Wir sind gegen Kriege! - Das Leben zählt, Krieg tötet!
Zur Militäroffensive der Türkei in Syrien
Es ist in der Tat die Menschheit selbst, die mit jedem Schuss im Krieg stirbt. Wer andere als Feinde bezeichnet und sie entmenschlicht, tritt die grundlegendsten Werte der Menschlichkeit mit Füßen.
Heute befinden sich sowohl die Türkei wie auch die Welt in einer schweren Krise der Menschheit, da es einen weltweiten Ausnahmezustand aufgrund der verschiedensten „Kriege“ gibt, seien sie nun wirtschaftlicher, kultureller, religiöser, ethnischer oder von anderer Art. Als Realität des Lebens wurde allen Gesellschaften Gewalt auferlegt, strukturell oder physisch. Das Ideal des friedlichen Zusammenlebens auf Grundlage von Menschenrechten und Demokratie ist daher stark gefährdet. Die Vereinten Nationen unterlassen es, die Werte der Menschenrechte zu fördern und sind weit davon entfernt, den Frieden zu schützen.
Wir müssen nicht weit weg schauen. Das konkreteste Beispiel dafür ist das, was derzeit in unserem Nachbarland Syrien passiert.
Die Bevölkerung in Syrien ist seit 2011 davon betroffen, beteiligt sind viele Arten von imperialistischen oder kolonialistischen Mächten. Die Bevölkerung hat so viel Schmerz und Pein erfahren, ist so sehr entmenschlicht worden, dass Konzepte wie Menschenrechte und Frieden für sie keine Bedeutung mehr haben.
Millionen von Menschen, die in ihren eigenen Ländern nur noch Gewalt, Hunger, Folter und Tod erlebten, mussten in Länder fliehen, in denen Menschen leben, von deren Sprache, Kultur und Glauben sie nichts wussten, nur um überleben zu können. Nur selten wurde ihnen eine helfende Hand gereicht. Sie wurden vielmehr ausgegrenzt, belästigt, misshandelt, auf vielfältige Art und Weise diskriminiert und gehasst. Sie wurden die Anderen… Sie wurden ihres Status‘ als Personen beraubt, die Rechte haben, also entmenschlicht. Sie wurden zu einem Nichts, zu einem Niemand, zu Unsichtbaren.
Das gilt auch für diejenigen, die sich in Beziehungen wiederfinden, die geprägt sind von Selbstinteressen, leerer Rhetorik und leerer Dankbarkeit. Können wir als Menschen und Bürger mit gesundem Menschenverstand und Gewissen wirklich sagen, dass die Türkei in keinster Weise daran beteiligt ist?
Als Menschenrechtsorganisationen, die sich an universellen Grundsätzen und Normen orientieren, die ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit über alles stellen, haben wir uns von Anfang an beharrlich gegen jede Beteiligung am Syrienkrieg gestellt, die erwächst aus politischen Ambitionen und Träumen sowie Opportunismus. Wir haben dies als Waghalsigkeit gekennzeichnet, weil uns die Werte, denen wir uns verschrieben haben, sagen, dass vor allem das Leben selbst zählt. Wir können nicht über Rechte sprechen, wenn es kein Leben gibt. Krieg und Gewalt sind jedoch die Hauptfeinde des Lebens.
Wenn wir unser Augenmerk auf einen viel näheren Ort unseres Landes richten, sehen wir, wie die Idee des friedlichen Zusammenlebens auf der Grundlage von Menschenrechten und Demokratie Stück für Stück aufgegeben wurde durch ein de-facto-Regime des permanenten Ausnahmezustandes, der begann, als seit Sommer 2015 für die Lösung der kurdischen Frage wieder einmal auf Gewalt gesetzt wurde. Dieser Status wird aufrecht erhalten durch Gründe wie den Putsch, Regimewechsel oder persönliche Überlebensfragen. Begriffe wie „Überleben“ oder „Gewalt“ bestimmen die Rhetorik der politischen Macht. Die Verfassung und die Gesetze werden ignoriert. Alle politischen und nichtstaatlichen Institutionen, insbesondere das Parlament selbst, wurden ihrer Funktion und Wirkung beraubt. Alle Identitäten außerhalb der vorherrschenden, insbesondere der Kurd*innen, von Frauen und LGBTI+ sollten durch wachsende feindliche und missachtende Aussagen beseitigt werden. Die Regierung hat versucht, ihre Macht insbesondere durch den Diskurs des Überlebens zu festigen. Tatsache ist jedoch, dass dieser Diskurs selbst zu einer Polarisierung der Gesellschaft führt, die ausreicht, um ein Überlebensproblem zu schaffen und die insbesondere die Kurd*innen ausschließt und aussondert.
Die Militäroffensive, die gestern im Nordosten von Syrien gestartet wurde, ohne auch nur die geringste Lehre aus dem zu ziehen, was heutzutage passiert, wird der Gesellschaft auferlegt als etwas, was unbestreitbar notwendig sei. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die politische Macht muss einen sozialen Konsens erzeugen, da sie mit Problemen kämpft angesichts einer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, die durch die falschen, insbesondere die oben genannten, Maßnahmen verursacht wurde.
Die Geschichte lehrt uns, dass der einfachste Weg, um eine Zustimmung für eine Regierung zu erreichen, die sich von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Werten entfernt, der ist, Kriege zu beginnen. Aber die Regierungen haben dabei immer eine einfache Regel ignoriert: Im Krieg gibt es keine Sieger!
Noch tragischer ist, dass das Parlament das Mandat für die Militäraktion verlängert hat, womit für ein weiteres Jahr grenzüberschreitende Operationen zugelassen sind ohne dies überprüfen zu können.
Die Militäroffensive im Nordosten von Syrien wird vor allem das Recht auf Leben von Tausenden, vielleicht sogar Zehntausenden, verletzen. Seit Beginn des Krieges gehen Nachrichten über zahlreiche Opfer ein.
Diese Offensive wird zu neuem Leid für die syrischen Völker führen, insbesondere für diejenigen, die in den von der Offensive betroffenen Regionen leben. Sie wird zur Vertreibung von hunderttausenden Zivilpersonen führen und damit zu einer neuen humanitären Krise. Der Aufbau von Frieden und Ruhe, was für Syrien so dringend ist, wird weit in die Zukunft verschoben. Die Offensive wird desweiteren die wirtschaftliche Krise vertiefen und verlängern, was zu allererst Arbeiter*innen und Arme spüren werden.
Die politische Macht wird versuchen, mit Verweis auf den Krieg, ihre seit langem de facto bestehende Praxis des Ausnahmezustandes zu intensivieren und dauerhaft zu machen. Zahlreiche Grundrechte und –freiheiten werden eingeschränkt, insbesondere die Gedanken- und Meinungsfreiheit sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Damit wird der politische und zivile Bereich in Gänze Kontrollmaßnahmen unterworfen, indem es Bürgern unmöglich gemacht wird, sich zusammenzuschließen, und damit die bisherige Praxis, dies bei jeder Gelegenheit einzuschränken und gewaltsam zu unterdrücken, verschärft.
Vor allem wird damit das Ideal und der Wunsch nach friedlichem Zusammenleben auf der Grundlage von Menschenrechten und Demokratie unwiederbringlich zerstört.
Eine zwangsweise Umsiedlung und/oder Zurückweisung von Millionen in der Türkei Schutz suchender Syrer*innen in den Norden und Nordosten Syriens verstößt auch gegen die Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung. Artikel 45 der Konvention schreibt eindeutig vor, dass eine geschützte Person unter keinen Umständen in ein Land überstellt werden darf, wo sie möglicherweise Grund zur Furcht vor Verfolgung hat. Darüber hinaus verstößt eine durch Waffen und Gewalt erzwungene Umsiedlung gegen humanitäres Recht. Es geht hier um Millionen von Menschen, nicht einfach um eine Fracht…
Aus diesem Grund verpflichten wir uns aufgrund unserer Menschenrechtsethik und –grundsätze, uns bedingungslos gegen Kriege zu wehren. Wir wissen, dass es in der Tat die Menschheit selbst ist, die mit jedem Schuss stirbt, der in Kriegen abgefeuert wird. Wer andere als Feinde bezeichnet und sie entmenschlicht, tritt die grundlegendsten Werte der Menschlichkeit mit Füßen. Deshalb muss die nun gestartete Militäroffensive unverzüglich gestoppt werden, um weitere Opfer zu vermeiden. Es müssen gewaltfreie, friedliche Lösungen entwickelt werden. Wir fordern hiermit alle Personen und Institutionen, die Menschenrechte, Demokratie und Frieden achten, dazu auf, die Bedrohungen zu erkennen, denen wir ausgesetzt sind und das Ideal des friedlichen Zusammenlebens zu schützen und ihre Anstrengungen darauf zu konzentrieren, die Militäroffensive zu stoppen.
Joint statement from Human Rights Foundation (HRFT) & Human Rights Association (HRA) on military offensive in Syria: Life Matters. War Kills. We Are Against Wars. 10. Oktober 2019. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Dezember 2019.