Ibrahim Cemil Özdemir

Ibrahim Cemil Özdemir

Türkei: „Es gab nur einen Weg: Kein Soldat werden“

Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung

von Ibrahim Cemil Özdemir

(27.08.2019) In der Türkei und auch in die meisten Länder der Welt dauern gesellschaftliche Gewaltkonflikte an. In den meisten Ländern, in denen dauerhaft Konflikte stattfinden, sind auch Waffen im Einsatz. Aus ethischen und Gewissensgründen bin ich gegen den Krieg, weil in diesen Kriegen Menschen getötet werden. Ich bin grundsätzlich gegen Gewalt, weil Gewalt immer Gegengewalt erzeugt. Damit wir aus dieser Gewaltspirale herauskommen, sollten wir die Konflikte gewaltlos lösen. Aus diesem Grund ist die Verteidigung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung einer der wichtigsten Schritte für eine kriegs- und gewaltfreie Zukunft der Menschheit.

Mein soziales Umfeld und ich haben seit unserer Kindheit ein problematisches Verhältnis zur türkischen Staatspolitik und seiner Armee, bezüglich seines politischen Umgangs mit der kurdisch-alevitischen Bevölkerung. Als kurdisch-alevitischer Bürger wird man in der türkischen Gesellschaft sowohl sozial als auch in staatlichen Institutionen diskriminiert und benachteiligt. Als ich als kleines Kind eingeschult wurde, habe ich selber als Grundschüler in der Schule mit erlebt, wie wir als Kinder nationalistisch und militärisch indoktriniert wurden. Jeden Tag, morgens, mussten wir nationalistische militärische Hymnen singen. Diese Hymnen beinhalteten, dass man als Türke auf seine Nation stolz sein soll und dass man als Türke viel mehr wert ist als die übrige Menschheit. Die türkische Fahne wurde als etwas Heiliges dargestellt. Wir mussten, wie in der Armee, in Gleichschritten uniformiert marschieren. Als Kind kränkte dies mich tief, weil ich von zu Hause aus wusste, dass ich einer kurdisch-alevitischen Volksgruppe zugehöre. Ab dem neunten Lebensjahr begann diese militärische Konzeption in der Schule für mich verrückt zu klingen.

Als ich 5 Jahre alt war, wurde unser Haus von der Polizei durchsucht, wir wurden alle auf den Boden gelegt und uns wurde eine Waffe an den Kopf gesetzt. Und sie haben meinen Vater mitgenommen. Nach diesem Überfall änderte sich plötzlich das Verhalten unserer Nachbarn uns gegenüber. Niemand wollte mit uns reden und die Kinder wollten mit uns nicht spielen. Wir waren völlig einsam und isoliert. Kurz gesagt, ich, meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester wurden auf uns allein gestellt. Als kleines Kind habe ich in meiner Familie mitbekommen, wie die Familienmitglieder immer wieder von der türkischen Polizei abgeholt und verhört wurden. Monate lang und manchmal Jahre lang konnte ich meinen Vater nicht zu Hause treffen. Irgendwann ist aus dem Mund meines Bruders rausgerutscht, dass mein Vater wegen politischer Tätigkeit im Gefängnis ist. Mein Vater war politisch aktiv, durch die politische Tätigkeit meines Vaters lebten und spürten wir die Unterdrückung und Gewalt des Staates durch die Polizei als ganze Familie. Während mein Onkel beim Militär war, wurde er von seinem Kommandeur getötet und in Istanbul ins Meer geworfen. Dies hat uns natürlich von allen staatlichen Institutionen ferngehalten. Vor allem von der Armee und der Polizei. Wegen dieser persönlichen Erfahrungen habe ich mit ca. 9 Jahren beschlossen, dass ich nicht für so einen Staat dienen kann, indem ich noch zusätzlich im Militärdienst für mörderische Zwecke eingesetzt werde.

Als ich etwas älter wurde und ungefähr 14 Jahre alt war, bin ich politisch geworden und habe alles klarer gesehen. Ich habe dann meine Entscheidung getroffen. Ich entschied mich, dass ich keine Menschen töten würde. Als ich etwas politischer wurde, sah ich alle Verbrechen der türkischen Armee mit allen Vertuschungen. Vor allem in Kurdistan gibt es seit 40 Jahren einen Bürgerkrieg geringer Intensität. Der Krieg hat viele Verbrechen und Massaker mit sich gebracht. Hinrichtungen, tausende von in Gewahrsam genommenen Menschen, Folter und Tausende von Dörfern wurden niedergebrannt und geplündert, und Millionen von Menschen wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen.

Es gab nur einen Weg, an all diesen Verbrechen nicht beteiligt zu sein: Kein Soldat zu werden um nicht in dieses Verbrechen verwickelt zu werden, indem ich auf die Stimme meines Gewissens hörte. Aus ethischen und persönlichen Gründen, die auch in der alevitischen Philosophie und Lebenseinstellung verankert sind, kann ich nicht Menschen töten und der Natur Schaden zufügen. Ich habe mich dafür entschieden, mich nicht von dieser militärischen Staatsgewalt missbrauchen zu lassen, weil sie eine zerstörerische Gefahr für die Gesellschaft und die Natur darstellt.

Als ich etwas älter wurde und nach der Meinung der türkischen Regierung zum Militärdienst musste, wurde ich aufgrund meiner Kriegsdienstverweigerung häufig inhaftiert und unterdrückt. Ich wurde in der Haft Gewalt und Folter ausgesetzt. So sehr, dass mein Alltag unerträglich wurde, weil ich ständig von der Polizei überwacht und verfolgt wurde.

In der Türkei studierte ich Philosophie, Film- und Musik­wissenschaften. Im Dezember 2012 war ich nicht mehr Student. Die türkische Polizei hat mich aus politischen Gründen festgenommen und gesagt, ich muss den Militärdienst sofort antreten. Der Polizei habe ich schon damals gesagt, dass ich ein Totalkriegsdienstverweigerer bin. Am selben Tag haben sie mich freigelassen. In dieser Zeit habe ich zusammen mit Freunden eine schriftliche Erklärung geschrieben und begründet, warum ich den Kriegsdienst aus ethischen und Gewissensgründen verweigere. Damals gab es noch keine Organisation von Kriegsdienstverweigerern in Istanbul.

Ich war 2013 bei den Überlegungen für die Gründung des Vereins der Kriegsdienstverweigerer beteiligt (Vicdani Ret Derneği), zusammen mit Ercan Jan Aktas und anderen Kriegsdienstverweigerern. Bei der Gründung des Vereins war ich dann im Sommer 2013 schon in Deutschland. Mein Bruder ist ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, und er war all diesen Belastungen ausgesetzt. Er verlor seine Gesundheit und wurde psychisch krank. Ich habe Zuflucht in Deutschland gesucht, um am Leben zu bleiben und nicht meine Gesundheit zu verlieren. Ein Studium in Deutschland war für mich eine Möglichkeit, in einer zunehmend schwierigen Situation erstmal das Land zu verlassen und einen Neuanfang zu versuchen.

Doch 2014 wollte ich zurück in die Türkei und habe das auch versucht. Dann bin ich in Istanbul inhaftiert worden, wegen meines politischen Engagements und wegen der Kriegsdienstverweigerung. Die Polizei hat gesagt, ich muss den Militärdienst antreten, ich habe wiederholt, warum ich ein Totalverweigerer bin. Ich war drei Tage inhaftiert, sie wollten mich zwingen, den Dienst anzutreten. Als ich freigelassen wurde, bin ich deswegen sofort zurück nach Deutschland.

2015 wollte ich nochmal versuchen, ob ich zurück in die Türkei gehen kann. Ich dachte, mit dem Einfluss einer großen HDP würde es weniger Repression auch gegen meine Person geben und Chancen für einen politischen Neuanfang, den ich mitgestalten wollte. Ich wollte 2015 mit der HDP für eine friedliche und demokratische Türkei arbeiten. Außerdem wollte ich einen Film über die Samstagsmütter in der Türkei machen. Die Samstagsmütter demonstrieren samstags, weil ihre Kinder von der türkischen Polizei und dem türkischen Militär „verschwunden“ gelassen wurden. Sie wurden ermordet und ihre Leichen versteckt. Ich konnte nur wenig filmen, dann wurde ich wieder aus politischen Gründen sowie wegen der Verweigerung des Militärdienstes festgenommen. Ich wurde diesmal eine Woche festgehalten, um mich zum Antritt des Militärdienstes zu zwingen. Zudem wurde ich an drei Tagen geschlagen und meine Bart- und Kopfhaare ausgerissen. Danach wusste ich, dass ich wegen der Verfolgung und Repression nicht in die Türkei zurückkommen kann. Meinen Film „My Mother is Saturday“ werden wir am 15.09.2019 in Köln zeigen, es ist ein nicht fertiger Film.

Insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 und der gesteigerten Repression und Überwachung habe ich zudem davon ausgehen müssen, schon am Flughafen als Kriegsdienstverweigerer festgenommen zu werden, meinen Pass zu verlieren und Verfolgung und Misshandlung ausgesetzt zu sein. Aus Sicherheitsgründen hatte ich in Istanbul nie einen Pass bei mir, damit die Polizei ihn bei einer Festnahme nicht wegnehmen konnte. Bei der Ausreise am Flughafen hatte ich nie Probleme, ich vermute, weil sie vor dem Putschversuch die Daten über Kriegsdienstverweigerer am Flughafen nicht hatten.

Die Regierung Erdoğan hat das gesellschaftliche Klima in der Türkei vergiftet. Seit 2015 ist für mich klar, dass meine Zukunft in Deutschland ist, hier kann ich für die Menschenrechte und Frieden eintreten ohne mein Leben zu gefährden. Ich versuche, durch mein soziales Engagement meine Erfahrung von Hilfsbereitschaft, von Zusammenhalt in der Gemeinschaft, in Deutschland einzubringen. Das ist eine gute Seite der Türkei, aber Erdoğan und der Nationalismus in der Türkei zerstören sie. Die Situation in der Türkei und die Verbrechen des türkischen Staates waren dabei für mich auch in Deutschland immer präsent. Deswegen bin ich in Deutschland politisch aktiv, unter anderem beim Menschenrechtsverein Türkei-Deutschland (Tüday), viele Menschen in meinem sozialen Umfeld sind aktiv in der Menschenrechtsarbeit.

Auch mein Interesse an Philosophie hat mit diesen Fragen zu tun. Ich studiere seit 2016 in Bonn, gleichzeitig ist aber mein Studentenvisum abgelaufen. Wegen der schwierigen Situation hatte ich mit den Sprachprüfungen in Deutschland länger gebraucht. 2017 ist dann mein Studentenvisum trotz meines juristischen Widerspruchs und eines begonnenen Philosophiestudiums endgültig nicht verlängert worden. Dann habe ich mich entschieden, einen Antrag auf humanitären Schutz zu stellen, weil ich keinen einzigen Tag Militärdienst in der Türkei ableisten kann und will und mein soziales Umfeld, meine Freunde und mein Lebensmittelpunkt in Deutschland ist. Für mich wäre jeder Tag in der Armee grausam, ich würde eher ins Gefängnis gehen, als zur Armee. Die türkische Armee ist eine verbrecherische Armee, sie hat viele Kriegsverbrechen begangen und tut dies immer noch. Daher kommt für mich ein Bezahlter Militärdienst und die Ableistung von einem so auf einen Monat reduzierten Militärdienst nicht in Frage.

Ich möchte auf keinen Fall in einen Krieg verwickelt werden. Ich möchte mit allen Menschen und Völkern auf der Erde in Frieden leben, und ich bin davon überzeugt, dass wir als Menschen auf jeden Fall einen Weg finden werden, wie wir zusammen leben können.

Ibrahim Cemil Özdemir: Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung. 27. August 2019. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2019.

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