gründer ist der Bruder meiner Mutter Baki İşci. Er lebt jetzt in Deutschland. Ein weiterer Onkel von mir, Savasa İşci, wurde wegen Mitgliedschaft in der TDKP2 angeklagt und ist nun deutscher Staatsangehöriger. Meine Mutter wurde 1995 unter dem Vorwurf verhaftet und zeitweise in Untersuchungshaft genommen, Teil der TKP/ML zu sein. Sie wurde aber nicht verurteilt. Sie lebt nach wie vor in Bursa.
Kurz nach meiner Geburt haben sich meine Eltern getrennt. Deshalb habe ich keine Informationen über meinen Vater. Ich habe ihn auch nie kennengelernt.
Da meine Vorfahren bereits 1938 in Dersim aktiv im Widerstand waren, wurde meine Familie zwangsweise umgesiedelt. Im Rahmen dieser Zwangsumsiedlung wurden sie in verschiedene Städte in der Türkei verteilt. Damals waren hunderte von Familien von dieser Zwangsumsiedlung betroffen. Bis heute stehen die Familien unter erhöhter Aufmerksamkeit der Behörden. Meine alevitisch-kurdische Identität war so von Kindheit an von Repressalien geprägt.
Trotz der Repressalien haben mich schon in jungen Jahren Themen im Spannungsverhältnis von sozialer Umwelt, Gesellschaft und Staat interessiert. Seit dem Besuch der Realschule haben mich auch Informationen über die sozialistische Geschichte in der Türkei und auf der ganzen Welt interessiert. Parallel dazu habe ich versucht, grundsätzliche ideologische Zusammenhänge zu erfassen und Erfahrungen zu sammeln. Sowohl meine Mutter, wie auch meine Familie, waren sehr positiv überrascht über mein politisches Interesse.
Mit der Idee, einen sozialistischen Staat erreichen zu können, habe ich mich entsprechenden Organisationen zugewandt. Eine solche persönliche Entwicklung wurde zwar von meinem eigenen sozialen Umfeld erwartet, aber es war auch meine persönliche Entscheidung. Es war daher für mich auch selbstverständlich. So begann ich mich bereits in meiner Realschulzeit zu wichtigen Daten an Aktionen und Demonstrationen zu beteiligen: 30. März (Todestag eines linken Märtyrers), 1. Mai (Tag der Arbeit), 6. Mai (Vollstreckung des Todesurteils gegen Deniz Gezmiş), 2. Juli (Massaker in Sivas) oder 12. September (Putsch 1980).
Bei diesen Gelegenheiten lernte ich die Emek Partisi (EMEP) kennen, die ähnliche Positionen vertrat wie die TDKP. EMEP hatte in den 90er Jahren versucht, eine offiziell anerkannt Partei aufzubauen. Sie setzt sich für die Arbeiterklasse ein und vertritt eine sozialistische Ideologie. Sie setzt sich auch ein für Basisdemokratie und revolutionäre Ziele. Da ja auch mein Onkel aus dieser Strömung kam, habe ich mich mit großer Freude und großem Engagement in der Partei eingebracht.
In der Realschule war ich für die Jugendorganisation der EMEK einmal bei einer Veranstaltung und lernte dort den Ortsvorstand der Partei kennen. Da ich in dem Jahr auf das Gymnasium wechseln sollte, beschloss der Vorstand, dass ich für die Jugendorganisation der EMEK im Gymnasium als Sprecher fungieren solle. Mit meiner Überzeugung als Sozialist habe ich diese Entscheidung angenommen und mich sehr schnell in dieser Rolle eingebracht. In den Sommerferien, die etwa drei Monate andauern, verbrachte ich fast meine gesamte Zeit bei der Partei. Ich versuchte, mich über die anderen Jugendorganisationen zu informieren und setzte mich für die Organisation in der Schule ein.
Während meiner Zeit im Gymnasium habe ich mich mit jugendlichem Elan und sicher auch mit einer gewissen Portion Naivität für diese Aktivitäten eingesetzt. Über die Arbeit in meiner Partei hinaus habe ich mich auch an verschiedenen antifaschistischen Plattformen in der Türkei beteiligt. Auf den Plattformen haben sich Organisationen aus den verschiedensten Ecken der Türkei getroffen, um gemeinsame Projekte voranzutreiben.
So war ich sehr viel für die politische Bildung unterwegs. Das hatte zur Folge, dass ich hohe Fehlzeiten in der Schule hatte und sitzengeblieben bin.
Am 15. April 2012 nahm ich für die Jugendorganisation der EMEK an einer Konferenz in Ankara teil. Wir waren zu zweit aus Bursa hingefahren. Nachdem wir am 20. April 2012 nach Bursa zurückgekommen waren, verließ ich morgens das Haus, um in die Schule zu gehen. Hinter mir liefen zwei Männer. Sie fragten mich, wie man ins Zentrum gelangen könne. Ich sagte ihnen, sie könnten mit dem gleichen Bus fahren, in den ich einsteige, was sie auch taten. Als ich an meiner Haltestelle aussteigen wollte, sprach mich einer dieser beiden Männer mit meinem Namen an. Ich drehte mich zu ihm um, um zu schauen, warum er meinen Namen kannte. Da fragte er mich, ob wir uns kurz unterhalten könnten. Sie zeigten mir sehr kurz einen Ausweis, wohl einen Polizeiausweis, den ich aber in der Schnelle nicht lesen konnte.
Zu der Zeit stand das Verfahren gegen meinen Onkel Savasal İşci kurz vor der Einstellung. Ich dachte daher, dass sie mich wohl deswegen befragen wollten. Schon zuvor waren immer wieder Angehörige der Antiterroreinheiten zu uns gekommen und hatten nach meinem Onkel gefragt.
Sie fragten jedoch nach der Konferenz in Ankara. Sie wollten wissen, mit wem ich hingegangen bin, wen ich getroffen habe, wer die Reise finanziert hat, ob ich einen XY kenne usw. Als ich zögerte, diese Fragen zu beantworten, versuchten sie mich psychisch unter Druck zu setzen. Sie wussten von meinen Fehlzeiten in der Schule, warum ich so oft gefehlt hatte, warum unsere Wohnung keine Außengitter hat. Das teilten sie mir beiläufig in ihren Fragen mit, auch weitere Informationen aus meinem sozialen Umfeld. Sie wollten klar signalisieren, dass sie mich beobachten und mich kennen. Schließlich schrieben sie meine Handynummer auf und sagten, dass sie mich abends noch einmal treffen würden, um mit mir zu reden.
Mir wurde klar, dass sie zu mir gekommen waren, weil ich mit meinem Familienhintergrund in der Partei nicht verdächtig sein würde. Sie versuchten ganz offensichtlich, mich als Spitzel zu gewinnen. Selbstverständlich wollte ich ihnen die Informationen nicht liefern. Aber ich hatte Angst, ich war unruhig und realisierte, dass ich verfolgt wurde.
Am 27. April 2012 klingelte nach Schulende das Telefon. Ich ging ran. Um mich nicht bloßzustellen, sagte mir einer der Männer, wir hätten uns doch im Bus getroffen und uns unterhalten. Sie wollten sich wieder mit mir treffen. Ich sagte ihnen, dass ich mich nicht mit ihnen treffen wollte: „Lasst mich in Ruhe!“ Sie sagten, „ist gut“, und legten auf.
Wenige Tage später, am 1. Mai, habe ich an der Demonstration zum Tag der Arbeit teilgenommen und dabei laut Slogans skandiert. Ich war ganz vorne dran und habe mich sehr auffällig verhalten. Am nächsten Tag kamen mir diese zwei Polizisten entgegen. Sie drängten mich in eine Ecke. Ihr erster Satz war: „Gestern bei der Aktion warst du ja sehr feurig“. Ich ließ mich aber nicht einschüchtern, trat ihnen selbstbewusst gegenüber. Sie zeigten sich irritiert, stellten dann gezielt Fragen zu meinem privaten Umfeld. Sie sagten z.B., weißt Du, dass Deine Mutter auch in Untersuchungshaft war; weißt Du, dass Du durch solche Aktivitäten Deine Schulkarriere beenden wirst. Aber sie konnten meinen Widerstand nicht brechen. Schließlich sagten sie, wir würden uns wiedersehen und sind gegangen.
Danach wandte ich mich an den Ortsvorstand der Partei und berichtete über diese Ereignisse. Am 11. Mai 2012 wurde daraufhin durch einen Rechtsanwalt eine Presseerklärung abgegeben. Da ich damals minderjährig war, legte meine Mutter für mich Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein. Danach bin ich zwar den beiden Polizisten nicht wieder begegnet, wusste aber, dass sie mich weiterhin beobachten.
Eines Tages rief mich der Direktor der Schule zu sich und teilte mir mit, dass er von der Presseerklärung wisse. Ich solle mich in Acht nehmen. An diesem Punkt habe ich mich innerlich von der Schule verabschiedet. Ich blieb erneut sitzen und damit war meine aktive Schulzeit beendet.
Nach der Presseerklärung haben sich auch Parteimitglieder mir gegenüber nicht mehr offen verhalten, sie haben mir misstraut. Auch meine Jugendgruppe äußerte Zweifel an mir und war sehr vorsichtig im Umgang mit mir. Wenn ich kam, haben sie das Thema gewechselt. Sie haben sich mir gegenüber nicht mehr offen geäußert. Das ganze Umfeld war mir gegenüber unfreundlich. Das warf die Frage bei mir auf, ob die Linke eigentlich stabil genug ist, mit solchen Situationen umzugehen. Viele haben sich gegenseitig vorgeworfen, Verrat begangen zu haben. Und nun war ich plötzlich Teil davon. Ich fühlte mich nicht mehr aufgehoben bei der türkischen Linken. Sie war mir nicht mehr sympathisch. Ich begann, mich bei Aktionen, Plattformen und anderen Gelegenheiten, bei denen ich beobachtet werden konnte, zurückzuhalten. Mir wurde klar, dass weitere Probleme folgen würden.
Ich beschloss zunächst, meinen Lebensunterhalt selber zu bestreiten, indem ich bei einem Logistikbetrieb anfing zu arbeiten. Und ich entschloss mich, das Gymnasium als Fernschule weiterzuführen.
Im Juni 2013, es war die Zeit der Gezi-Park-Aktionen, bin ich auf die HDP3 und die Kurdenbewegung aufmerksam geworden. Ich entschloss mich, meine Identität als Minderheit in die Partei mit einzubringen. Während meiner Aktivitäten in der HDP traf ich viele Menschen, mit denen ich schon vorher politisch aktiv gewesen war. Das ermöglichte mir, mich schnell in der Partei engagieren zu können. So wurde ich Bestandteil der politischen Aktivitäten der kurdischen Bewegung.
Für mich war klar, wenn man an die Fragen anders herangeht, könnten wir größere Erfolge erreichen. In den bisherigen Organisationen hatte ich ja erlebt, dass deren Methoden, gegen das türkische System Widerstand zu leisten, keinen Erfolg haben können. Es gab immer die Vorstellung davon, mit Waffengewalt eine Revolution herbeizuführen. Aber schon aus historischen Gründen, aufgrund der hohen Militarisierung der Türkei, ist es fast ausgeschlossen, mit Waffengewalt gegen diesen Staat anzukommen. Und selbst bei Friedensverhandlungen würde doch der Widerstand nicht wirklich Ernst genommen werden.
Darüber hinaus wurde mir aufgrund der Ereignisse in Cizre und über die Gezi-Proteste auch etwas anderes klar. Wenn wir mit der gleichen Härte, mit der gleichen Gewalt gegen den Staat vorgehen, wie der Staat z.B. in Cizre vorgegangen ist, was würde uns dann noch von ihm unterscheiden? Wir würden ähnliche Gewalt ausüben, es gäbe gar keinen Unterschied mehr zwischen denen und uns. Und: Gewalt produziert Gegengewalt, die auf einen selbst zurückschlägt.
Die Wahlen am 7. Juni 2015 waren für die Kurden ein Novum. Die HDP überwand zum ersten Mal die 10%-Hürde. Es war auch ein Novum, weil zum ersten Mal die kurdische Bevölkerung als eigene Gruppe zu den Wahlen gegangen ist und damit deutlich gemacht hat, dass sie als politische Kraft da sind. Aufgrund des Wahlergebnisses konnte keine Regierung gebildet werden. Erdoğan konnte daher, obwohl er es doch zuvor propagiert hatte, nicht Präsident werden. Die AKP hätte eine Koalition bilden müssen. Falls das bis Oktober nicht geschah, müsste erneut gewählt werden.
In dieser Situation hat Erdoğan das Volk gegen die HDP und dessen Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş aufgebracht. Er provozierte die bewaffneten kurdischen Einheiten. Mit nationalistischer Propaganda wollte er allein regieren.
Um diesen Plan realisieren zu können, benutzte er ein Ereignis am 20. Juli 2015 in der Kreisstadt Suruç in der Provinz Şanlıurfa. Eine Gruppe wollte durch den Krieg geschädigten Kindern Spielzeuge bringen. Bei dieser Aktion gab es ein Selbstmordattentat des IS. Es gibt Belege dafür, dass Erdoğan dieses Attentat geduldet hat. Er hat den IS genutzt, um Unruhe stiften zu können. Bei dem Massaker wurden 34 Menschen getötet, mehr als hundert verletzt.
Ein weiteres Attentat gegen die Kurden folgte am 10. Oktober 2015. Dabei wurden hundert Menschen getötet. Einer von ihnen war mein Freund Dicle Deli. Eine weitere Person war Ali Kitapçı, ein Gewerkschafter von Anarko, den ich auf einer der Plattformen in Istanbul kennengelernt hatte. Insbesondere der Verlust von Dicle hat mich sehr deprimiert, meiner Psyche unwiederbringlich geschadet.
In dieser Zeit hat sich in Kurdistan die Bestrebung für eine autonome Selbstverwaltung verbreitet. Es begannen Kämpfe in den Städten. Was in Şırnak und Cizre angefangen hatte, strahlte auf andere kurdische Gebiete aus. Die über Monate dauernden Kämpfe hatten ein menschliches Drama zur Folge. Es gab tagelange Ausgangssperren. Hunderte von Menschen wurden ermordet. Hunderttausende wurden vertrieben.
Das alles nahm mich sehr mit. Ich stellte mir grundsätzliche philosophische und geistige Fragen. Ich sah, dass es keinen Sinn macht, mit einem bewaffneten Kampf gegen den Faschismus in der Türkei vorzugehen. Das geschieht mit ähnlichen Methoden, wie sie die Faschisten benutzen. Wo ist da der Unterschied?
Gewalt korrumpiert. Und mir ist gerade über die Ereignisse in Cizre klar geworden, dass das kein Weg ist, dass ich diesen Weg nicht gehen will und kann. Ich kann mir nicht vorstellen, mit Menschen zu sympathisieren, die auf Waffengewalt setzen. Ich halte es für zwingend notwendig, auf Gespräche und Dialog zu setzen, um damit möglicherweise sogar die zu überzeugen, die Waffen anwenden. Dass dies Erfolg haben kann, hat die Geschichte immer wieder gezeigt.
Und diese Gewalt fokussiert sich in der Armee. Und sie gibt es auch bei den bewaffneten Gruppen der PKK. Durch die Ereignisse und Erlebnisse bin ich zu der klaren Erkenntnis gekommen, dass ich dies verweigere, dass ich Gewalt ablehne, dass ich ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen bin.
Ein weiterer Punkt für mich ist: Erdoğan und die AKP-Regierung führten und führen eine Auseinandersetzung mit dem kurdischen Volk. Erst war es der Angriff in Kurdistan, später gegen die Milizen in den kurdischen Gebieten in Syrien. Das bedeutet auch, wer in der Türkei Militärdienst leistet, wird als Teil der Armee gegen das kurdische Volk eingesetzt. Das kann ich nicht akzeptieren.
So veränderte sich mein Bewusstsein. Über die ideologische und philosophische Auseinandersetzung wandelten sich meine Werte. Nun fühlte ich mich als Pazifist, Anarchist und Antimilitarist. Ich entwickelte einen persönlichen Anarchismus und trennte mich von der organisierten Bewegung.
Teil dieses neuen Verständnisses, dieser neuen Überzeugung, ist, dass ich den Militärdienst ablehne. Über den Militärdienst wird versucht, einen Menschentyp zu schaffen, der unmündig und militaristisch ist. Mir ist über die Auseinandersetzungen klar geworden, dass ich niemals auf irgendjemanden eine Waffe richten kann. Militärdienst steht in völligem Widerspruch zu meiner persönlichen und politischen Überzeugung, zu meinen grundlegenden Werten.
Da ich mich in einem Ferngymnasium immatrikuliert hatte, konnte ich meinen Militärdienst zwei Jahre zurückstellen. Für eine Verlängerung der Zurückstellung hätte ich mich Ende 2018 in einer Hochschule immatrikulieren müssen. Ohne Zurückstellung hätte ich am 1. Januar 2019 zum Militär gehen müssen. Käme ich dem nicht nach, würde ich als Deserteur gelten. Und bei einer Festnahme würde ich sofort einer Kaserne überstellt werden.
Auch in der Firma, in der ich arbeitete, äußerte ich immer meine Gedanken. Aufgrund meiner alevitisch-kurdischen Identität erlebte ich jedoch Mobbing. Als ich meine Abfindung aufgrund meiner bisherigen Betriebszugehörigkeit verlangte, machten die Verantwortlichen zur Bedingung, dass ich den Militärdienst antreten müsse. Ansonsten würden sie nicht zahlen. So haben sie mich unter Druck gesetzt. Das entspricht auch dem Bild in der türkischen Gesellschaft. Wer keinen Militärdienst gemacht hat, bekommt kein Mädchen. Militärdienstentzieher werden nicht angestellt. All solchen Problemen stand ich nun gegenüber. Aber ich war entschlossen, mich nicht brechen zu lassen.
Um diesem Druck etwas entgegensetzen zu können, beschäftigte ich mich in den Sommermonaten intensiv mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung. Es gibt in der Türkei kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Ich erfuhr, dass Menschen, die sich dafür einsetzen, in Untersuchungshaft oder ins Gefängnis gesteckt werden.
In der Türkei gibt es eine Internet-Plattform, wo sich Oppositionelle und politisch Aktive einbringen: adilmedya.com. Ich verfolgte dort die Kolumnen der Muslimischen Antikapitalisten, von dem Vorsitzenden İhsan Elaçık, von Emre Ergul und anderen Autoren. Dabei stieß ich auch auf die Geschichte des Kriegsdienstverweigerers Halil Savda, von der ich sehr beeindruckt war. Er hatte 2005 die Türkei beim Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte angeklagt. 2017 wurde er in seinem Haus festgenommen. Er hatte ähnlichen Widerstand geleistet, wie ich. Deshalb musste er die Türkei verlassen. 2017 suchte er in Zypern Asyl.
Ich war sehr beeindruckt von seiner Geschichte, von seinen Beiträgen. Ich war begeistert, dass er den Militärdienst aus allgemeinen menschlichen Werten heraus ablehnt. Die Herrscher in der Türkei überzogen ihn mit Strafverfahren.
Im September 2018 wollte ich meine Kriegsdienstverweigerung öffentlich machen. Das hätte aber dazu geführt, dass ich ganz alleine dastehe und angreifbar gewesen wäre. In der Türkei wird ein Kriegsdienstverweigerer in den Knast gesteckt und psychologisch unter Druck gesetzt. Im zivilen Leben werden Kriegsdienstverweigerer wie Vaterlandsverräter behandelt. In der Türkei kann ein Kriegsdienstverweigerer keine standesamtliche Urkunde bekommen, keinen Pass erhalten, sein Kind nicht eintragen lassen und keinen Ausweis erhalten. Er kann keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen und er kann jederzeit inhaftiert werden. In der Zeit gab es auch erhöhten Druck auf die Verteidiger der Rechte von Kurden und Aleviten wie auch der HDP. Es gab Untersuchungen, Inhaftierungen, Untersuchungshaft usw. In der Stadt, in der ich lebte, wurden einige HDP Mitglieder und Verantwortliche inhaftiert.
Auch mein Freund aus meiner Kindheit, Çağdaş Erdoğan, wurde festgenommen. Er ist Fotojournalist und wird in der Liste des The Guardian 2016 aufgeführt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er ohne Grund die Gebäude der Antiterroreinheit fotografiert hat.
Einmal wurde ich Zeuge, wie ein Freund von mir, Mitglied der HDP, in Bursa auf dem Busbahnhof von Antiterroreinheiten festgenommen wurde. Ich versuchte einzugreifen und stritt mich mit den Polizisten. Sie nahmen daraufhin meine Personalien auf und drohten mir: „Mach Dir keine Sorgen, Ihr seht Euch bald wieder“.
Ich wollte aber etwas gegen den Krieg der Kurden tun. Und ich wollte erreichen, dass die anderen Menschen von meiner Überzeugung, von meinem Verhalten, wissen. Da ich selber Kurde und Alevit bin, wollte ich meine Identität als Kriegsdienstverweigerer unter dem Dach der HDP einbringen und dort meine Aktivitäten fortführen.
Im Oktober traf ich mit dann mit Freunden in Istanbul, um über die Herausgabe einer Zeitschrift mit Namen Uyanış zu reden. Wir trafen uns in einer Studentenwohnung. Bei dem Treffen berichtete ich ihnen von meiner Entscheidung und fragte sie, wie es wäre, wenn ich öffentlich eine Erklärung abgebe. Ich wollte unter keinen Umständen Militärdienst leisten. Und ich wollte mitteilen, dass ich auch aufgrund der Repressalien gegen mein Volk Kriegsdienstverweigerer bin. Wir haben das diskutiert. Die Freunde sagten mir, sie könnten alles Mögliche tun, um mich zu unterstützen. Einer wies mich darauf hin, dass er die Leute vom Verein für Kriegsdienstverweigerung kennt.
Ich informierte mich über den Verein. Ich stellte fest, dass er in den letzten Jahren nicht mehr so stark aktiv war, weil er unter Druck gesetzt wurde und weil es Repressionen gab. Der Verein ist praktisch auseinandergegangen. Aus diesem Grund konnte ich darüber keinen Unterstützerkreis bekommen, auch keine Empfehlung, was ich tun solle. So ist nichts aus der öffentlichen Erklärung geworden. Ich schrieb dennoch eine Erklärung und schickte diese am 6. November 2018 postalisch zur Rekrutierungsbehörde des Verteidigungsministeriums.
Die Tage danach übernachtete ich bei einem Freund. Ich wollte Abstand gewinnen. Nach vier Tagen rief mich gegen Mittag meine Mutter an. Sie sagte mir, zwei zivile Polizisten seien gekommen und hätten nach mir gefragt. Sie hätten eine Nachricht hinterlassen, dass ich schnellstmöglich zum nächsten Polizeirevier gehen solle.
Mein Freund lebte etwa 10 km entfernt von unserem Haus. Ich ging nun zu einer Nachbarsfamilie in unserem Stadtteil und bat sie meine Mutter zu holen. Ich erklärte ihr dann, dass es wegen der Kriegsdienstverweigerung sein könnte. Ich sagte ihr auch, es wäre für mich gefährlich, zu Hause zu übernachten. Ich müsste daher woanders hingehen. Meine Mutter war sehr ängstlich und unruhig. Aus Sicherheitsgründen habe ich ihr nicht gesagt, wohin ich gehen würde.
Ich rief einen Freund aus einem anderen Stadtviertel an und teilte ihm mit, dass ich kommen würde. Ich bin unter großen Vorsichtsmaßnahmen zu ihm gegangen und habe ihn informiert. Er brachte mich dann in einem Stadtteil unter, wo hauptsächlich Studenten wohnen. Dort konnte ich bei einem Freund, einem Studenten, wohnen. Auch ihn habe ich über meine Situation informiert. Da mein Telefon sicherlich abgehört wurde, benutzte ich nur seines.
Am nächsten Tag rief ich meine Nachbarn an. Sie berichteten mir, meine Mutter sei von der Polizei mitgenommen worden. Nachdem sie vom Revier Aksamustu zurückkam, berichtete sie meinen Nachbarn. Sie sei beleidigt und bedroht worden. Im Revier habe sie angegeben, dass ich ein Kriegsdienstverweigerer sei und dass dies ein Menschenrecht ist. Wenn es auch eine Straftat sei, sie könne nichts dafür. Ich sei selbst dafür verantwortlich. Ein Polizist habe ihr entgegnet, die Mütter seien es, die die Kinder so verräterisch erziehen. Sie begingen eine große Schuld.
Es schmerzt mich sehr zu erleben, was meiner Mutter passiert ist und dass ich nichts tun kann. Es ist mir eine schwere Last.
Ich sah nun nur noch die Möglichkeit ins Ausland zu gehen. Das besprach ich mit meiner Mutter über einen Messengerdienst. Sie war in guter Verfassung und unterstützte mich. Sie sagte, das wäre der richtige Weg. Es sei eine richtige Entscheidung. Aber das war für mich eine sehr schwerwiegende Entscheidung, weil ich meine Mutter in diesem Polizeistaat allein lassen müsste. Dennoch hatte ich keine andere Wahl.
In der Zeit habe ich immer wieder Nachrichten erhalten, dass mich die Polizei in Kaffeehäusern und in Internetcafés sucht. Sie waren auch bei meinem Arbeitgeber. Sie waren auch mehrere Male bei mir zu Hause. Sie sagten meiner Mutter, dass sie mich überall suchen. Und obwohl der Ausnahmezustand wieder aufgehoben worden war, wurde ich nach den Gesetzen des Ausnahmezustandes gesucht. Das hätte bedeutet, dass ich wie viele andere ohne Möglichkeit von Außenkontakten in Untersuchungshaft genommen worden wäre. Sie werden gefoltert und unmenschlich behandelt. Ich war sehr beunruhigt und traute mich auch nicht, noch einmal in meine Heimatstadt zu fahren. Das wäre auch aufgrund der inzwischen fest installierten Straßenposten kaum möglich gewesen. Ich saß wie auf Dornen und wartete auf Nachricht.
Ende November erhielt ich endlich die Nachricht, dass sie bereit sind. Am 14. Februar 2019 konnte ich schließlich mit Hilfe eines Schleppers von Istanbul aus die Türkei verlassen. Am 17. Februar kam ich in Deutschland an. Und eine Woche danach habe ich einen Asylantrag gestellt.
Inzwischen wurde in der Türkei das Militärdienstgesetz 1111 (Kanun 1111) durch das neue Rekrutierungsgesetz 7179 (Kanun 7179) abgelöst. Danach wurde der Militärdienst für Wehrpflichtige auf sechs Monate reduziert. Zudem wurde ein sogenannter Bezahlter Militärdienst in der Türkei eingeführt, womit unter Zahlung von aktuell 31.000 Türkische Lira noch ein Monat Militärdienst abzuleisten ist. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung existiert nach wie vor nicht.
Angesichts dessen muss ich feststellen: Selbst die Option des sogenannten Bezahlten Militärdienstes, verbunden mit der Ableistung von einem Monat Militärdienst, bedeutet für mich, dass ich gegen mein Gewissen Militärdienst ableisten müsste. Die verkürzte Dauer ist für mich keine Alternative. Meine Überzeugung zwingt mich dazu, jede Form des Militärdienstes, die Uniform, Befehl und Gehorsam und die Ausbildung zum Töten abzulehnen. Selbst die Zahlung von 31.000 Türkische Lira, die nach den Erklärungen der türkischen Regierung dem Militär zugute kommen soll, ist mit meinem Gewissen nicht zu vereinbaren. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich selbst eine Waffe in die Hand nehmen soll oder mit dem Geld den Kauf von Bomben und Waffen unterstütze, die das Töten von Menschen ermöglicht.
Fußnoten
1 Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist
2 Türkiye Devrimci Komünist Partisi
3 Halkların Demokratik Partisi
Beran Mehmet İşci: Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung. 25. August 2019. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2019.
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