Belarus: „NEIN heißt NEIN“ - Herausforderungen, Ergebnisse und Hoffnungen auf Frieden

(04.05.2023) Am 24. Februar 2022 wachten die Menschenrechtsverteidiger der belarussischen Friedensorganisation „Unser Haus“ (Nash Dom) wie viele andere Belarussen gegen 5 Uhr morgens durch ständige Anrufe und SMS auf: „Der Krieg hat begonnen, Russland hat die Ukraine angegriffen!“. Später wird ein junger Deserteur, der aus der belarussischen Armee nach Litauen geflohen ist, berichten, was er am 24. Februar in der Armee erlebt hat: „Wir alle, vom Soldaten bis zum Kommandeur, waren uns sicher, dass Lukaschenko einen Angriff befehlen würde, aber niemand wollte da mitmachen, niemand wollte in den Krieg ziehen.“

Wir trafen uns in unserem Büro, um Ideen zu entwickeln, was wir in dieser Situation tun und welchen Einfluss wir nehmen könnten. Natürlich hatten wir vor, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen, aber dabei ging es um die Folgen des Krieges und wir wollten einen strategischen Einfluss auf den Verlauf des Krieges und die Sicherheitslage in der Region nehmen. Also setzten sich die Frauen von „Unser Haus“ ein sehr ehrgeiziges Ziel: Sie beschlossen, Lukaschenko die Armee zu entreißen und die Beteiligung der belarussischen Armee am Krieg gegen die Ukraine zu verhindern und zu blockieren.

Uns war klar, dass wir nicht nur auf den Widerstand des belarussischen Verteidigungsministeriums stoßen würden, sondern auch auf die Geschlechterstereotypen der belarussischen Gesellschaft, auf jene toxische Männlichkeit, die als Vorbild für einen „echten Mann“ gilt. Desertieren und die Weigerung, in den Krieg zu ziehen, wird in unserer Gesellschaft eindeutig als Schwäche und nicht als Stärke eines Mannes interpretiert. Wir erwarteten, dass die belarussischen Kriegsdienstverweigerer beschuldigt und verurteilt werden würden. Obwohl die Armee die schrecklichsten Traditionen der patriarchalen Erziehung und Initiation von Jungen bewahrt hat – Gewalt, Schikanen, missbräuchliche Beziehungen, außergerichtliche Hinrichtungen, Anstiftung zum Suizid, Folter und eine gefängnisähnliche Atmosphäre – wird sie von der belarussischen Gesellschaft immer noch als ein Ort wahrgenommen, an den „jeder Junge gehen muss, um ein Mann zu werden“.

Wir haben beschlossen, unsere Kampagne „NEIN heißt NEIN“ zu nennen. Sie wurden von belarussischen Feministinnen – vertreten durch uns – ins Leben gerufen, die aktiv gegen Patriarchat und toxische Männlichkeit kämpfen. Und auch, weil das Thema systemische geschlechtsspezifische Gewalt betrifft. Wir glauben, dass auch Männer das Recht haben, „Nein!“ zu sagen zu Gewalt, Patriarchat und dem Befehl, zu den Waffen zu greifen. Wir alle haben das Recht, „Nein!“ zu sagen zum Krieg und zur Aufforderung, Menschen zu töten.

Olga Karatch wandte sich an belarussische Männer mit dem Appell, nicht in die Armee einzutreten und nicht zu den Waffen zu greifen. Dieser Appell wurde von über Hunderttausenden verfolgt. Insgesamt wurden die Informationsmaterialien der Kampagne von etwa 4 Millionen Nutzern der sozialen Medien aufgerufen. Spontan wurden Telegram-Kanäle eingerichtet, um belarussischen Kriegsdienstverweigerern zu helfen.

Die Kampagne „NEIN heißt NEIN“ rief vom ersten Tag an eine starke Verärgerung beim belarussischen Regime hervor – auch weil sich durch die Informationsinitiative nur 6.000 der über 43.000 im Februar 2022 einberufenen Wehrpflichtigen zurückmeldeten. Es folgte eine vorgezogene Herbsteinberufung 2022 sowie eine Erfassung und Zählung der rekrutierbaren Bevölkerung, sodass nicht nur Wehrpflichtige mit sogenannten „persönlichen“ Einberufungsbescheiden in den Einberufungs- und Rekrutierungsbüros erscheinen mussten, sondern die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 18 bis 65. Am 4. Februar 2023 trat ein gemeinsamer Beschluss des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für öffentliche Gesundheit in Kraft, der die Anforderungen zur Tauglichkeit wehrpflichtiger Bürger reduzierte.

Das belarussische Regime begann schließlich, die Initiative „Unser Haus“ anzugreifen und unsere internationalen Partner über Einflusskanäle und Nachrichtensender im Ausland zu schwächen. Gleichzeitig begann eine massive staatliche Kampagne, um Olga Karatch persönlich, „Unser Haus“ und sämtliche Social-Media-Konten als „extremistisch“ einzustufen und die Organisation zu diskreditieren. Am wenigsten hatten wir erwartet, dass der belarussische KGB ab März 2022 auf dem Gebiet Litauens gegen „Unser Haus“ Spionage betrieb. Ab dem 2. Oktober 2022 begann das belarussische Regime öffentlich Morddrohungen gegen uns auszusprechen und Olga Karatch über soziale Medien persönlich zu bedrohen. Am 20. April 2023 wurde mithilfe belarussischer und russischer Spezialdienste ein gefälschter Brief mit Drohungen, der angeblich von Olga Karatch stammte, an die Abgeordneten des litauischen Parlaments gesendet. Es handelte sich um einen Versuch, die Abgeordneten des litauischen Seimas gegen „Unser Haus“ aufzubringen, begleitet von einer Desinformationskampagne. Zu unserem Glück bildete sich eine internationale Koalition zur Unterstützung belarussischer Kriegsdienstverweigerer und belarussischer Deserteure, die von Connection e.V. und BSV ausging und der sich später WRI, EBCO und andere gewaltfreie Organisationen anschlossen. Dank der internationalen Solidarität sind die Angriffe der belarussischen Nachrichtendienste gegen uns gescheitert.

Am 20. Februar 2023 fanden in verschiedenen Städten der Europäischen Union Solidaritätsaktionen zur Unterstützung der belarussischen Kriegsdienstverweigerer statt. Diese Aktionen brachten neuen Schwung in die belarussische Protestbewegung, die zu diesem Zeitpunkt müde und emotional ausgebrannt war. Die Solidaritätsaktionen haben gezeigt, dass es nicht nur um die Ukraine geht, sondern auch um das Recht der Belarussen, nicht in die Armee einzutreten, nicht zu den Waffen zu greifen und in den Krieg zu ziehen. Nach den Aktionen vom 20. Februar 2023 haben selbst die überzeugtesten Militaristen innerhalb der belarussischen Protestbewegung aufgehört, den Begriff „Pazifismus“ als Schimpfwort zu benutzen.

In Belarus geht der erbitterte Kampf junger Männer um ihr Recht, nicht zu den Waffen zu greifen, weiter. Allein im Jahr 2022 wurden etwa 400 Strafverfahren eingeleitet wegen des Versuchs, sich der Wehrpflicht zu entziehen. Alexander Lukaschenko merkt, dass die öffentliche Meinung ganz auf unserer Seite ist und versucht, die Militärs unter Androhung der Todesstrafe an die Kandare zu nehmen. Am 21. Februar 2023 verabschiedete das von Lukaschenko kontrollierte Parlament neue Änderungen des Strafgesetzbuchs und führte die Todesstrafe für „Hochverrat“ für Militärangehörige ein – „Hochverrat“ bedeutet für ihn, die Armee zu verlassen und zu fliehen. Außerdem wurde die Unterstützung von Deserteuren unter Strafe gestellt und kann mit 5 Jahren Haft bestraft werden.

Es ist deutlich zu spüren, dass Lukaschenko Angst hat, die Kontrolle über die uniformierten Behörden zu verlieren, Angst davor, dass wir, die belarussischen Frauen, überzeugendere Argumente finden als er. Wir, die einfachen Menschenrechtsverteidigerinnen im Exil, fühlen uns geschmeichelt, dass wir für das Regime von Lukaschenko „die höchste Stufe äußerer Bedrohung“ sind. Manchmal scheint es, dass er viel mehr an uns und unsere Macht glaubt als wir selbst.

Zur Situation in Belarus berichtet Olga Karatch regelmäßig auf der Website der Initiative „Our House“. Ihr Redebeitrag auf der Aktion zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung am 15. Mai 2023 in Berlin kann hier  angeschaut werden: https://www.youtube.com/watch?v=xjZO2JJsaH8.

Olga Karatch (Nash Dom): NO Means NO for Belarus: Challenges, results and hopes for peace. 04.05.2023. Auszüge. Die ungekürzte Fassung erscheint im Friedensforum 4/2023. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2023

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