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Ein Appell an die Europäische Kommission und das Europäische Parlament

Notwendige Maßnahmen für den internationalen Schutz russischer Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen

(17.07.2023) Mit dem Erlass des Dekrets Nr. 647 des russischen Präsidenten vom 21.09.2022 "Über die Erklärung der Teilmobilisierung in der Russischen Föderation" wurde Soldat*innen faktisch die Möglichkeit genommen, den Militärdienst legal zu verlassen, während sie mobilisiert sind oder unter Vertrag stehen. Sie sind daher gezwungen, an der Front zu bleiben und zu kämpfen, bis sie entweder getötet oder schwer verletzt werden, bis sie die Altersgrenze für die Verpflichtung zum Militärdienst erreichen oder eine Straftat begehen, für die sie mit einer Gefängnisstrafe belangt werden können.

Das föderale Gesetz Nr. 365-FZ vom 24.09.2022 "Über die Änderung des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation und des Artikels 151 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation" führte wiederum eine strafrechtliche Verantwortung ein, wenn sich Soldaten freiwillig ergeben und verschärfte die Strafen bei eigenmächtigem Verlassen der Einheit sowie Nichtbefolgung von Befehlen. Auf gesetzlicher Ebene gibt es dementsprechend ernstzunehmende Hindernisse für eine Verweigerung der Teilnahme an den Kämpfen und der Ausübung des verfassungsmäßigen Rechts auf Kriegsdienstverweigerung.

Der Oberste Gerichtshof der Russischen Föderation hat eine strengere Strafverfolgungspraxis bei Personen eingeführt, die sich an der Front ergeben. Mit dem Beschluss des Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation Nr. 11 vom 18.05.2023 wird eine Schuldvermutung für Personen eingeführt, die gefangen genommen wurden.

Besorgniserregend sind auch die jüngsten Änderungen der föderalen Gesetze "Über die Wehrpflicht und den Militärdienst" und "Über das Verfahren zur Ausreise aus der Russischen Föderation und zur Einreise in die Russische Föderation", mit denen Bürger, die zum Militärdienst einberufen wurden, einer außergerichtlichen, vorübergehenden Ausreisebeschränkung unterliegen und ihre Auslandspässe beschlagnahmt werden. Bei Nichtbefolgung zur Vorladung zur Registrierung beim Militärkommissariat unterliegen sie weiteren Beschränkungen: Darunter u.a. das Verbot, ein Fahrzeug zu führen, Eigentum anzumelden und finanzielle Transaktionen durchzuführen.

Das Regime von Wladimir Putin hat Mechanismen geschaffen, um russische Bürger*innen zu verfolgen, die sich weigern, an dem groß angelegten Angriff auf die Ukraine und den Kampfhandlungen auf ihrem Territorium teilzunehmen, die versuchen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auszuüben, die desertieren oder sich ergeben. Dies bedeutet, dass das Regime die rechtliche Möglichkeit hat, jederzeit eine große Zahl russischer Bürger*innen in einen verbrecherischen Krieg zu schicken.

Eine der zuverlässigsten Möglichkeiten sich davor zu schützen, in den Krieg geschickt zu werden, besteht darin, Russland zu verlassen und in sichere Länder zu reisen. Die Auswanderung ist jedoch ein äußerst komplizierter Prozess: Die Landesgrenzen zu den EU-Ländern sind faktisch geschlossen und das vereinfachte Visumverfahren wurde abgeschafft. Es gibt keine allgemeinen Richtlinien für den Schutz von Kriegsdienstverweigerer*innen, Deserteur*innen, Kriegsgefangenen oder Personen, die sich freiwillig ergeben haben.

In Anbetracht dessen fordern wir, die unterzeichnenden Antikriegsorganisationen und -initiativen, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament im Rahmen ihrer jeweiligen Mandate und in Zusammenarbeit mit russischen und internationalen Menschenrechts- und humanitären Organisationen dazu auf:

1. den Krieg Russlands gegen die Ukraine als Verbrechen gegen den Frieden anzuerkennen, um den humanitären Status russischer Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen zu verdeutlichen, die sich im Rahmen ihres Rechts auf Gewissensfreiheit weigern, an dem verbrecherischen Krieg teilzunehmen.

2. Die Entwicklung und Verabschiedung eines einheitlichen Konzepts für die Gewährung von internationalem Schutz für russische Staatsbürger*innen, die von strafrechtlicher Verfolgung bedroht sind oder verfolgt werden, weil sie ihr Recht auf Kriegsdienstverweigerung wahrgenommen haben.

3. Die Entwicklung und Verabschiedung eines einheitlichen Konzepts für die Gewährung von internationalem Schutz für russische Staatsbürger*innen, die mobilisiert wurden, militärdienstpflichtig waren oder auf Vertragsbasis im Militärdienst standen und zur Ableistung des Militärdienstes in militärischen Einheiten oder in einer Kampfzone auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine entsandt wurden und die:

– erklärt haben, dass sie sich weigern, an Kampfhandlungen teilzunehmen oder Befehle im Zusammenhang mit Kampfhandlungen gegen die Ukraine auszuführen, den Dienstort verlassen haben (desertiert sind) und denen strafrechtliche Verfolgung droht oder die strafrechtlich verfolgt werden;

– sich freiwillig dem ukrainischen Militär (Armed Forces of Ukraine, AFU) ergeben haben oder bereits als Kriegsgefangene festgehalten werden und erklärt haben, dass sie mit der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine nicht einverstanden sind, die sich weigern, nach Russland zurückzukehren, weil sie von den russischen Behörden strafrechtlich verfolgt werden könnten und bereit sind, mit den staatlichen Behörden der europäischen Länder und den internationalen Justizbehörden zusammenzuarbeiten und über Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte auszusagen.

4. Die Ausarbeitung gemeinsamer Leitlinien für die Festlegung geeigneter Visumverfahren oder Reisedokumente für die oben genannten Kategorien russischer Staatsbürger*innen zum Zwecke ihrer Durchreise in EU-Länder, die bereit sind, ihnen internationalen Schutz zu gewähren, einschließlich:

– Erwägung der Annahme gemeinsamer Leitlinien für eine umfassendere Anwendung von Visa aus humanitären Gründen und Ausweitung der Kriterien für die Erteilung dieser Visa auf die oben genannten Kategorien russischer Bürger*innen;

– Erwägung der Annahme gemeinsamer Leitlinien für die Annahme von Asylanträgen der oben genannten Kategorien russischer Staatsbürger*innen in Botschaften und Konsulaten von EU-Ländern in Drittländern;

– Erwägung der Annahme gemeinsamer Leitlinien für die Ausstellung von Visa für Arbeitsuchende in den Botschaften und Konsulaten von EU-Staaten in Drittländern für die legale Migration von qualifiziertem Personal aus den oben genannten Kategorien russischer Bürger*innen.

5. Die Entwicklung von Mechanismen zur Unterstützung, einschließlich Beratung und finanzieller Unterstützung, von Fachorganisationen und Initiativen, die sich auf die Auswanderung aus Russland, die Schaffung eines Netzes von Unterkünften, Rechtsbeistand und andere Maßnahmen zur Unterstützung der oben genannten Kategorien russischer Bürger*innen in Russland und Drittländern spezialisiert haben.

6. Die Entwicklung von Mechanismen zur Bereitstellung finanzieller und humanitärer Unterstützung für Drittländer, die eine erhebliche Anzahl russischer Bürger*innen der oben genannten Kategorien aufnehmen, sowie für diejenigen, die sich vor der Einberufung und Mobilisierung verstecken, um die Fähigkeit dieser Länder zur Aufnahme und Integration dieser Personen zu verbessern.

Schätzung der Zahl der Personen, die internationalen Schutz benötigen werden

Nach Angaben des unabhängigen russischen Medienunternehmens Mediazona wurden seit der Ankündigung der Mobilisierung im Herbst 2022 bis einschließlich Mai 2023 rund 1.500 Strafverfahren gegen Soldat*innen bei den Militärgerichten der russischen Garnisonen eröffnet, darunter: 1.347 Fälle wegen Unerlaubtem Verlassen einer Militäreinheit, 81 Fälle von Befehlsverweigerung und 26 Fälle von Desertion.

Nach Schätzungen russischer Menschenrechtsaktivist*innen dürfte die Zahl an Deserteur*innen, die internationalen Schutz benötigen, 1.500 Personen pro Jahr nicht übersteigen. Die Zahl der Bürger*innen, die zum Militärdienst eingezogen werden und einen Antrag auf einen zivilen Ersatzdienst stellen, beträgt nicht mehr als 1.500 pro Jahr, wovon etwa 47% der Anträge abgelehnt werden. Weder die Zahl der Anträge noch der Prozentsatz der Ablehnungen bei den mobilisierten Personen ist bekannt.

Es sollte auch berücksichtigt werden, dass nicht alle Kriegsdienstverweigerer*innen und Deserteur*innen, die mit Verletzungen ihrer Rechte konfrontiert sind und/oder verfolgt werden, Russland verlassen wollen oder können, um internationalen Schutz zu suchen. Oft werden persönliche Umstände – finanzielle, familiäre und andere – dies verhindern. Darüber hinaus werden einige Flüchtende es vorziehen, in Drittländern zu bleiben und nicht in die EU zu gehen.

Unsere vorläufige Schätzung der Zahl der Bürger*innen, die nach unseren Vorschlägen Schutz benötigen würden (ohne Gefangene, über die wir keine Informationen haben), beläuft sich daher auf nicht mehr als 2.000 bis 3.000 Personen pro Jahr.

Wir, die russischen Antikriegs-, Menschenrechts- und humanitären Initiativen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Menschenrechtsaktivist*innen sind bereit, mit den EU-Behörden zusammenzuarbeiten, um einen universellen und wirksamen Ansatz für die oben genannten Fragen zu entwickeln. Wir sind auch bereit, bei den Prozessen zur Überprüfung, der Konsultation und der Entwicklung und Verbreitung von Leitlinien für diejenigen zu helfen, die vor Mobilisierung und Einberufung fliehen.

In diesem Zusammenhang schlagen wir vor, dass das Europäische Parlament und die Europäische Kommission spezielle Arbeits- und Kontaktgruppen einrichten, in denen unter Beteiligung russischer Antikriegs-, Menschenrechts- und humanitärer Initiativen konkrete Schritte und Lösungen zur Umsetzung der in unserem Appell genannten Punkte erarbeitet werden können. Wir sind überzeugt, dass wir nur durch gemeinsame Anstrengungen in der Lage sein werden, so viele Menschenleben wie möglich auf beiden Seiten des Krieges zu retten.

Unterzeichnende Organisationen und Initiativen:

1. The Youth Democratic Movement Vesna (Russia)

2. The Anti-War Project Idite lesom (Russia)

3. The Autonomous Non-Profit Human Rights Organisation Shkola Prizyvnika (Russia)

4. The Initiative Demokrati-JA (Germany)

5. The Movement of Conscientious Objectors (Russia)

6. The “Political prisoners. Memorial” human rights project (Russia)

7. Austausch, for the European Civil Society (Germany)

8. The Sakharov Movement Mir, Progress, Prava Cheloveka (Russia)

9. The Project Tochka [Ne]vozvrata

10. inTransit, the Berlin Anti-War Initiative (Germany)

11. The Board of FreeRussiaNL (the Netherlands)

12. The Hub for Humanitarian Projects Reshim.org

13. Russland hinter Gittern e.V. (Germany)

14. Frame, the Civic Education Initiative, (Georgia)

15. The Association of Free Russians (Spain)

16. The Ark

17. The French Association Russie-Libertés (France)

18. Ksenia Maximova, the Founder of the Russian Democratic Society (The UK)

19. Russi contro la guerra (Italy)

20. WOT Foundation (Poland)

21. Free Russians e.V. (Germany)

22. The Online Magazine Shveitsariya dlya vsekh (Switzerland)

23. Inna Berezkina, School of Civic Education

24. The Russian Democratic Society (Serbia)

25. SmåRådina, for the Democratic Russia (Norway)

26. Russian Canadian Democratic Alliance (Canada)

27. The Democratic Community of Russian Speakers in Finland (Finland)

28. Media Partizany (Russia)

29. Krakow for Free Russia (Poland)

30. Russland der Zukunft — Schweiz

31. Russians Against War — Vienna

32. Free Russians Ireland

33. Mariia Solenova, Všį Action4life

34. International Centre for civil initiatives “Our House”, Belarus & Lithuania

35. The Finnish Union of Conscientious Objectors Aseistakieltäytyjäliitto (Finland)

36. Conscience and Peace Tax International

37. Antimilitaristes-MOC València (Spain)

38. Movimento Nonviolento (Italy)

39. Antimilitaristische Aktion Berlin (Germany)

40. European Bureau for Conscientious Objection (EBCO)

41. Connection e.V. (Germany)

42. Pax Christi Flanders (Belgium)

43. War Resisters’ International (WRI)

44. Internationale der Kriegsdienstgegner*innen (IDK e.V. Berlin/Germany)

45. Movimento Internazionale della Riconciliazione (M.I.R. Italia)

46. Pax christi — deutsche Sektion (Germany)

47. Conscientious Objection Watch (Turkey)

48. Deutsche Friedensgesellschaft — Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK,

Germany)

49. Bund für Soziale Verteidigung (BSV) (Germany)

50. Arbeitskreis Asyl Tribsees (Germany)

51. National Association Victims of NS-Military-Justice e.V. (Germany)

52. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Germany)

53. Church and Peace e.V. — Ecumenical peace church network in Europe (Germany)

54. German Mennonite Peace Committee (DMFK, Germany)

55. Vredesbeweging Pais (Peace movement Pais) (The Netherlands)

56. Stichting voor Actieve Geweldloosheid (The Netherlands)

57. Mennonite Peace Centre Berlin (Germany)

58. ACAT Germany (Action by Christians for the Abolition of Torture)

59. Federal Association of Vietnamese Refugees in the Federal Republic of Germany

60. IPPNW Germany - Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges -

Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V. (Germany)

61. ACAT Belgium

62. Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK)

(Germany)

63. Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) (Germany)

64. Museum voor Vrede en Geweldloosheid

65. Vereniging Kerk en Vrede (The Netherlands)

66. Kooperation für den Frieden (Germany)

67. Feminist Anti-war Resistance

68. Comunità dei Russi Liberi (Italy)

69. Anti-war committee in Sweden

70. Maria Beple, designer

71. Freies Russland NRW

72. Conflict Intelligence Team

73. Loimaa Against War, Loimaa, Finland

74. Journal Graswurzelrevolution, Germany

75. Société Religieuse des Amis (Quaker) Assemblée de France

76. Journal de l’émigration antiguerre russophone "Côte de la Paix"

77. Anti-War Hospital Project

78. Mouvement Internationale de la Réconciliation - MIR France

79. Federation for social Defence/Bund für soziale Verteidigung - BSV (Germany)

80. Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e.V.

81. Workshop for Nonviolent Action/Werkstatt für Gewaltfreie Aktion (Germany)

82. Heidelberger Friedensratschlag - Netzwerk Friedenskooperative (Germany)

83. Antiwar Movement of Russians in Korea "Voices In Korea"

84. Antiwar Kaluga

85. Association For Free Russia in Bulgaria

86. Territory of Peace and Kindness

87. Omsk Civil Union, Russia

88. Protestant Working Group for Conscientious Objection and Peace (Germany)

An appeal to the European Commission, the European Parliament and the Member States of the European Union about necessary measures for the international protection of Russian conscientious objectors, deserters and those who surrendered or were captured. 17. Juli 2023. In Englischer und russischer Fassung unter https://docs.google.com/document/d/1nL5D5V62kb8mtoBKbwN5O6g-ez8nP6Sp9UIlCPls5dE/edit

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