Rundbrief »KDV im Krieg« - November 2023

Rundbrief »KDV im Krieg« - November 2023

Ukraine: Antworten auf Fragen zu Kriegsdienstverweigerung, Rekrutierung und Aufenthalt in Deutschland

(30.04.2024) Seit dem russischen Angriff sind nach Angaben von Präsident Selenskij bis Februar 2024 rund 31.000 ukrainische Soldat*innen getötet worden. Vermutlich sind es aber „tatsächlich über 100.000 Tote und bis zu mehreren Hunderttausend Verletzte“.1 Die Wiedereroberung der von Russland besetzten Gebiete war bislang nicht erfolgreich. Um die Lücken der derzeit auf 800.000 Soldat*innen geschätzten Armee aufzufüllen, versucht die Ukraine nun bis zu 500.000 neu einzuberufen.1 Selbst viele, die den Krieg für gerechtfertigt halten, sehen sich in diesem Stellungs- und Abnutzungskrieg lediglich als Kanonenfutter, dem sie entkommen wollen.

Sie, ihre Angehörigen und die deutsche Öffentlichkeit richten deshalb vermehrt Anfragen an Connection e.V., die wir hiermit beantworten.

Gibt es in der Ukraine das Recht auf Kriegsdienstverweigerung?

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurde zu Beginn des Krieges ausgesetzt. Es ist zwar in der ukrainischen Verfassung von 1991 verankert – und es gab auch ein sehr eingeschränktes Recht, das nur Angehörige von zehn Religionsgemeinschaften wahrnehmen konnten, die dieses vor einer Einberufung beantragten. Aber selbst dieses wird nicht mehr angewandt. Die Rechtswidrigkeit wird auch vom Menschenrechtsbeauftragten der ukrainischen Regierung, Dymytro Lubinetz, kritisiert: Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung „darf nicht eingeschränkt werden.“2 Das von Präsident Selenskij bei seinem Deutschland-Besuch Ende Januar angekündigte „funktionierende Gesetz für Kriegsdienstverweigerer“3 gibt es bislang nicht.

Was passiert derzeit mit Kriegsdienstverweiger*innen?

Widersetzen sich Kriegsdienstverweiger*innen ihrer Rekrutierung, veranlasst das Militär eine strafrechtliche Verfolgung. Das dafür vorgesehene Strafmaß beträgt ein bis fünf Jahre Haft. Die bislang ergangenen Urteile lauteten auf ein bis vier Jahre (manchmal auf Bewährung). Spricht ein Gericht eine*n Kriegsdienstverweiger*in frei, legt die Armee Widerspruch gegen das Urteil ein.4

Soldat*innen, die den Kriegsdienst verweigern, müssen damit rechnen, drangsaliert zu werden oder dass ihre Anträge nicht angenommen werden. Die Armee verhinderte auch, dass Soldat*innen zur Gerichtsverhandlung über ihre Kriegsdienstverweigerung erscheinen konnten.5 Die Regel, dass der Dienst in der Armee unbegrenzt zu leisten ist, trifft auch auf sie zu: Kriegsdienstverweiger*innen werden nicht entlassen.

Gegen die Aussetzung der Möglichkeit, einen Antrag stellen zu können, gegen die Verurteilung zu Haftstrafen und dass Kriegsdienstverweiger*innen nicht aus der Armee entlassen werden, gibt es derzeit Klagen vor dem Obersten Gericht der Ukraine.5

Wie wird in der Ukraine rekrutiert?

Während zu Beginn des Krieges sich viele freiwillig zum Dienst in der Armee meldeten, ist das jetzt nicht mehr der Fall. Es gibt jetzt sogenannte Rekrutierungswellen. Da viele versuchen, der Rekrutierung zu entkommen, wird derzeit vor allem über die Betriebe rekrutiert. Aber es wird auch rekrutiert an Checkpoints, an Bahnhöfen, Busterminals, öffentlichen Treffpunkten, Beherbergungsbetrieben, an den Grenzen. Wer der Einberufung nicht nachkommen will, wird unter Druck gesetzt, z.T. mit physischer Gewalt.6 Es gibt bislang keine Verurteilungen wegen solcher Rekrutierungen.6

Die Ukraine gilt nach Russland als das zweitkorrupteste Land Europas. Für Zurückstellungen, Ausmusterungen und Ausreisegenehmigungen werden z.T. horrende Beträge verlangt. Auch wenn deswegen alle Vorsitzenden der regionalen Einberufungsämter entlassen wurden und der Verteidigungsminister ersetzt wurde: Nur mit Geld und Beziehungen besteht die Möglichkeit, dem Militärdienst zu entkommen.

Was besagt das am 11. April beschlossene neue Rekrutierungsgesetz?7

Nach langwierigen Auseinandersetzungen mit „mehr als 4.000 Änderungsanträgen“ wurde nun beschlossen, dass alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren ihren Wehrpass bei sich führen müssen. Zudem müssen sie innerhalb von zwei Monaten ihre Personaldaten überprüfen lassen. Sonst drohen Geldstrafen.

Wer zur Musterung nicht erscheint oder eine Einberufung ignoriert, muss mit einer Geldstrafe rechnen, zudem ist der Entzug der Fahrerlaubnis vorgesehen.

Es gibt bei den Tauglichkeitskategorien nur noch „tauglich“ und „untauglich“. Wer „vorübergehend untauglich (= schwere Beeinträchtigung)“ gemustert wurde, muss sich nachmustern lassen. So gelten z.B. verletzte Augen oder Nierenflügel, ein gelähmter Arm oder ein Herzschrittmacher nicht mehr als Ausmusterungsgrund. Auch bisher haben schon verschiedentlich Militärärzt*innen von Schwerkranken Bestechungsgelder für die Ausmusterungsbescheinigung verlangt.

Das Einberufungsalter für Reservist*innen wurde von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt.

Die Einberufungsbescheide werden nun elektronisch zugestellt.

Reisepässe werden nur noch bei gültigem Militärausweis ausgestellt. Die Botschaften und Konsulate sollen ohne gültigen Militärausweis nicht mehr tätig werden. Die Verlängerung des Reisepasses einer im Ausland befindlichen Person ist nur noch durch die Rückkehr in die Ukraine möglich.

Die viel diskutierte Kontensperrung, die Beschlagnahmung von Eigentum, das Verbot, Kredite aufzunehmen und Eigentum zu veräußern, und eine mögliche Entlassung aus der Armee nach drei Jahren Dienst (Rotation), stehen nicht im Gesetz.

Nach einer neuen Gesetzesinitiative sollen nun nicht nur Untersuchungshäftlinge sondern auch verurteilte Straftäter*innen eingezogen werden. Erklären sie sich bereit, in die Armee einzutreten, soll ihre Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Davon ausgenommen sind Verurteilungen wegen sexueller Gewalt, Mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gegen die nationale Sicherheit.8 Wegen „Kollaboration mit dem Aggressor“ sind derzeit 8.100 Menschen in Haft.9

Sind aus der Ukraine geflohene Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen in Deutschland geschützt?

Ukrainer*innen, die vor dem 01. Februar 2024 einreisten, dürfen bis 04. März 2025 gemäß der sogenannten Massenzustromrichtlinie bleiben. Sie erhalten Leistungen nach § 24 Aufenthaltsgesetz („Bürgergeld“). Wer später einreiste soll schlechter gestellt werden und nur noch Unterstützung nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten.

Eine Ausweisung aufgrund von Militärstraftaten ist entsprechend dem Europäischen Auslieferungsabkommens nicht möglich. Bundesjustizminister Marco Buschmann: „Dass wir nun Menschen gegen ihren Willen zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen, das wird nicht der Fall sein.“10

Fußnoten

1 Süddeutsche Zeitung, 13.4.24

2 „Das Recht einer Person auf Alternativdienst /ist/ absolut und darf nicht aufgrund des Fehlens eines Verfahrens zum Ersatz des Militärdienstes während des Kriegsrechts eingeschränkt werden.“ 3.3.2023. https://t.me/sheliazhenko/137

3 Die Welt, 29.1.24

4 So z.B. im Fall des Kriegsdienstverweigerers Ruslan Kotsaba. EBCO-Jahresbericht 2022/23 – 15.05.23. https://de.connection-ev.org/article-3800 und auch im Fall des Kriegsdienstverweigerers Dmytro Zelinsky.

5 Ukrainische Pazifistische Bewegung: Verletzungen des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine: Vom 24. Februar 2022 bis November 2023. Fälle von Vitaliy Alekseienko und Andrii Vyshnevetsky.

6 „Im Oktober 2023 wurde ein Mann gegen seinen Willen zu einem Rekrutierungszentrum in Ternopil gebracht und dort geschlagen. Im November 2023 haben Rekrutierer in Lviv gewaltsam Männer auf der Straße entführt.“ (siehe fn 5)

7 tagesschau, 11.4.24

8 Süddeutsche Zeitung, 23.12.23

9 Freitag, 15.2.24

10 gegenüber dpa, so Telepolis, 22.3.24

Connection e.V.: Ukraine: Antworten auf Fragen zu Kriegsdienstverweigerung, Rekrutierung und Aufenthalt in Deutschland. 30.4.2024. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Mai 2024

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