Verbrennen von Militärpapieren

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Türkei: Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern

von Connection e.V.

(01.03.2021) Im Folgenden möchten wir einen Überblick über die aktuelle Situation der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei geben. Darüber hinaus fügen wir Informationen zur Frage der Anerkennung von Asylanträgen von Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei hinzu.

Seit Anfang der 90er Jahre haben etwa 1.000 Wehrpflichtige ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Hunderttausende haben sich auf andere Art und Weise der Wehrpflicht entzogen oder sind untergetaucht. Einige Hundert haben aufgrund der drohenden Verfolgung im Ausland Asyl gesucht.

Weiter kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Die Türkei ist das einzige Mitgliedsland des Europarates, das das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt. Durch verschiedene Sanktionen sollen Kriegsdienstverweigerer zur Ableistung des Militärdienstes gezwungen werden. So sehen sie sich ständigen Haftbefehlen ausgesetzt, einer lebenslangen Verfolgung und Inhaftierung. Darüber hinaus befinden sie sich in einem Zustand des „zivilen Todes”, mit dem sie aus dem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen sind.

Im zweiten Universal Periodic Review des UN-Menschenrechtsrates gaben drei Länder (Kroatien, Deutschland und Slowenien) Empfehlungen ab, „das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen und einen alternativen Dienst anzubieten, der nicht-diskriminierend ist und keinen Strafcharakter aufweist”. Die türkische Regierung hat diese Empfehlungen lediglich „zur Kenntnis genommen”.

Dennoch gab es keine gesetzgeberischen Schritte. Der von der HDP (Demokratische Partei der Völker) vorgelegte Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung wurde mit den Stimmen der Regierungspartei sowie anderer Parteien abgelehnt. Im Juni 2019 brachte die Regierung ein neues Rekrutierungsgesetz im Parlament ein und hob damit das alte auf. Obwohl die HDP Vorschläge einbrachte, findet sich im neuen Gesetz nichts zur Frage der Kriegsdienstverweigerung.

Das neue Gesetz definiert in Artikel 9 eine Ersatzzahlung zur Verkürzung des Militärdienstes. Mit einem Betrag von etwa 5.000 € ist es möglich, den Militärdienst auf einen Monat zu verkürzen (statt sechs Monate). Da dies aber weiterhin eine militärische Ausbildung einschließt, stellt die Ersatzzahlung keine Möglichkeit für Kriegsdienstverweigerer dar.

Rechtslage für Kriegsdienstverweigerer sowie Sanktionsmöglichkeiten

Verweigerer werden als Militärdienstentzieher kriminalisiert. Es wird ein dauerhaft gültiger Haftbefehl ausgestellt. Dadurch können sie bei jeder Ausweiskontrolle durch Polizei oder Gendarmerie festgenommen werden. Solche Kontrollen sind bei verschiedenen Gelegenheiten üblich. Nach der ersten Festnahme wird eine Geldstrafe verhängt. Wenn die Verfügung über die Geldstrafe in Kraft getreten ist, hat jede weitere Festnahme ein neues Verfahren nach Artikel 63 des Militärstrafgesetzbuches zur Folge. Der Kriegsdienstverweigerer kann dann mit zwei Monaten bis zu drei Jahren Haft oder zu einer Geldstrafe verurteilt werden, was derzeit die Regel ist. Somit sind die Verweigerer dazu gezwungen, ein Leben im Untergrund zu führen, um nicht festgenommen zu werden.

Ziviler Tod

Die Situation der Kriegsdienstverweigerer wurde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als „ziviler Tod” gekennzeichnet (Ülke v. Turkey, application no. 39437/98). Es gibt hauptsächlich drei Ursachen für diese Situation.

Gesetzliche Verbote gegenüber Kriegsdienstverweigerern: Nach dem Gesetz können Kriegsdienstverweigerer weder im öffentlich noch im privaten Sektor arbeiten, da es als Straftat angesehen wird, Militärdienstentzieher zu beschäftigen. Verweigerer sind so dazu gezwungen, arbeitslos zu bleiben oder illegal in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen zu arbeiten. Kriegsdienstverweigerer haben auch kein Recht an einer Wahl teilzunehmen oder für eine Wahl zu kandidieren.

Wiederholte Strafverfolgung: Wie bereits erwähnt, sehen sich Kriegsdienstverweigerer einer nicht endenden Strafverfolgung ausgesetzt, die wiederholt mit zwei Monaten bis zu drei Jahren Haft oder Geldstrafen geahndet werden kann, abhängig davon, wie lange sie sich bereits dem Dienst entziehen.

Einschränkungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben: Weil jede Verhaftung eine weitere Strafverfolgung nach sich zieht, müssen Kriegsdienstverweigerer Aktivitäten im sozialen, wirtschaftlichen, juristischen und kulturellen Bereich vermeiden:

  • Beantragung von Reisepässen/Führerschein/Heirat;
  • Meldungen bei der Polizei auch dann, wenn sie Opfer von Straftaten oder eines Unfalls geworden sind;
  • Aufenthalt im Hotel/Hostel/auf einem Campingplatz/im Airbnb;
  • Auto fahren;
  • Aufenthalt auf großen Straßen oder Plätzen;
  • Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs wie Zug/Bus/Metro/Fähre;
  • Benutzung des Flughafens;
  • Besuch eines Gerichts oder eines Gefängnis, selbst dann, wenn sie Rechtsanwalt sind;
  • Teilnahme an einer Wahl.

Infolgedessen sehen sich Menschen, die aus religiösen oder anderen Gewissensgründen die Ableistung des Militärdienstes verweigern, einer lebenslangen Drohung von Haftstrafen und dem Ausschluss aus allen bürgerlichen Rechten ausgesetzt, sowohl durch gesetzliche Regelungen, wie auch um eine erneute Verhaftung zu vermeiden.

Die Kriminalisierung und der zivile Tod gilt auch gegenüber Wehrpflichtigen, die sich geweigert haben, zur Armee zu gehen, aber bislang ihre Kriegsdienstverweigerung nicht öffentlich erklärt haben.

Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches und Artikel 7/2 des Anti-Terrorismus-Gesetzes

Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches: (1) Jede Person, die durch Ermutigung oder Rechtfertigung Personen zur Desertion oder Distanzierung des Volkes vom Militär anhält, soll mit einer Haftstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren strafrechtlich verfolgt werden. (2) Wenn die Handlung über Presse oder Fernsehen erfolgt, soll die Haftstrafe um das Anderhalbfache erhöht werden.

Dieser Artikel wird vor allem gegen Verweigerer und ihre Unterstützer*innen angewandt. Eine Kriegsdienstverweigerungserklärung oder Erklärungen von antimilitaristischen oder Antikriegsorganisationen werden durch diesen Artikel ebenfalls bedroht. Nach jeder Erklärung gegen die Wehrpflicht, selbst in den Sozialen Medien, können nach diesem Gesetz Ermittlungen aufgenommen und sie kann strafrechtlich verfolgt werden.

Darüber hinaus wurden Ermittlungen gegen Kriegsdienstverweigerer und ihre Unterstützer*innen wie auch gegen Friedensaktivist*innen wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation” auf Grundlage von Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes eröffnet. Der Artikel ist vage formuliert und weit gefasst. Selbst ohne ausdrückliche Propaganda können gewalttätige kriminelle Methoden angenommen werden. Er wurde wiederholt verwendet, um Äußerungen gewaltfreier Meinungen zu verfolgen. Beschuldigte können zu einer Haftstrafe von ein bis fünf Jahren verurteilt werden.

Erklärung des Ministerkomitees des Europarates

Im Juni 2020 drängte das Ministerkomitee des Europarates die Türkei dazu, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung anzuerkennen. In der Entscheidung (CM/Del/Dec(2020)1377/H46-40) zu den Fällen von neun Kriegsdienstverweigerern „äußerte (das Ministerkomitee) tiefe Besorgnis darüber, dass Osman Murat Ülke, Yunus Erçep und Ersin Ölgün immer noch als Militärdienstentzieher gelten und weiterhin der Situation des ‘Zivilen Todes’ unterliegen und forderten die Behörden nachdrücklich auf, unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass diese drei Antragsteller nicht länger wegen ihrer Weigerung Militärdienst abzuleisten strafrechtlich verfolgt oder verurteilt werden; forderte (das Ministerkomitee) die Behörden auf, bis zum 1. September 2020 eine Klärung herbeizuführen, und falls notwendig die erforderlichen Schritte umzusetzen, um sicherzustellen, dass allen aus den Verletzungen gegen die neun Antragsteller folgenden Konsequenzen abgeholfen wird, nämlich die Erstattung der Geldstrafen, Aufhebung der Haftbefehle für frühere Strafen, Löschung des Strafregisters und schließlich, dass keiner der Antragsteller weiter dem Risiko einer Strafverfolgung und Inhaftierung ausgesetzt ist, weil er sich weigert, im Zusammenhang mit seiner Kriegsdienstverweigerung erhobene Geldbußen zu zahlen.”

Unzureichender Flüchtlingsschutz

Schutz nach der Genfer Konvention

Aufgrund der Situation in der Türkei entschieden einige Kriegsdienstverweigerer, das Land zu verlassen und um Schutz in anderen Ländern nachzusuchen. Tatsächlich wird die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung selten als Grund angesehen, als Flüchtling anerkannt zu werden. Üblicherweise wird die Verfolgung in der Türkei als legitime Maßnahme zur Aufrechthaltung der Wehrpflicht gewertet.

Aufgrund der oben benannten Maßnahmen der Türkei gegenüber Kriegsdienstverweigerern sollten diese als eine besondere soziale Gruppe nach der Genfer Konvention von 1951 angesehen werden und entsprechend Schutz erhalten. Dies entspräche der Definition, die das UNHCR in verschiedenen Stellungnahmen zur Frage der sozialen Gruppe vorgelegt hat: „Eine bestimmte soziale Gruppe ist eine Gruppe von Personen, die neben ihrem Verfolgungsrisiko ein weiteres gemeinsames Merkmal aufweisen oder von der Gesellschaft als eine Gruppe wahrgenommen werden. Das Merkmal wird oft angeboren, unabänderlich oder in anderer Hinsicht prägend für die Identität, das Bewusstsein oder die Ausübung der Menschenrechte sein.“ (Richtlinien zum Internationalen Schutz, HCR/GIP/02/02 vom 7. Mai 2002) Entsprechend kommt auch das UNHCR zu der Schlussfolgerung, dass Kriegsdienstverweigerer als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind, „da sie eine Überzeugung teilen, die prägend für ihre Identität ist, und sie von der Gesellschaft auch als eine bestimmte Gruppe wahrgenommen werden können. (...) Dasselbe kann im Fall von Wehrdienstentziehern oder Deserteuren der Fall sein, da beide Arten von Antragstellenden ein unabänderliches gemeinsames Merkmal aufweisen (...). Deserteure können in manchen Gesellschaften auch deshalb als bestimmte soziale Gruppe wahrgenommen werden, weil im Militärdienst generell ein Zeichen der Loyalität zu dem Land gesehen wird bzw. weil solche Personen anders behandelt werden [zum Beispiel durch Diskriminierung beim Zugang zu Beschäftigung im öffentlichen Dienst], wodurch sie sich als Gruppe von der allgemeinen Bevölkerung abheben und von dieser unterscheidbar werden. Dasselbe kann auch für Wehrdienstentzieher gelten.” (Richtlinien zum Internationalen Schutz Nr. 10 vom 12. November 2014, HCR/GIP/13/10/Corr. 1, Punkt 58)

Connection e.V., 1. März 2021

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