Syrien: EuGH stärkt Kriegsdienstverweigerer bei Asyl

Im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Weigerung, dort Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang steht, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.

In vielen Fällen ist diese Weigerung nämlich Ausdruck politischer oder religiöser Überzeugungen oder hat ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Ein syrischer Wehrpflichtiger, der aus seinem Land geflohen ist, um sich dem Militärdienst zu entziehen, und aus diesem Grund bei der Rückkehr nach Syrien Strafverfolgung oder Bestrafung ausgesetzt ist, klagt vor dem VG Hannover gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem ihm zwar subsidiärer Schutz gewährt wird, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft jedoch verweigert wird. Nach Ansicht des Bundesamts hat der Betroffene selbst keine Verfolgung erlitten, die ihn zur Ausreise gedrängt habe. Da er nur vor dem Bürgerkrieg geflohen sei, habe er keine Verfolgung zu befürchten, wenn er nach Syrien zurückkehrte. Jedenfalls fehle es an einer Verknüpfung zwischen der Verfolgung, die er befürchte, und einem der fünf Verfolgungsgründe, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, nämlich Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, begründen könnten.

Das Verwaltungsgericht hat den EuGH um Auslegung der Richtlinie über den internationalen Schutz (Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes - ABl. 2011, L 337, 9) ersucht, nach der als Verfolgung u.a. die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten kann, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen wie z. B. Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde, die die Anerkennung als Flüchtling ausschließen. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts hätte der Betroffene als Einberufener solche Verbrechen im Rahmen des syrischen Bürgerkriegs begehen können.

Der EuGH hat festgestellt, dass dann, wenn im Herkunftsstaat die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes gesetzlich nicht vorgesehen ist, dem Betroffenen nicht entgegengehalten werden kann, dass er seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen.

Zudem sei es in einem Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, unerheblich, dass der Betroffene sein zukünftiges militärisches Einsatzgebiet nicht kenne. Im Kontext des allgemeinen syrischen Bürgerkriegs, der zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag des Betroffenen herrschte, d.h. im April 2017, und insbesondere in Anbetracht der – nach Ansicht des Verwaltungsgerichts ausführlich dokumentierten – wiederholten und systematischen Begehung von Kriegsverbrechen durch die syrische Armee einschließlich Einheiten, die aus Wehrpflichtigen bestehen, sei es sehr plausibel, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst werde, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen teilzunehmen.

Allerdings müsse zwischen der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes und zumindest einem der Verfolgungsgründe, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könnten, eine Verknüpfung bestehen. Das Bestehen einer solchen Verknüpfung könne nicht als gegeben angesehen werden und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden nicht entzogen sein.

Die Verweigerung des Militärdienstes könne nämlich auch andere als diese fünf Verfolgungsgründe haben. Sie könne u.a. durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringe.

In vielen Fällen sei die Verweigerung des Militärdienstes allerdings Ausdruck politischer Überzeugungen – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zur Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehen –, religiöser Überzeugungen oder habe ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Somit spreche eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den Bedingungen der dem EuGH vorgelegten Rechtssache mit einem der fünf Gründe in Zusammenhang stehe, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen. Nicht der Betroffene müsse diese Verknüpfung beweisen, sondern es sei Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.

Im Übrigen bestehe in einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und in Ermangelung einer legalen Möglichkeit, sich den militärischen Pflichten zu entziehen, die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt werde. Nach der Richtlinie sei es jedoch bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet sei, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweise, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 142/2020 v. 19.11.2020. Das vollständige Urteil: http://curia.europa.eu/juris/document/document_print.jsf?docid=233922&doclang=DE. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2020

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