Zerstörte Häuser in der Ukraine. Foto: Alexia Tsouni

Zerstörte Häuser in der Ukraine. Foto: Alexia Tsouni

Ukraine: „Es ist jetzt sehr schwierig, über Frieden zu sprechen“

Interview mit einem ukrainischen Kriegsdienstverweigerer

von Clemens Ronnefeldt, Internationaler Versöhnungsbund

(Mai 2023) Im Mai 2023 entstand das folgende Interview mit einem ukrainischen Kriegsdienstverweigerer, der in Deutschland lebt – und wegen seiner Entscheidung darum bat, anonym zu bleiben. Die Fragen wurden von ihm schriftlich beantwortet und vom Internationalen Versöhnungsbund zur Veröffentlichung in unserem Rundbrief – ohne Namensnennung und Bild – freigegeben.

Du bist in Kiew aufgewachsen und zur Schule gegangen – und hast dann in Moskau studiert. Wie kam es dazu?

Ich wurde in Kiew geboren und bin dort zur Schule gegangen. In den letzten zwei Jahren in Kiew hatte ich ein Problem mit der Einstellung der Schule mir gegenüber, wie dem Zwang Ukrainisch zu sprechen (obwohl ich es sehr gut konnte), und es gefiel mir wirklich nicht, dass in Kiew nichts weiterging. Durch die Entwicklung im Land wurden zunehmend Fragen des Nationalismus, der Sprache und des Patriotismus aufgeworfen. Ich wollte in eine entwickelte, schöne Stadt ziehen, in der ich gerne leben würde und in der mir niemand sagen würde, was ich tun soll, welche Sprache ich sprechen soll und so weiter. Ich wollte nicht in der Armee dienen und dachte, dass ich daher in einem anderen Land in Sicherheit bin. So ging ich während des letzten Schuljahres zum Lernen nach Moskau. Dort begann ich dann auch mein Studium an der Universität. Zuerst lebte ich mit Freunden zusammen, dann mit meinem Freund aus Kindertagen, der ebenfalls nach Russland zog, und wir mieteten eine Wohnung an.

Wie hast du vom Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine erfahren – und was hast du als Ukrainer dann in Moskau gemacht?

Um 6:00 Uhr morgens rief mich meine Mutter an und sagte, dass sie bombardiert würde, und sie wisse nicht, wie lange die Internet- und Telefonkommunikation noch stabil sein würde. Ich ging wie jeden anderen Tag zur Arbeit und beobachtete im öffentlichen Verkehr, wie viele Menschen ihre Verwandten anriefen und sich Sorgen darüber machten, was mit ihnen passiert. Ich fuhr mit der Moskauer U-Bahn und sah, wie Leute ihre Verwandten aus der Ukraine anriefen und versuchten, herauszufinden, wie es ihnen ging. Das war sehr auffällig. Während des Krieges lebte ich in Moskau auf die gleiche Weise, wie ich es davor tat, als ich studierte und zur Arbeit ging. Ich war in Sicherheit, da ich kein russischer Staatsbürger bin und nicht zur Armee eingezogen werden kann. Freunde und Bekannte aus der Ukraine versuchten mir zu sagen, ich solle zu einer Kundgebung im Zentrum von Moskau gehen, die gegen den Krieg in der Ukraine stattfand. Nun, ich bin nicht dorthin gegangen, und das war richtig, denn viele Leute die dort waren, wurden von der Polizei abgeführt. Viele Freunde von mir waren enttäuscht, aber ich glaube, dass niemand zusätzliche Opfer bringen muss.

Aus welchen Gründen möchtest du nicht in der ukrainischen Armee kämpfen?

Erstens bin ich überzeugter Pazifist und werde mich nicht wissentlich an (gewaltsamen) Konflikten beteiligen. Und selbst wenn ich kein Pazifist wäre, würde ich nicht für die Ukraine kämpfen. In den letzten Jahren hat die Regierung die Ukraine in einen so schlechten Zustand gebracht, dass ich nicht weiß, was schlimmer sein könnte. Für mich ist das Wichtigste, dass Menschen nicht sterben. Ich bin davon überzeugt, selbst wenn die Ukraine den Krieg gewinnt, wird es immer noch schlecht sein, dort zu leben. Denn es wird viele unglückliche Menschen geben, viele Waisen, viele alleinstehende Frauen und viele nicht explodierte Granaten. Gleichzeitig ist der Nationalismus in der Ukraine um ein Vielfaches gewachsen.

Wie geht es Dir, wenn du mit anderen Menschen aus der Ukraine in Deutschland über deine pazifistische Haltung sprichst?

Es ist jetzt sehr schwierig, mit Ukrainern über Frieden zu sprechen. Jeder von ihnen hat sein eigenes Schicksal und ich möchte bei ihnen keine Bosheit auslösen. Daher dränge ich niemandem meine Perspektive auf. Aber wenn mich jemand fragt, werde ich ihm meinen Standpunkt erklären.

Was wünschst du Dir von Deutschland und den Deutschen?

Ich glaube, dass ich in meiner aktuellen Situation am glücklichsten bin; deshalb interessiert mich mehr die Frage, was ich für Deutschland tun kann. Ich bewundere die Friedfertigkeit, Hilfe und Geduld der Deutschen. Meine Familie lebt jetzt viel besser als alle 20 Jahre friedlichen Lebens in der Ukraine. Ich bin den Menschen in Deutschland unendlich dankbar.

Clemens Ronnefeldt, Internationaler Versöhnungsbund: Interview mit einem ukrainischen Kriegsdienstverweigerer. Veröffentlicht im Juni 2023 im Rundbrief des Internationalen Versöhnungsbundes. Ausgabe 2, 2023. Der Originaltext wurde von der Redaktion bearbeitet. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2023

 

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